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Titel
DIORTHOSEIS. Beiträge zur Geschichte des Hellenismus und zum Nachleben Alexanders des Großen


Herausgeber
Kinsky, Rüdiger
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 183
Erschienen
München 2004: K.G. Saur
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 86,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Müller, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Justus-Liebig-Universität Gießen

Der von Rüdiger Kinsky, Lehrbeauftragter für Alte Geschichte an der Universität Bonn, herausgegebene Sammelband beleuchtet die "Diorthoseis, die der Althistoriker vornimmt" (S. 8), in Gestalt der Bemühung um die tradierten Fragmente der Antike mit dem Ziel, die historische Realität zu erhellen. In fünf Studien werden ausgewählte Aspekte der Geschichte und Rezeption Alexanders sowie des Hellenismus allgemein behandelt, basierend auf Vorträgen eines internationalen Kolloquiums, das zu Ehren des 75. Geburtstages von Professor Gerhard Wirth im Jahre 2001 in Bonn abgehalten wurde.

Mit zahlreichen Veröffentlichungen hat Gerhard Wirth sich um die Erforschung der griechischen und makedonischen Geschichte des 4. Jahrhunderts v.Chr. verdient gemacht und insbesondere mit seinen Arbeiten zu Alexander dem Großen - der Analyse seiner politischen Vorgeschichte und frühen Regierungsjahre, seiner Beziehung zum Heer und der Hintergründe der Kriegsereignisse hinter der Fassade der makedonischen Propaganda - Maßstäbe gesetzt, die zum Standard geworden sind, und der modernen Alexanderforschung durch die Überwindung der ideologisch verzerrten und übermäßig auf das Persönlichkeitsbild des Königs ausgerichteten älteren Forschung notwendige neue Perspektiven mit dem Blick auf das realpolitische Geschehen eröffnet.1

In seiner Studie "Ist Samos 'eine Messe wert'?" (S. 9-23) untersucht der renommierte Makedonienforscher Michael Zahrnt entsprechend der Anlehnung an den Kommentar des französischen Königs Heinrich IV. zu seiner Konvertierung 1593 die viel diskutierte Frage, in welcher Weise Alexanders Verbanntendekret von 324 v.Chr. und die fragmentarisch in den Quellen erwähnten göttlichen Ehren für den König in Relation zueinander standen.2 Zahrnt sieht das Verbanntendekret, das mit dem Verstoß gegen die Bestimmungen des Korinthischen Bundes auf die Ablehnung der griechischen poleis stoßen musste und mit dem implizierten Verlust von Samos einen "Schlag insbesondere gegen die Athener" (S. 18) bedeutet habe, als eine bewusste Aktion Alexanders mit dem Hauptziel, durch die Förderung der inneren Instabilität Griechenlands einen hellenischen Zusammenschluss gegen seine Herrschaft zu verhindern: "Die Griechen waren für Alexander uninteressant und unwichtig geworden, also sollten sie auch ungefährlich sein." (S. 19) In Gestalt jener Machtprobe des Dekrets ließe sich fassen, dass der König die Hoffnung auf ein Einvernehmen, insbesondere mit Athen, begraben habe. Folge des Verbanntendekrets seien die göttlichen Ehren für Alexander gewesen, ein ideologischer Schachzug der Griechen, um seinen verfassungsrechtlich nicht sanktionierten Eingriff in die innergriechischen Verhältnisse, aus der Polisperspektive das Werk eines Tyrannen, akzeptieren zu können. Da die einzigen außerstädtischen Kräfte, denen sie sich traditionell beugten, die Götter gewesen seien, "erhoben die Griechen also Alexander zum Gott, um den Respekt vor sich selbst zu behalten, wenn sie ihn in ihre Städte hineinregieren sahen, ohne daß sie sich dagegen wehren konnten" (S. 21). Die Anregung bekamen sie gemäß Zahrnts Ausführung von Alexander selbst, der mittels seiner propagandistischen Darstellung als Übermensch auf den Elefantendekadrachmen, seiner Götter- und Heroenaemulatio oder dem Einführungsversuch der Proskynese hinlänglich bewiesen habe, dass er "gern ein Gott werden wollte" (S. 20). In diesem Sinne sei Samos, Sinnbild der angemaßten innenpolitischen Eingriffe von Alexanders Seite, die "Messe" in Gestalt der kultischen Ehren für seine Person wert gewesen.

