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Titel
Schuld, die nicht vergeht. Den letzten NS-Verbrechern auf der Spur


Autor(en)
Schrimm, Kurt
Erschienen
München 2017: Heyne Verlag
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Renz, Frankfurt am Main

Kurt Schrimm war von 2000 bis 2015 Leiter der Zentralen Stelle (ZSt) der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (Ludwigsburg). Die 1958 gegründete Vorermittlungsbehörde hat im Rahmen der engen politischen Vorgaben größtenteils herausragende Arbeit geleistet. In den letzten Jahrzehnten konnte sich die Holocaust-Forschung auf die Akten stützen, die Ludwigsburg geschaffen hat. Die dortige Sachverhaltsaufklärung über wichtige Tatkomplexe hat der Zeitgeschichte Einsichten und einen umfassenden Quellenbestand geliefert.1

Wer von Schrimms Buch erwartet hat, dass er die Tätigkeit der Ludwigsburger Einrichtung zumindest in der Zeit seiner 15-jährigen Amtsführung umfassend darstellen würde, wird herb enttäuscht. Der Autor hat offenbar seine im Verlauf von zwei Jahrzehnten gehaltenen Vorträge und veröffentlichten Beiträge insbesondere über diejenigen Fälle, die er als Sachbearbeiter für NS-Verbrechen der Stuttgarter Staatsanwaltschaft verfolgte, zu einem Buch zusammengestellt. Geschildert werden die Verfahren gegen Karl Wilhelm Pöllmann (1982/83), Josef Schwammberger (1991/92), Alois Gabrysch (1997), Johannes Thümmler (1997/99), Alfons Götzfrid (1999) und Julius Viel (2000/01). Hier hat sich Schrimm seine Sporen verdient. Diese Fälle liegen jedoch zeitlich vor seiner Tätigkeit in Ludwigsburg. Er garniert sie mit Ausführungen zur Tätertypologie, zum Problem der Wahrheitsfindung und der Gerechtigkeit in Strafprozessen sowie zu den Strafzwecken. Ganz Praktiker, der erklärtermaßen einzig auf der Basis seiner staatsanwaltschaftlichen Erfahrungen argumentiert (S. 375), berücksichtigt Schrimm weder die Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Täterforschung noch die auf Urteilen und Justizakten fußende grundlegende Studie von Herbert Jäger.2 Über den Begriff der Gerechtigkeit sinniert er anhand eines „kleinen Wörterbuch[s] der deutschen Sprache“ und auf Basis von Wikipedia (S. 320). Seine Ausführungen zu Straftheorien sind ebenfalls dürftig. Eine kritische Bilanz der Tätigkeit der ZSt und der bundesdeutschen Justiz, die spätestens seit dem Münchner Demjanjuk-Urteil von 2011 und insbesondere der Bestätigung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom September 2016 zum Lüneburger Gröning-Urteil (2015) geboten wäre, vermag Schrimm nicht zu leisten. Seine Darstellungen erschöpfen sich meist in peinlichem Eigenlob (S. 77, S. 81).

Im Dezember 2008, anlässlich des Festakts und des Symposiums zum 50-jährigen Bestehen der Zentralen Stelle, konnte Schrimm den honorigen Gästen einen „Erfolg“ vermelden. Es handelte sich um den Abschluss des Vorermittlungsverfahrens gegen Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibór. Warum es über Jahrzehnte nicht zu Ermittlungen gegen Mordgehilfen kam, deren funktionelle Mitwirkung am Verbrechensgeschehen außer Zweifel stand, denen aber ein vorgeblich notwendiger konkreter Tatbeitrag nicht nachzuweisen war, erörtert Schrimm nicht. Wiederholt verweist er ausschließlich auf die BGH-Rechtsprechung, die die ZSt und die Staatsanwaltschaften gebunden habe. Fraglos ist die individuelle Zurechenbarkeit bei kollektiven Verbrechen ein schwieriges strafrechtliches Problem. Die Feststellung individueller Schuld bei von einem Verbrecherstaat befohlenen, arbeitsteilig verübten Massenmorden ist für ein Gericht, das eine „gerechte“, schuld- und tatangemessene Strafe anstrebt, keine einfache Aufgabe.

