V. Losemann: Klio und die Nationalsozialisten

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Titel
Klio und die Nationalsozialisten. Gesammelte Schriften zur Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte. Herausgegeben von Claudia Deglau, Patrick Reinard und Kai Ruffing


Autor(en)
Losemann, Volker
Reihe
Philippika 106
Erschienen
Wiesbaden 2017: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XVII, 311 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Marburg

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in West-Deutschland die nationalsozialistische Vergangenheit kollektiv verdrängt. Dieses Phänomen kann auch in der Alten Geschichte beobachtet werden. Obwohl man angesichts der überschaubaren Zahl der Fachvertreter meist genau wusste, wer der Lingua Tertii Imperii gehuldigt und mit den braunen Machthabern kollaboriert hatte, wer in schwierigen Zeiten seine Integrität zu bewahren wusste und wer der menschenverachtenden Rassenpolitik zum Opfer gefallen war, sorgte der Wiederaufbaukonsens im Kalten Krieg dafür, dass man nach vorn schaute. Als Folge dieser „unbewältigten“ Vergangenheit setzten nicht wenige belastete Althistoriker, mitunter nach einer kurzen „Entnazifizierungspause“, ihre Karriere fast bruchlos fort. In der „Zunft“ galt das Gebot der Verschwiegenheit. Starb ein renommierter Ordinarius, sorgten Kollegen oder Vertreter der Schüler-Generation dafür, dass man in Nachrufen das Wirken im „Dritten Reich“ ausklammerte oder mit salbungsvollen Worten beschönigte.

Rund 30 Jahre vergingen, ohne dass es ernsthafte Versuche gegeben hätte, an dem Tabuthema zu rütteln. Als einer der ersten, der sich mit der Geschichte der Disziplin intensiv auseinandersetzte und sie quasi in den Rang einer eigenständigen Forschungsrichtung erhob, muss der Marburger Lehrstuhlinhaber Karl Christ (1923–2008) erwähnt werden. In seinem Fahrwasser entstand 1975 Volker Losemanns Dissertation „Nationalsozialismus und Antike“.1 Die Pionierstudie erwies sich als innovativ und mutig, da sie nicht nur auf eine größere Menge ungedruckter Archivalien zurückgriff, sondern auch angesehene Althistoriker mit ihrer NS-Vergangenheit konfrontierte. Zu den führenden Köpfen gehörten unter anderem Helmut Berve (1896–1979)2, Fritz Schachermeyr (1895–1987)3 und Joseph Vogt (1895–1986)4, die allesamt rassistische Positionen vertreten hatten. Der Einfluss dieser Big Men und ihre Macht im bundesdeutschen Wissenschaftsbetrieb können kaum überschätzt werden. Dies gilt umso mehr, da die Galionsfiguren der Kontinuität sich seinerzeit bester Gesundheit erfreuten. Daher war es nicht überraschend, dass sich gegen die „Aufarbeitung“ der düsteren Vergangenheit des Faches hartnäckige Widerstände formierten.

Die hier anzuzeigende Publikation ist dem 40-jährigen Dissertationsjubiläum Losemanns gewidmet, der bis zu seiner Pensionierung 2008 als akademischer Oberrat an der Philipps-Universität Marburg und „rechte Hand“ von Christ fungierte. Die Substanz des Werkes macht der Wiederabdruck von 13 einschlägigen Aufsätzen Losemanns aus, die zwischen 1980 und 2010 erschienen sind. Der Themenschwerpunkt liegt auf dem Wechselverhältnis von Althistorie und Nationalsozialismus. Allein fünf Beiträge sind dieser Thematik gewidmet. Immer wieder wird dabei auf die Programme der oben erwähnten Fachvertreter und ihr Verhalten in der Diktatur eingegangen. Zudem werden die Ressentiments gegen eine kritische Aufarbeitung in der Disziplin reflektiert. Die übrigen Beiträge untersuchen die Sparta- und Germanen-Rezeption sowie die Hochschulpolitik im Nationalsozialismus.

Eine gewisse Sonderstellung nimmt der nachgezeichnete Briefwechsel zwischen dem deutschen Althistoriker Franz Altheim (1898–1976) und dem ungarisch-schweizerischen Altphilologen Karl Kerényi (1897–1973) ein. Dessen Wert besteht primär darin, dass anhand von privaten Dokumenten tiefe Einblicke in die Gedankenwelt zweier befreundeter, aber höchst unterschiedlicher Persönlichkeiten während der Kriegs- und Nachkriegsepoche gegeben werden. Die Palette der Detailstudien verdeutlicht die Verdienste, die der pensionierte Oberrat um die Erforschung des brisanten Gegenstandes erworben hat. Das im Buch abgedruckte Schriftenverzeichnis umfasst 35 Aufsätze, 24 Lexikon-Artikel, neun Rezensionen und fünf Herausgeberschaften. Das Register ist weit gefächert und besteht aus insgesamt 17 Druckseiten. Allein zum Oberbegriff „Rasse“ finden sich fast 40 Untereinträge, die von „Rasseinstinkt“ bis „Rasse- und Siedlungshauptamt“ reichen. Sie erlauben es, wesentliche Teile des präsentierten Œuvres schnell zu erschließen. Insgesamt ist es zu begrüßen, dass zentrale Aufsätze des Jubilars jetzt komfortabel gebündelt zugänglich sind. Wer allerdings unpublizierte Forschungsergebnisse erwartet, der wird in den „gesammelten Schriften“ nicht fündig werden.

Anmerkungen:
1 Leicht gekürzt erschienen: Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933–1945, Hamburg 1977. Vgl. folgende Rezensionen: Jochen Bleicken, in: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 631–632; Rainer Nickel, in: Gymnasium 86 (1979), S. 96–97; Frank Georg Maier, in: Gnomon 53 (1981), S. 215–216.
2 Karl Christ, Helmut Berve (1896–1979), in: ders., Neue Profile der Alten Geschichte, Darmstadt 1990, S. 125–197; Luciano Canfora, Helmut Berve, in: Ders., Politische Philologie. Altertumswissenschaften und moderne Staatsideologie, Stuttgart 1995, S. 126–178; Stefan Rebenich, Alte Geschichte in Demokratie und Diktatur. Der Fall Helmut Berve, in: Chiron 31 (2001), S. 457–496; Linda-Marie Günther, Helmut Berve. Professor in München 6. 3. 1943 – 12. 12. 1945, in: Jakob Seibert (Hrsg.), 100 Jahre Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München 1901–2001, Berlin 2002, S. 69–105.
3 Beat Näf, Der Althistoriker Fritz Schachermeyr und seine Geschichtsauffassung im wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick, in: Storia della Storiografia 26 (1994), S. 83–100; Martina Pesditschek, Barbar, Kreter, Arier. Leben und Werk des Althistorikers Fritz Schachermeyr, 2 Bde., Saarbrücken 2009; Matthias Willing, Konsequente „geistige Durchnordung“. Fritz Schachermeyr, der Nationalsozialismus und die Alte Geschichte, in: Das Altertum 58 (2013), S. 201–236.
4 Karl Christ, Joseph Vogt (1895–1986), in: Christ, Profile, S. 63–124; Diemuth Königs, Joseph Vogt. Ein Althistoriker in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Basel 1995.

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