Zahrnt bietet eine interessante Neuinterpretation der Hintergründe des Verbanntendekrets als eine Form von "divide et impera", die Alexander auch innerhalb des Persischen Reiches anwandte3, und der Verknüpfung mit der Problematik der göttlichen Ehren. Aufgrund der spärlichen und anekdotenhaften Quellenlage, die den Eindruck einer durch die Tradition sehr gefilterten Überlieferung vermittelt, wird jedoch der Aspekt der Apotheose Spekulation bleiben müssen. Auch bezüglich der von Alexander demonstrierten Nähe zu göttlichen Sphären durch aemulatio und der heroisierenden Münzbilder muss offen bleiben, wie viel hier an Überzeugung einfloss und wie viel aus politischen Zwängen resultierende Propaganda war. Angesichts der realpolitischen Lage Alexanders nach dem Indienzug mag die allgemeine Überlegung gelten, dass die Propaganda umso plakativer ausfällt, je kritischer die Situation aussieht. Auch wird wohl umstritten bleiben, ob die Haltung der griechischen poleis gegenüber Alexander im Jahre 324 v.Chr. tatsächlich derart ideologisch oberflächlich nur vom Streben des frommen Selbstbetrugs geprägt gewesen war.

In seiner Untersuchung zur Reflektion der politischen Situation Athens und Griechenlands im Jahre 323/22 v.Chr. im Epitaphios des Hypereides (S. 24-50) charakterisiert Gerhard Wirth die Grabrede als "die große Abrechnung mit den Zeitgenossen, Athenern wie Griechen mit ihren Fehlern und Defekten" (S. 34), die zur Niederlage im Kampf gegen die Makedonen um die beschworene autonomia geführt haben.4 Überzeugend eingebunden in den komplexen historischen Kontext der Rede, die Zeit der Unruhen nach Alexanders Tod, deutet Wirth die Tendenz des Hypereides hinter den traditionellen Floskeln, das Heldentum der Gefallenen im leeren Raum ohne politische Zukunftsperspektiven stehen zu lassen, als eine Demonstration der "Sinnlosigkeit aller Anstrengungen, die den Epitaphios zu einem Abgesang macht" (S. 49). In diesem Abgesang komme auch die Kritik am demos zum Ausdruck, "das Bild von Tatenlosigkeit und Indolenz der Bürgerschaft" (S. 40f.), manifestiert durch die Schilderung einer Situation in Athen und Griechenland, die von Unterwanderung, Bestechlichkeit und kolakeia geprägt gewesen sei und somit zum Ende der Illusion, die autonomia im Freiheitskampf bewahren zu können, geführt habe. Vor dem Hintergrund seiner detaillierten und eindrucksvollen Analyse entwickelt Wirth die abschließende These, die schlaglichtartig die Lage Athens nach der verlorenen Schlacht bei Krannon und dem Ende des Lamischen Krieges erhellt, dass Hypereides mit den Konsequenzen dieser bitteren Bestandsaufnahme gerechnet haben musste. "Was bleibt, ist das Bild des Hades" (S. 49), trifft in diesem Sinne nicht nur auf die Quintessenz des Epitaphios, sondern programmatisch auch auf das Schicksal des Redners zu.

