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Titel
Lettre internationale. Geschichte einer europäischen Zeitschrift


Autor(en)
Schmidt, Roman Léandre
Erschienen
Paderborn 2017: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
405 S., 20 SW-Abb., 1 SW-Karte
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Kuhn, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Wenn eine rund 400-seitige Doktorarbeit erst auf Seite 215 zum eigentlichen Thema kommt, erzeugt das Nachfragen – dessen ist sich Roman Léandre Schmidt bewusst. So weist er einleitend in seiner an der Universität Bielefeld und der Sciences Po Paris im Jahre 2015 eingereichten Dissertation darauf hin, dass ihn vorrangig die Rekonstruktion der Geschichte der 1984 in Paris gegründeten politisch-literarischen Zeitschrift „Lettre internationale“ interessiere, er diese aber in einen weiteren historischen Kontext einbette. Entlang des Werdegangs des Zeitschriftengründers, Antonín Jaroslav Liehm (geb. 1924), schildert und analysiert Schmidt die Einflüsse und Bedingungen für die Entstehung und Ausrichtung der Zeitschrift. Bereits in den 1960er-Jahren in Prag sowie später im amerikanischen und französischen Exil unternahm Liehm Versuche, eine europäische Zeitschrift zu gründen, um die Möglichkeiten eines demokratischen Sozialismus grenzüberschreitend zu diskutieren. Anhand der personalisierten (Vor-)Geschichte von „Lettre internationale“ möchte Schmidt „über den ‚zeitschriftenbiographischen‘ Aspekt hinaus“ einen „Beitrag zur transnationalen Intellektuellen- und Publizistikforschung“ leisten (S. 11). Intellektuellengeschichte boomt1, und das vor allem, seit sich die Historiographie vermehrt auf Analysemodelle von Soziologen wie Max Weber, Pierre Bourdieu und anderen beruft. Besonders in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren waren „Medienintellektuelle“2 Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen. Und auch die Intellektuellenbiographie erfreut sich großer Beliebtheit.3 Mit seiner Arbeit befindet sich Schmidt also in guter Gesellschaft.

Eingangs skizziert der Autor die Entstehung des Mediums Zeitschrift und die Entwicklung transnationaler Kommunikationsräume in Europa seit dem 17. Jahrhundert, mit dem Schwerpunkt respektive Ursprung in Frankreich. Die traditionelle Sehnsucht der Gelehrten nach Austausch und dem Überwinden nationalstaatlicher Grenzen und Beschränkungen, institutionalisiert in Form der Zeitschrift, war ein ausschlaggebender Impuls für die beginnende Aufklärung und schuf mit der Figur des Intellektuellen einen neuen, wichtigen Akteur, der es sich zur Aufgabe machte, wenn nötig, Kritik an allem und jedem zu üben. Das Ideal der transnationalen und autonomen „Gelehrtenrepublik“ (S. 26) des 18. Jahrhunderts diente Generationen von Intellektuellen als Vorbild bei der Planung und Gestaltung gemeinsamer Kommunikationsräume. Dazu gehörte lange Zeit vor allem die französische Sprache, aber auch Multilingualität als Ausweis von Bildung.

