S. Schattenberg: Leonid Breschnew

Cover
Titel
Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie


Autor(en)
Schattenberg, Susanne
Erschienen
Köln 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
661 S., 36 s/w-Abb.
Preis
€ 39.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Simon, Pulheim

Dies ist die erste wissenschaftliche Breschnew-Biographie. Sie führt alles zusammen, was man derzeit über Breschnew wissen und belegen kann; sie macht auch deutlich, was vorläufig wegen des eingeschränkten Archivzugangs offen bleiben muss. Diese Biographie bietet dennoch ein weitgehend geschlossenes Porträt des Mannes, der 18 Jahre lang die Weltmacht Sowjetunion führte und an ihrem Verfall mitwirkte, ohne das letztere wahrzunehmen.

Susanne Schattenberg hat ein unglaubliches Arbeitspensum auf sich genommen und Quellenmaterial nicht nur aus Moskau, sondern auch aus den anderen Wirkungsstätten Breschnews, die heute außerhalb Russlands liegen, zusammengetragen, durch die umfangreiche Memoirenliteratur ergänzt und mit der Sekundärliteratur konfrontiert. Entstanden ist nicht nur ein gut lesbares, sondern streckenweise spannend geschriebenes Buch, das den Leser in Atem hält und am Ende auch in Zweifel stürzt.

Breschnew war ein starker Führer, um Konsens in der Führung der KPdSU bemüht, aber nicht entscheidungsschwach. Er suchte den Konsens, aber er entschied selbst und verlangte dann Unterwerfung. Die wichtigen Entscheidungen während seiner Karriere, wie die Absetzung Chruschtschows im Oktober 1964, den Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968 oder den Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 traf er selbst, auch wenn im letzten Fall wegen seines Siechtums Zweifel an seiner geistigen Präsenz angebracht sind. Insofern war er weder der „Broker“ zwischen sowjetischen Interessengruppen, wie er zeitweilig in der westlichen Forschung wahrgenommen wurde, noch ein Förderer der Restalinisierung oder ein überzeugter Kalter Krieger, als der er vielen im Westen am Ende seines Lebens galt. Vielmehr suchte Breschnew – so zeigt Susanne Schattenberg ihn uns – die Annäherung an den Westen, die allerdings seit Mitte der 1970er-Jahre scheiterte. Insofern war er in seiner frühen Außenpolitik ein Vorläufer Gorbatschows.

Breschnew war der „erfolgreichste Vertreter des sowjetischen Führungsstils überhaupt“ (S. 15), der die zentralen Elemente dieses Führungsstils – Patron-Klientel-Beziehungen und Kaderpolitik – perfekt beherrschte und das sowjetische Imperium ohne Massenterror und Krieg (vor 1979) in eine bessere Zukunft zu führen glaubte. Breschnew war die paradigmatische Verkörperung des homo sovieticus, unfähig, die Grundlagen des sowjetischen Systems in Frage zu stellen oder auch nur zu begreifen, dass ein Sowjetmensch das tun könnte. Hierin unterschied er sich von einer wachsenden Zahl von Führungskräften in der eigenen Partei, nicht nur von Gorbatschow.

Breschnew war 58 Jahre alt, als er den Coup gegen Chruschtschow anführte und selbst die Parteiführung übernahm. Etwa die Hälfte dieser Monographie erzählt vom Leben und von der Laufbahn des Parteifunktionärs Breschnew im Schatten Stalins und Chruschtschows. Seine Herkunft aus der östlichen Ukraine (Gebiet Dnipropetrowsk), wo Breschnew auch seine politische Karriere begann, scheint für ihn lediglich insofern von Bedeutung gewesen zu sein, als er hier schon früh seine Netzwerkbildung begann, die zum Teil bis an sein Lebensende reichte. Wir erfahren in dieser Biographie nicht, ob Breschnew Ukrainisch konnte oder in anderer Weise eine Beziehung zur ukrainischen Tradition seiner Heimat entwickelte. Seine russische Aussprache hatte die typische Färbung des Russen aus der Ukraine.