Vasile Lica, Spezialist für die Alexanderrezeption innerhalb der rumänischen Kultur, beschäftigt sich mit der Alexandergeschichte als integralem Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses in Rumänien und verfolgt die Tradition Alexanders als Heros-Archetypus und somit Referenzgröße in der Reichsideologie im Mittelalter als Vorgeschichte der im 16. Jahrhundert entstandenen rumänischen Variante des Alexanderromans, der Alexandreia, bis hin zur Stellung des Makedonenkönigs in der modernen Bildungspolitik Rumäniens (S. 51-72). Anhand dieses Einblickes in die rumänische Alexandertradition lassen sich analoge Mechanismen der gesamteuropäischen Entwicklung feststellen, die für die Alexandertradition signifikant sind, so etwa das Phänomen der Christianisierung und auf ritterlichen Tugenden basierenden Idealisierung des Königs, der zum Musterbild des kultivierten Edelmannes wurde und durch die Beliebtheit des Alexanderromans Züge eines Volkshelden annahm (S. 57f.).5 Die Instrumentalisierung Alexanders als Paradigma und historisches Exemplum, ein konstantes Phänomen seiner Rezeption, wird anhand der aufgezeigten Alexanderimitatio der frühneuzeitlichen rumänischen Fürsten deutlich, die ihren Kampf gegen die Türken in Anlehnung an den Makedonenkönig und seinen Persienkrieg ideologisch umkleideten. Licas "Skizze [...] der Multiversalität der Alexanderrezeption in Rumänien" (S. 72) wird damit zur allgemein gültigen Metapher für die Problematik der Mythisierung und ideologischen Verzerrung des Alexanderbildes im Laufe der Jahrhunderte, mit der sich der Historiker auseinanderzusetzen hat.6

Einen Einblick in normative Elemente der hellenistischen Geschichtsschreibung und ihrer kritischen Behandlung in der modernen Geschichtswissenschaft gewährt Guido Schepens exemplarisch anhand seiner Auseinandersetzung mit Massimo Pallottinos Parallelisierung des massaliotischen Sieges über die karthagische Flotte mit dem Sieg der Griechen gegen die Perser bei Marathon, dargelegt in "Storia della prima Italia" (S. 73-107).7 Im Rahmen seiner Beweisführung, dass diese Parallele "eine zusammengebastelte Konstruktion von Hypothesen und spekulativen Überlegungen ist" (S. 75), stellt Schepens textkritische Überlegungen zum Würzburger Sosylos-Papyrus als Pallotinos historischer Grundlage an und zeigt auf, dass der von Sosylos eingefügte Vergleich zwischen der Ebroschlacht und der Schlacht am Kap Artemision ein historiografisches Konstrukt in Gestalt des im 4. und 3. Jahrhundert v.Chr. üblichen Kunstgriffes des Synchronismus darstellt. Schepens' Fallstudie der "Funktion, die einem [...] Vergangenheitsbezug in der griechischen politischen Kultur und historiographischen Tradition zukommt" (S. 98), die Parallelisierung der historisch bedeutenden Ereignisse des Westens mit denen Griechenlands in der hellenistischen Geschichtsschreibung, wirft ein Schlaglicht auf die Praxis der historischen Forschung und verdeutlicht die Notwendigkeit, den literarischen und geschichtlichen Kontext einer Quelle nie aus den Augen zu verlieren.

Der komplexen Fragestellung, in welcher Weise sich das Verhältnis Julius Caesars zum Hellenismus in geistesgeschichtlicher, realpolitischer und kulturpolitischer Hinsicht einordnen lässt, geht Gerhard Dobesch in einer detaillierten Erörterung der Stellung der römischen Rezeption griechischer Kultur vom 3. Jahrhundert v.Chr. bis zur letzten Phase der Republik nach (S. 108-252). Wie schon Ceaucescu in seiner Spezialstudie zu "la double image d'Alexandre le Grand à Rome" mit Alexander als archetypischem Symbol des Hellenismus 8 konstatiert auch Dobesch in seiner Analyse einen janusgesichtigen Charakter des Griechischen allgemein als "Punkt der Verehrung, der Ablehnung, des Studiums und des Vergleichs" (S. 136). Dieser toposhafte Vergleich habe dabei stets Ebenbürtigkeit und in gesteigerter Form Überlegenheit Roms gegenüber dem bewunderten Rivalen impliziert, nicht zuletzt in Anbetracht der politischen Situation Griechenlands. Dobesch weist daher auf eine "Konkulturation" hin, in der neben weiteren Faktoren der Hellenismus und ein neu entwickelter Romanismus als Komponenten gewirkt haben (S. 144-151). Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund sei Caesar anzusiedeln, der hellenistische Elemente in seine Gedankenwelt aufgenommen und auf die römischen Begebenheiten übertragen habe. "In Apotheose, Königtum und Weltreich war Caesar freier Erneuerer und Vollender des Hellenismus" (S. 244), der in seiner Reichskonzeption Alexanders Vorbild römisch geprägt und überwunden habe (S. 236f.).