Schrimm schreibt, „dass in vielen Punkten heute eine andere Rechtsauffassung vertreten wird als noch vor Jahrzehnten“ (S. 27). Diese fehlerhafte Argumentation – darauf ist im Folgenden noch einzugehen – dient ihm dazu, die sich über viele Jahre erstreckende Untätigkeit der ZSt auf die Rechtsprechung zurückzuführen, die die Ermittler beschränkt habe. Erst nach dem Demjanjuk-Urteil und einer vermeintlich „geänderten Rechtslage“ (S. 189) regte sich die ZSt. Sie besann sich auf die in Ludwigsburg bis dahin unbearbeiteten Fälle des im US-Justizministerium angesiedelten Office of Special Investigations (OSI) und auf eine Dokumentation mit rund 4.700 Angehörigen des SS-Personals von Auschwitz („Frankfurter Liste“, 475 Blatt), die die Frankfurter Staatsanwaltschaft in einem Duplikat Ludwigsburg überlassen hatte. Die noch nicht geschriebene Geschichte des Demjanjuk-Verfahrens unter Berücksichtigung der Anfang der 1970er-Jahre einsetzenden Rechtspraxis, gegen nicht-exzessive Täter Ermittlungen zu unterlassen bzw. einzustellen, sofern nicht ein konkreter Einzeltatnachweis zu führen war, dürfte allerdings aufzeigen, dass die ZSt und die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden empfänglich waren für eine Auslegung der allgemeinen Grundsätze der Beteiligungslehre, die niedere Chargen und kleine Befehlsempfänger justizökonomisch verschonte. Der „Mythos vom konkreten Einzeltatnachweis“ (so der Strafrechtler Cornelius Nestler) wurde gepflegt und die Beteiligungsdogmatik falsch ausgelegt. Eigentlich bedurfte es – so unisono die bislang veröffentlichten Kommentierungen des BGH-Beschlusses zum Gröning-Urteil – „keines konkreten Einzeltatnachweises, um eine Beihilfe zur Ermordung der in den Konzentrationslagern eingepferchten Menschen durch das Geleit zu den Gaskammern, Bewachung, Beaufsichtigung von Arbeitseinsätzen etc. anzunehmen“.3

Statt einen fundierten Beitrag zum Demjanjuk-Prozess zu verfassen, der fraglos Rechtsgeschichte geschrieben hat, verliert sich Schrimm in Polemik gegen Kritiker. Auch gegenüber seinem früheren Mitarbeiter Thomas Walther, dessen Engagement die ZSt das Demjanjuk-Verfahren zu verdanken hat, wird Schrimm persönlich. Erstaunlicherweise schreibt er in seinen oberflächlichen Ausführungen von „Zufällen“ (S. 42), die zu Demjanjuk geführt hätten. Die ZSt war eingerichtet worden, um die Ära von „Staatsanwalt Zufall“ durch systematische Ermittlungen endlich zu beenden. Auch Schrimm meint, man sei Ende der 1950er-Jahre „zu der Einschätzung“ gelangt, „dass die bisherige strafrechtliche Verfolgung eher vom Zufall geprägt“ (S. 50) gewesen sei und dass die „systematischen Ermittlungen durch die Zentrale Stelle“ verhindern sollten, „dass die Aufklärung, wie dies vor 1958 der Fall war, dem Zufall überlassen blieb“ (S. 55). Dass Walther bei Internet-Recherchen auf Demjanjuk stieß und über das Wissen verfügte, dass es 1987/88 das Jerusalemer Verfahren gegen „Iwan den Schrecklichen“ gegeben hatte, kann Schrimm aber auf „Zufälle“ und den „Jagdinstinkt“ (S. 42) Walthers nur deshalb zurückführen, weil er die von ihm selbst zu verantwortende langjährige Nichtbearbeitung der OSI-Fälle unberücksichtigt lässt.

Ausgeblendet bleibt bei Schrimm besonders auch die vom Bundesgerichtshof bestätigte Rechtsprechung gegen Personal der sogenannten reinen Vernichtungslager (Chełmno, Treblinka, Sobibór und Bełżec) während der 1960er-Jahre. In seiner Entscheidung zum Bonner Chełmno-Urteil von 1963 meinte der BGH 1964, dass die Angeklagten „allein durch ihre Zugehörigkeit zu dem Sonderkommando, das eigens für die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Polens [...] gebildet worden war, bei der Tötung der Opfer Hilfe geleistet“ hätten und dass die „Art der Aufgaben“, die den Angeklagten „bei der Durchführung der einzelnen Aktionen oblagen, [...] ohne Bedeutung“ sei.4 Das Todeslager-Personal hatte bestimmte Funktionen in den räumlich und zeitlich begrenzten, nur auf einen Zweck ausgerichteten Mordstätten. Allesamt förderten und unterstützten die Beteiligten durch ihre „allgemeine Dienstausübung“ die von der kriminellen Staatsführung befohlene Haupttat: den Massenmord. Indem Schrimm ohne rechtshistorischen Horizont die Rechtsauffassung der 1960er-Jahre ignoriert und unrichtig von einer anderen, scheinbar neuen Rechtsauffassung schreibt (S. 27), entlastet er die bundesdeutsche Justiz für ihre Untätigkeit. Selbst mit dem 2013 erschienenen Beitrag seines damaligen Mitarbeiters Thilo Kurz5 über den „Paradigmenwechsel“ bei der Verfolgung des Vernichtungslagerpersonals – implizit eine Kritik an der Arbeit der ZSt – setzt er sich nicht auseinander. Auch das Frankfurter Auschwitz-Urteil von 1965 und die BGH-Entscheidung von 1969, die die exkulpierende Rechtspraxis einleitete, Mordgehilfen nur noch dann zu belangen, wenn ihnen konkrete Tatbeiträge nachzuweisen seien, bleiben unerörtert. Schrimm zitiert zwar die BGH-Entscheidung (S. 192), doch er begnügt sich mit der Feststellung, an der höchstrichterlichen Rechtsprechung hätten sich Staatsanwälte zu orientieren gehabt.