Die Kapitel 2 und 3 schildern die wichtigsten Etappen im Leben Antonín Liehms. Bereits mit 21 Jahren arbeitete er 1945 für die Prager Zeitschrift „Kulturní politika“. Als sich das politische Klima Ende der 1940er-Jahre änderte und die Zeitschrift verboten wurde, erhielt der damals noch moskaugläubige Kommunist eine Anstellung in der Pressestelle des Außenministeriums. Liehm geriet allerdings immer häufiger mit dem stalinistischen Novotný-Regime in Konflikt, bis er schließlich entlassen wurde. 1961 trat er eine Stelle als Redakteur der Literaturzeitschrift „Literárný noviny“ an, deren Umfeld ein Sammelbecken für Intellektuelle und Reformkommunisten war und die eine wichtige Rolle im Vorfeld des Prager Frühlings 1968 spielte. Zu dieser Zeit reiften Liehms Ideen einer europäischen Zeitschrift. „Literárný noviny“ sollte ein Forum jener europäischen Kommunisten werden, die sich von Moskau abgrenzten und über „Dritte Wege“ (S. 132) diskutierten. Liehm und Gleichgesinnte engagierten sich für die Freiheit der Kunst und gegen die Zensur seitens der Partei – die Geburt des von Schmidt so genannten „Prager Modells“ (S. 111). Für wenige Monate schien der Traum Wirklichkeit zu werden. Anfang 1968 wurde der Apparatschik Antonín Novotný durch den Reformer Alexander Dubček ersetzt, die Zensur verschwand, und die Medien konnten frei über einen tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus sprechen. Die sowjetische Schutzmacht tolerierte das einige Monate, bis in der Nacht zum 21. August 1968 die Panzer des Warschauer Pakts den Prager Frühling niederwalzten. Die Macht konsolidierte sich, und innerhalb eines Jahres war von Liberalität und Vielfalt nichts mehr übrig. Liehms Ideal eines europäischen Kommunikationsraumes und der Wunsch nach einem reformierten Kommunismus waren obsolet. Im Oktober 1969 kehrte er von der Frankfurter Buchmesse nicht mehr in seine Heimat zurück.

Nach einer kurzen, ernüchternden Exilzeit in Paris zog es Liehm in die USA. Die Idee einer europäischen Zeitschrift verfolgte er aber weiterhin. Am konkretesten wurde sie Mitte der 1970er-Jahre, als Liehm und andere tschechische Exilanten gemeinsam mit Günter Grass und Heinrich Böll in der Bundesrepublik eine Zeitschrift planten, um auf europäischer Ebene die Möglichkeiten eines demokratischen Sozialismus zu erörtern. Doch der Export des „Prager Modells“ schlug fehl. Liehm und die übrigen Tschechen verließen nach diversen Meinungsverschiedenheiten enttäuscht das Projekt, und letztlich wurde „L 76“ eine SPD-nahe, auf Deutschland konzentrierte Zeitschrift, die ihren ursprünglichen kosmopolitischen Anspruch aufgab.

In Kapitel 4 erläutert Schmidt die gesellschaftlichen und publizistischen Voraussetzungen in Frankreich im Vorfeld der Gründung von „Lettre internationale“. Das Verhältnis zwischen Kommunismus und Intellektuellen sowie die damit zusammenhängende Totalitarismuskritik, der Wandel der Massenmedien und die Herausbildung neuer Kommunikationsräume Ende der 1970er-Jahre bildeten den Rahmen und Nährboden für das Zeitschriftenprojekt. Liehm kehrte schließlich aus den USA nach Paris zurück und gründete 1984 „Lettre international“.