Die miserablen Lebensverhältnisse und die Gefahren für Leib und Leben während der Terrorherrschaft der 1930er-Jahre sowie die Brutalität des Krieges haben sein Bild von der Welt geprägt und können erklären helfen, warum „Fürsorge“ und verbesserter „Konsum“ Leitlinien seiner Politik als sowjetischer Führer wurden. Politkommissar Breschnew beendete den Krieg im Generalsrang, danach begann sein Aufstieg in die Führung der Partei. Er setzte dabei (fast) immer auf den richtigen Patron. Niemand förderte ihn so nachdrücklich wie Chruschtschow, in dessen Fahrwasser er nach dem Tod Stalins in die höchsten Ämter aufstieg. Noch zu Lebzeiten Stalins erhielt er 1950 die Leitung der Parteiorganisation in der nach dem Krieg neu geschaffenen Unionsrepublik Moldawien. 1954 schickte ihn Chruschtschow zur Leitung der Neulandkampagne als Parteichef nach Kasachstan. Susanne Schattenberg erzählt ausführlich von der Lebenswirklichkeit in der Steppe – zumeist nach Quellen aus kasachischen Archiven – einschließlich der Absurditäten des Maisanbaus (S. 214ff.). Breschnew exekutierte ohne Abstriche oder Zweifel die politische Linie, sei es Stalins, sei es Chruschtschows. Deshalb will es nicht recht überzeugen, wenn die Autorin immer wieder Breschnew in Schutz nimmt: „Dennoch musste auch er die stalinistischen Parolen wiederholen und vertreten“ (S. 133), so als ob er eigentlich nicht dahinter gestanden hätte (vgl. S. 130, 176, 223 passim). Breschnew entwickelte allerdings schon früh einen anderen Ton und Stil und unterschied sich damit von vielen Parteifunktionären. Er vermied es, seine Untergebenen anzubrüllen, zu bedrohen oder zu verhöhnen. Er hörte zu, argumentierte oder versuchte es mit Humor. Vor allem aber suchte und pflegte er Kontakt zu Menschen, sowohl nach unten wie nach oben. Dieser im Unterschied zu Chruschtschow verbindliche Umgangsstil war ein Unterpfand seines Erfolgs bis zum Schluss.

Wie konnte es dahin kommen, dass Breschnew den Putsch gegen Chruschtschow anführte, der fast 30 Jahre lang sein Patron gewesen war, ihn zum Rücktritt zwang und selbst die Führung der Partei und damit der Sowjetunion übernahm? Die Selbstherrlichkeit und das ständige Reformkarussell, das Chruschtschow in Gang hielt, verunsicherten die Kader; sie befürchteten eine Rückkehr zur Diktatur. Chruschtschow schien auch das System von Patron und Klientel zu ignorieren, wonach der Patron in der Pflicht stand, loyale Klientel zu belohnen. Vielleicht unterschätzte Chruschtschow auch Breschnew, den er hinter verschlossenen Türen „einen Hohlkopf“ nannte (S. 274). Allerdings bedeutete der Führungswechsel im Oktober 1964 keinen grundsätzlichen Politikwechsel. Doch die Ziele, insbesondere im Bereich der Wirtschaft und damit der Verbesserung der Lebensverhältnisse, rückten im Laufe der 1970er-Jahre in immer weitere Ferne.

In Breschnews Weltbild gab es unantastbare Grundsätze: Dazu gehörten das Machtmonopol der Kommunistischen Partei und die imperiale Hegemonie der Sowjetunion über die Staaten des Warschauer Paktes. Deshalb fand er freundschaftlichen Kontakt zu Willy Brandt und anderen westlichen Staatsmännern, die diese Grundsätze ebenfalls nicht in Frage stellten. Dagegen taten sich unüberbrückbare Gegensätze zu Dubček und zum Prager Frühling sowie zur Solidarność in Polen auf. Breschnew lehnte diese Reformbewegungen nicht nur ab, er verstand sie nicht. Gleiches galt für die Dissidenten in der Sowjetunion. Breschnew weigerte sich über Jahre hin, Andrei Sacharow zu empfangen, den er aus der Zeit gemeinsamer Arbeit in der Rüstungsindustrie gut kannte, obwohl KGB-Chef Andropow ihn dazu drängte. Wahrscheinlich fühlte sich Breschnew einem Gespräch mit Sacharow einfach nicht gewachsen, „weil es keine gemeinsame Basis gab“ (S.440). Er überließ die Repressalien gegen die Dissidenten dem KGB. So klinkte sich Breschnew immer mehr aus den realen Problemen aus. Könnte es sein, dass seine Tablettensucht, die Schattenberg wesentlich für seinen körperlichen und geistigen Verfall verantwortlich macht, auch eine Flucht vor der Wirklichkeit war?

Breschnew präsidierte über den Verfall der Sowjetunion, die wenige Jahre nach seinem Tod sang- und klanglos aus der Geschichte verschwand. Dieses zentrale Problem findet in dieser Biographie kaum Beachtung. Mag sein, weil Breschnew es nicht wahrnahm. Stattdessen puppte er sich immer mehr in den Kokon einer virtuellen Realität ein, wie in jenem bekannten sowjetischen Witz: Wir sitzen im Schnellzug, ziehen die Vorhänge zu und tun so, als ob wir fahren. Die Wirklichkeit wurde in riesigen Propagandablasen versteckt, und Breschnew glaubte offenbar bis zuletzt an seine eigene Propaganda. So fixierte die „Breschnew-Verfassung“ 1977 nicht nur die KPdSU als „führende Kraft der Gesellschaft“, die Verfassung kanonisierte auch das sowjetische Volk als „neue Menschengemeinschaft“. Nach wenigen Jahren stellte sich heraus, dass es ein sowjetisches Volk nicht gab, und dass die Menschen die „führende Kraft“ zum Teufel schickten. Deshalb überzeugt die Schlussfolgerung von Susanne Schattenberg nicht, „dass die Sowjetunion für viele Menschen zur unhinterfragten Realität wurde“ (S. 615). Vielmehr wurden wenige Jahre nach Breschnews Tod die Reform- und Zukunftsunfähigkeit der Sowjetunion für alle offensichtlich.

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