Die ausführlich geschilderte und ergebnislos gebliebene Auswertung von Einwanderungsakten in zahlreichen südamerikanischen Staaten wirft die Frage auf, wie sachgerecht Schrimms Dienstreiseberichte im Stuttgarter Justizministerium bewertet worden sind. Die „Suchkriterien“, mit denen er auf unzähligen Südamerikareisen die Akten von Einwanderern der Jahre 1945 bis 1955 („Alter, Geschlecht, Einwanderungsdatum, Staatsangehörigkeit, Einwanderungsdokumente“ sowie „Herkunftshäfen der Auswandererschiffe“, S. 75) glaubte auswerten zu können, zeugen gewiss, wie Schrimm mit Stolz vermerkt, von „Einfallsreichtum und Mut zum Neuen“ (S. 81). Auch berichtet er von seiner „neue[n] Idee“ (S. 66), nicht auf die Weitergabe von Erkenntnissen aus dem Ausland zu warten, sondern selbst Auslandsermittlungen einzuleiten. Der Grundsatz: „suchen, nicht warten“ (S. 66) – und in aller Welt Archive konsultieren – ist sicher nicht falsch. Recht fragwürdig werden Schrimms ergebnislose Auslandsaktivitäten indes, wenn er eingestehen muss, „ein älterer Mitarbeiter“ (S. 80) habe sich an die „Frankfurter Liste“ erinnert, die „in der Bibliothek inmitten eines Stapels unsortierter Dokumente“ (ebd.) gefunden worden sei. Der Aufstellung von SS-Personal von Auschwitz, so der Mitarbeiter, habe man jedoch „keine besondere Bedeutung beigemessen, da man ja davon ausgegangen sei, dass man diesen Leuten nach der damaligen Rechtsprechung des BGH keine strafbaren Handlungen nachweisen könne“ (ebd.). Kein Wort findet sich bei Schrimm, ob die justizökonomische Auslegung der BGH-Entscheidung von 1969 zutreffend war. Ungeklärt bleibt bei all dem die Frage, wie die ZSt und die Staatsanwaltschaften personell hätten ausgestattet sein müssen, um gegen Tausende von Beschuldigten zu ermitteln. Selbst in der keinesfalls untätigen Frankfurter Staatsanwaltschaft war die sogenannte Politische Abteilung, in der die „altpolitischen Fälle“ (NS-Verbrechen) bearbeitet wurden, nur mit wenigen Sachbearbeitern ausgestattet.

15 Jahre lang hat Kurt Schrimm die Zentrale Stelle geleitet. Ohne das von Thomas Walther eingeleitete Demjanjuk-Verfahren hätte sie in der Ära Schrimm nichts vorzuweisen gehabt. Das vorliegende Buch, das sich eigentlich an ein breiteres Publikum richtet, ist rechtshistorisch interessierten Laien nicht zu empfehlen. Für Spezialisten ist es ohnehin weder gedacht noch geeignet.

Anmerkungen:
1 Siehe als Überblick anlässlich des 50. Jahrestags der Gründung: Annette Weinke, Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958–2008, Darmstadt 2008.
2 Herbert Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Olten 1967, Neuaufl. Frankfurt am Main 1982.
3 Christian Fahl, Möglichkeiten und Grenzen der späten Ahndung von Teilnahmehandlungen in Auschwitz, in: Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht 16 (2015), S. 210–217, hier S. 216, https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/15-05/index.php?sz=6 (09.01.2018), und ebenso ders., Beihilfe zum staatlich organisierten Massenmord, in: ebd. 18 (2017), S. 167–169, hier S. 167, https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/17-04/index.php?sz=6 (09.01.2017).
4 BGH-Urteil vom 25.11.1964 (2 StR 71/64), in: Christiaan F. Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XXI, Amsterdam 1979, lfd. Nr. 594c, S. 352.
5 Thilo Kurz, Paradigmenwechsel bei der Strafverfolgung des Personals in den deutschen Vernichtungslagern?, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 8 (2013), S. 122–129, http://www.zis-online.com/dat/artikel/2013_3_739.pdf (09.01.2018).

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