Cover
Titel
Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne


Autor(en)
Goltermann, Svenja
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: S. Fischer
Anzahl Seiten
333 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabella von Treskow, Institut für Romanistik, Universität Regensburg

Das Wort „Opfer“ zählt zweifellos zu den Skandalbegriffen heutiger Debatten. Auf der öffentlichen Bühne ist es kaum noch neutral zu benutzen. Das Unbehagen an einigen Formen seines Gebrauchs ist groß und die Konfusionen zwischen normativem und deskriptivem Gehalt verlangen nach Analyse. Ein Beitrag dazu ist Svenja Goltermanns Rekonstruktion der Bedingungen für den Funktionswandel in der neueren und neuesten Geschichte. Seit einiger Zeit interessiert das Thema die Geschichtswissenschaft bzw. auch ihre Nachbarfächer, oft mit Bezug zu Fragen des Gedenkens, der Erinnerung oder der Geschichtspolitik. Goltermann greift für ihr Buch auf die Rechtswissenschaft und, damit verbunden, auf die Medizin aus, sodass Entwicklungen im Kontext internationaler Verhandlungen, Völkerrecht und Kriegsvölkerrecht, dazu die Aktivität des Internationalen Roten Kreuzes und neue Optionen materieller Entschädigung die Schwerpunkte bilden.

Die Ausgangsfrage lautet, wie es zur aktuellen Aufmerksamkeit für Opfer von Gewalt kam, wie es „für Menschen und Gruppen überhaupt plausibel, vielleicht sogar nötig wurde, sich als Opfer zu beschreiben“ (S. 17). Die Abhandlung will zeigen, dass die Funktion des Opferbegriffs vor allem durch interessierte Kräfte in Vereinbarungen zum Status von Soldaten und Kriegsgeschädigten modifiziert wurde. Die Startlinie zieht die Autorin um 1800. Vor Augen stehen damit Bürokratisierung, Industrialisierung und Militarismus. Vorläufiger Endpunkt ist die Entstehung des Traumakonzepts der 1980er-Jahre, das es laut Goltermann erst ermöglichte, „die Position des unschuldigen Opfers einzunehmen“ (S. 237). Sie schreitet auf Pfaden weiter, welche sie in ihrem früheren Buch „Die Gesellschaft der Überlebenden“ bereits begangen hat, etwa zur Rolle der Psychiatrie, dem Wahrnehmungswandel in politischen Kontexten, Deutungsstrategien und Macht.1 Das Arbeiten mit Foucault’schen Parametern ist für das aktuelle Buch konstitutiv: Diskursanalytisch operierend und auf Machtkonstellationen achtend sucht die Autorin nach der „Genealogie des passiven Kriegsopfers“ (S. 23). Eine Leitthese ist, dass „die Figur des Kriegsopfers für Funktions- und Wahrnehmungsweisen des Opfers in der Moderne exemplarisch“ sei (S. 22) und „die heutige Aufmerksamkeit gegenüber Opfern von Gewalt, auch die Selbstbeschreibung als Opfer, an die Produktion, Verbreitung und Durchsetzung von Wissen gebunden war und ist, darunter vor allem ein juristisches und medizinisches Wissen“ (S. 23).

Auch die Vorstellung, dass es „vier paradigmatische Umbrüche“ waren, die die Voraussetzungen für die semantischen Transformationen schufen (S. 24), orientiert sich an Foucault, hier an seiner Idee epistemischer Umbruchssituationen. Die Gliederung des Buches folgt diesem Prinzip. Die vier Kapitel behandeln jeweils eine Umbruchssituation bzw. längere Umbruchsphase: den Wandel in der Erfassung und Identifizierung von Gefallenen (1800–1914), die Bemühungen um eine völkerrechtliche Einhegung des Krieges (1864–1977), das neue Verhältnis von Kriegsfolgen und materieller Entschädigung (1914–1945) sowie schließlich die Etablierung einer spezifischen Trauma-Konzeption (1945–2015). In diesen Etappen synthetisiert Goltermann wichtige Ergebnisse zahlreicher anderer Studien. Die Einleitung bereitet schlüssig auf die Untersuchungsschnitte vor. Überraschend sind deren letzte Worte, dass „die Geschichte des Opfers mit humanitären Anliegen verbunden war“, aber „ebenso eine Geschichte der Gewaltlegitimation“ (S. 25) sei.