Der Sammelband beinhaltet ein breites Spektrum von Spezialuntersuchungen, die in die Tiefe des jeweiligen Sujets eindringen, Methodik und Problematik der modernen Geschichtsforschung ebenso eindringlich wie anschaulich beleuchten und somit als Lehrstücke für die wissenschaftliche Analyse und Quellenkritik allgemein gelten dürfen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Wirth, G., Philipp II. (Geschichte Makedoniens 1), Stuttgart 1985; Ders., Studien zur Alexandergeschichte, Darmstadt 1985; Ders., Der Kampfverband des Proteas. Spekulationen zu den Begleitumständen der Laufbahn Alexanders, Amsterdam 1989; Ders., Der Brand von Persepolis. Folgerungen zur Geschichte Alexanders des Großen, Amsterdam 1993; Ders., Diodor und das Ende des Hellenismus. Mutmaßungen zu einem fast unbekannten Historiker (SAWW 600), Wien 1993; Ders., Hypereides, Lykurg und die autonomia der Athener. Ein Versuch zum Verständnis einiger Redner der Alexanderzeit, Wien 1999. An Aufsätzen seien exemplarisch zu nennen: Wirth, G., Dareios und Alexander, Chiron 1 (1971), S. 133-152; Ders., Alexander zwischen Gaugamela und Persepolis, Historia 20 (1971), S. 617-632; Ders., Alexander und Rom, in: Badian, E. (Hg.), Alexandre le Grand. Image et realité, Genf 1976, S. 181-210; Ders., Alexander in der 2. Generation. Sprachregelung und Konstruktion eines Bildes, in: Verdin, H. u.a. (Hgg.), Purposes of history. Studies in Greek historiography from the 4th to the 2nd centuries B.C., Leuven 1990, S. 203-211; Ders., Die unheimliche Großmacht. Zum Versuch der Griechen, aus einer Katastrophe das Beste zu machen, in: Will, W. (Hg.), Alexander der Große. Eine Welteroberung und ihr Hintergrund, Bonn 1998, S. 59-76.
2 Diese göttlichen Ehren werden in Debatten 324 v.Chr. in Athen und Sparta erwähnt, vgl. Dein. Dem. 94; Hypereid. Dem. 31-32; Val. Max. 7,2, ext.13; Plut. mor. 842 D; 219 E; Athen. 6,251 B; Ael. v. h. 2,19; 5,12, und aus der Huldigung der wie Theoren bekränzten griechischen Gesandten vor Alexander in Babylon abgeleitet, vgl. Arr. anab. 7,23,2.
3 Vgl. Badian, E., Alexander the Great and the unity of mankind, Historia 7 (1958), S. 425-444, bes. S. 429f.; Bosworth, A. B., Alexander and the Iranians, Journal of Hellenic Studies 101 (1981), S. 1-21, bes. S. 17f.
4 Vgl. auch Wirths Analyse zu Hypereides in seiner Monografie, vgl. Anm. 1.
5 Als ein Parallelbeispiel der deutschen mittelalterlichen Alexanderüberlieferung kann Hartliebs Alexanderroman von 1442/54 gelten, vgl. Schnell, R. W. K., Hartliebs Alexanderroman. Politisierung und Polyfunktionalität eines spätmittelalterlichen Textes, in: Engels L. J. u.a. (Hgg.), Alexander the Great in the Middle Ages, Nijmegen 1978, S. 267-286; vgl. allgemein auch Cary, G., The medieval Alexander, Cambridge 1956; Stoneman, R., The medieval Alexander, in: Hofmann, H. (Hg.), Latin fiction, London 1999, S. 238-252; Alexander d. Gr. in Kunst und Literatur, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, 354ff.
6 In diesem Sinne ist Licas Zitat zutreffend: "... es gibt in Sachen Alexanderrezeption nichts, was es nicht gibt" (S. 71).
7 Vgl. Pallottino, M., Storia della prima Italia, Mailand 1984, S. 99-114.
8 Vgl. Ceaucescu, P., La double image d'Alexandre le Grand à Rome, Studii Clasice 16 (1974), S. 153-168.

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