H. Ludewig u.a.: "Es sei also jeder gewarnt"

Titel
"Es sei also jeder gewarnt". Das Sondergericht Braunschweig 1933-1945


Autor(en)
Ludewig, Hans-Ulrich; Dietrich Küssner
Reihe
Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Landesgeschichte 36
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
DM 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Sohn, TU Braunschweig

1935 meinte ein Uhrmacher aus Braunschweig, der Reichstagsbrand sei ein Machwerk Görings gewesen. Für diese Bemerkung verurteilte ihn das Braunschweiger Sondergericht zu fünf Jahren Gefängnis. Bei der Strafzumessung berücksichtigte es, "daß der Angeklagte als ein von Ort zu Ort ziehender Kommunist und Volksschädling zu betrachten ist." Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Postfacharbeiterin Marie J. wegen Unterschlagung von 25 Feldpostpäckchen zum Tode verurteilt. In der Urteilsbegründung nahmen die Braunschweiger Sonderrichter Walter Lerche, Herbert Eilers und Rudolf Grimpe auf die ehemalige Arbeit der Angeklagten als Prostituierte Bezug: "Ihr Vorleben zeigt, daß sie auch in sittlicher Beziehung eine minderwertige Persönlichkeit ist." Der pensionierte Major Berthold von Bonim, ein erklärter Gegner des Parlamentarismus, hatte den Charakter der Reichstagswahlen von 1936 missverstanden und vertrieb am Wahlsonntag eine Truppe von SA-Leuten, die für die Wahl mobilisieren wollte, von seinem Grundstück. Der Major wurde in 'Schutzhaft' genommen und vor dem Braunschweiger Sondergericht angeklagt. Der Vorsitzende des Braunschweiger Sondergerichts, Friedrich Lachmund, bat den Major a.D. um eine Erklärung, daß sich dieser für Volk und Führer einsetze, und stellte sodann das Verfahren mit der Begründung ein: "Aufgabe des Gerichts ist es nicht nur, durch drakonische Strafen zu sühnen, sondern auch jede Gelegenheit, wo es gilt, einen abseits Stehenden zu gewinnen, durch geeignete und Erfolg versprechende Massnahmen auszunutzen."

Sondergerichte wurden in Deutschland 1933 auf Basis einer Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg gebildet. Sie lassen sich als eine Art Schnelljustiz charakterisieren, bei welcher die Rechte der Angeklagten gering waren. Am Sondergericht Braunschweig waren zwischen 1933 und 1945 nahezu 6000 Verfahren anhängig. Hans-Ulrich Ludewig und Dietrich Küssner haben zehn Jahre über die Geschichte des Braunschweiger Sondergerichts gearbeitet und nun das Ergebnis in einer eindrucksvollen, über 300 Seiten umfassenden Studie veröffentlicht. Anhand der Sondergerichtsakten vermitteln die Autoren sehr anschaulich ein Stück Alltag im Nationalsozialismus. Ihr vorrangiges Interesse galt den Beschuldigten und Angeklagten, deren Schicksale in den dichten und einfühlsamen Beschreibungen bildhaft und plastisch dargestellt werden.

Die Urteile fielen sehr unterschiedlich aus, hatten eine Bandbreite vom Freispruch bis zur Todesstrafe. Die Sonderrichter hatten, wie die Autoren betonen, durchaus Spielräume in der Urteilsfindung. Es waren meist diejenigen Menschen, welchen von den Nationalsozialisten als 'Volksschädlinge' klassifiziert wurden, gegen die die grausamsten Strafen verhängt wurden: aktive Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten, Sinti und Roma, Juden, Zeugen Jehovas, Menschen aus slawischen Ländern, Prostituierte und andere als sozial, geistig oder körperlich "minderwertig" eingestufte Personen. Ein differenzierter statistischer Überblick dokumentiert die Zahl der Ermittlungsverfahren und Prozesse, die Art der verhandelten Delikte und die Höhe des Strafmasses, die Herkunft, Berufe und Geschlechtszugehörigkeit der Beschuldigten

Die sehr detaillierte und umfassende Untersuchung des Braunschweiger Sondergerichts leistet einen wichtigen Beitrag zur Braunschweiger Justizgeschichte. Es bleibt zu wünschen, daß sie nicht allein unter regionalhistorischen Gesichtspunkten rezipiert wird, da sie exemplarisch die Funktion der Sondergerichte im Nationalsozialismus, welche bisher nur bruchstückhaft untersucht ist, aufzeigt. Die Mentalität der Juristen des Sondergerichts, die auch biographisch erfasst werden, wird elaboriert, und ihr Agieren im Spannungsfeld zwischen nationalsozialistischer Pflichterfüllung und Bewahrung der juristischen Kompetenz gegenüber Gestapo und SS dokumentiert. Konturiert wird durch die quellenreiche Dokumentation ein differenziertes Bild, in dem den Sondergerichten eine dreifache Funktion zukommt: zunächst die Einschüchterung durch Verbreitung von Angst und Schrecken, dann die Legitimierung des Regimes als Repräsentant von Gesetzmässigkeit und drittens die korrigierende Funktion bei der Grenzbestimmung zwischen 'Volksschädling' und 'Volksgemeinschaft'.

Resümierend stellen die Autoren über die Funktion der Sondergerichte im Nationalsozialismus fest: "Die Stabilisierung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, die im Krieg zunehmend rassistisch definiert wurde, war das zentrale Anliegen der sondergerichtlichen Rechtsprechung".

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