Für die Zeit „um 1980“ (S. 260) macht Schmidt eine ideengeschichtliche Krise und ein gesteigertes intellektuelles Interesse an transnationaler Kommunikation in Europa aus. Dieses Vakuum sollte die neue Zeitschrift füllen und zur Keimzelle eines transnationalen Netzwerkes werden, um „vor dem Hintergrund einer wahrgenommenen Krise der beiden großen politischen Leitsysteme“ (S. 232) universelle politische und kulturelle Fragen zu verhandeln. In den Kapiteln 5 und 6 beschreibt Schmidt die Anstrengungen Liehms und seiner Kollegen, Kooperationen einzugehen, die Finanzierung zu sichern und die Zeitschrift in Europa zu etablieren. Die internationale Autorenschaft von „Lettre“, die thematische Vielfalt und ihre Zweigstellen in Berlin, Rom und Madrid – nach dem Umbruchjahr 1989 entstanden weitere mittel- und osteuropäische Vertretungen –, verdeutlichten diesen Ansatz. Das „Lettre“-Netzwerk konnte von den alten reformkommunistischen und sozialistischen Verbindungen profitieren, ohne seine liberale Grundrichtung aufgeben zu müssen. Damit war die Zeitschrift in den ersten Jahren durchaus erfolgreich und entwickelte sich zu einem lebendigen Forum. Trotzdem ist die Geschichte der Pariser „Lettre internationale“ eine relativ kurze. Die Probleme waren vielfältig. Eine europäische Zeitschrift ist kosten- und arbeitsaufwendig, was insbesondere die ständige Suche Liehms nach Geldgebern und die üblicherweise hohen Übersetzungskosten betraf, und so stand „Lettre“ finanziell von Beginn an auf einem prekären Fundament. Darüber hinaus reagierte die Zeitschrift nicht angemessen auf die politischen Veränderungen ab 1991; sie verlor viele Leser und vor allem Abonnenten. Der Pariser „Lettre internationale“ wurde die staatliche Förderung gestrichen, private Geldgeber stellten Zahlungen ein, und im Juni 1993 erschien die letzte Ausgabe. Mit ihrem Ende als „Knoten von hoher Zentralität“ (S. 316) zerfiel das „Lettre“-Netzwerk. Der 1988 gegründete deutsche Ableger „Lettre International“ besteht aber bis heute.4 Außerdem gibt es weitere Ausgaben und eigenverantwortliche Redaktionen in mehreren europäischen Städten.

Wer Schmidts Arbeit in Gänze verstehen möchte, sollte ein sehr gutes Französisch beherrschen. Die unzähligen, oftmals langen französischen Originalzitate erschweren den Lesefluss. Und spätestens bei einem italienischen Zitat hätte sich der Rezensent eine Übersetzung gewünscht. Ansonsten verrät Schmidts Schreibstil seine journalistische Erfahrung. Legere Formulierungen – wie „Alfred Kurella, der Hohepriester des Sozialistischen Realismus“ (S. 88), „eine Art Gulaschsozialismus nach tschechischer Art“ (S. 113), „das Pferd von hinten aufzäumen“ (S. 158) und ähnliche Ausdrücke – wirken bisweilen befremdlich.

Gleichwohl: Roman Léandre Schmidt hat ein originelles und aktuelles Buch geschrieben. Facetten- und quellenreich dokumentiert er die Geschichte von „Lettre internationale“. Der Bezug auf die intellektuellengeschichtlichen Wurzeln der Zeitschrift erweist sich als lohnend, und die Darstellung des „Lettre“-Netzwerks gewährt einen neuen Blick auf die Praxis eines europäischen, Ost und West verbindenden Kommunikationsraumes. Die Erkenntnisse zur weitgehend unerforschten Geschichte von „L 76“ können als Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen dienen. Schmidt legt nicht nur einen spannenden Beitrag zur Zeitschriften- und Intellektuellenforschung vor, seine Arbeit liefert auch Anregungen zu aktuellen transnationalen Dialogen, ohne dass er darauf allerdings näher eingeht. Ein Ausblick, eine Perspektive für ähnliche Projekte wäre – angesichts der politischen Situation in Europa und den veränderten Möglichkeiten durch die Digitalisierung – naheliegend und wünschenswert gewesen. Wie könnte eine „République des Lettres“ 2.0 aussehen?5

Anmerkungen:
1 Als Überblick siehe etwa Daniel Morat, Intellektuelle und Intellektuellengeschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 20.11.2011,
http://www.docupedia.de/zg/morat_intellektuellengeschichte_v1_de_2011 (02.02.2018).
2 Alexander Gallus, Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 28.
3 Als aktuelle Beispiele vgl. etwa Franziska Meifort, Ralf Dahrendorf. Eine Biographie, München 2017, und aus der Feder der französischen Dissertationsbetreuerin Schmidts: Emmanuelle Loyer, Lévi-Strauss. Eine Biographie, Berlin 2017.
4http://www.lettre.de (02.02.2018).
5 Verdienstvoll ist in dieser Hinsicht das Online-Metamagazin „Eurozine“, dem über 80 europäische Kulturzeitschriften angehören: http://www.eurozine.com (02.02.2018).