Folgt man der Argumentation, treten anstelle von Umbrüchen eher kontinuierliche Veränderungen zutage. Ein wichtiger Schub in der komplexen Entwicklung geschah um 1900 während einer Phase, in der Gewalt gegen unbeteiligte Zivilpersonen als solche gerechtfertigt werden musste. Sucht man also nach der in der Einleitung indizierten Gewaltlegitimation, stößt man zugleich auf Gewaltdelegitimation im Kontext der kolonialen Herrschaft und der Ambivalenzen von Zivilisierungs- bzw. Zivilistendiskursen. Goltermann zeigt, dass trotz eines lange unerschütterlichen Rassismus die Vorstellungen von legitimer Gewalt in eine andere Richtung drifteten – im Kontrast zu gängigen Praktiken der Kolonialmächte und besonders der militärischen Führung. Kritische Stimmen fanden in der europäischen Öffentlichkeit mehr und mehr Gehör. Während des Burenkrieges betrachtete es die britische Armeeführung als legitim, da notwendig, Gewalt auch gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen (S. 107), die dezidiert nicht als neutral angesehen wurde. Währenddessen befürworteten in Europa lebende „Kritikerinnen und Kritiker“ zwar noch das „Abbrennen von Farmen“, empörten sich jedoch „über die harsche Behandlung der burischen Frauen und Kinder in den ,concentration camps‘“ (S. 109). Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kriegsrechts bzw. humanitären Völkerrechts sowie sozialer Anschauungen und zudem der Positionen des Roten Kreuzes wurde nicht zufällig in der Zeit der Haager Friedenskonferenzen „Opfer“ zum rhetorischen Kampfbegriff – besonders durch die Kolonialkonflikte außerhalb Europas (S. 114). Zunächst diente der Begriff weniger dazu, die Humanität der Betroffenen zu wahren, d.h. hilflose Frauen und Kinder effektiv zu schützen, als vielmehr dazu, den Gegner geschickt zu diffamieren. Das Recht wurde dabei, wie Goltermann schreibt, zum Ausgangspunkt der Propaganda für die jeweils eigene Seite (ebd.).

Die Vorstellung, auch für Soldaten die Leiden des Krieges mildern zu sollen (Haager Abkommen, 1907), und die neue Zivilistendefinition waren folgenreich: Die Bevölkerung wurde im Kriegsfall nicht mehr als bedrohlich, als Feind, sondern als ungerechtfertigt unter „kriegerischer Gewalt“ (S. 115) leidend aufgefasst. Die Opfervorstellung übernahm Elemente des Schwachen und Weiblichen, d.h. auch einer traditionellen Idee des Weiblichen als schwächer und daher wertloser. Es wundert nicht, dass das herrschende Männlichkeitsbild die im Ersten Weltkrieg leidenden Soldaten daran hinderte, sich angesichts dieser Konnotationen als Opfer zu bezeichnen. Zwar wurde ihr Schicksal laut beklagt, aber die Kategorie „Opfer“ galt als inadäquat.

Neue Kriegstechniken, Luftangriffe, Bürgerkriegssituationen und Massensterben im Ersten Weltkrieg führten laut Goltermann gleichwohl zur Durchsetzung dieser Vokabel, wofür Bestandssicherung und Gewinnstreben die treibenden Kräfte waren: Es ging darum, „bei Kriegsende einen möglichst vorteilhaften Friedensschluss aushandeln zu können“ (S. 125). Die Studie zieht eine Linie vom Umgang mit Gefallenen, von den anonymen Toten etwa der Schlacht von Waterloo über den Krimkrieg hin zum deutsch-französischen Krieg 1870/71, von den verschollenen zu den rückkehrenden Soldaten und ihren Familien, von der Frage der Bestattung und der Gräber zur Heilung von Kriegsverletzungen sowie einem Ausgleich für körperliche Schäden und wirtschaftliche Einbußen. Veteranenverbände meldeten sich zu Wort, das Internationale Rote Kreuz erhob Deutungsansprüche. Goltermann arbeitet heraus, wann eine Initiative erfolgreich verlief und wann nicht – und mit welchen Begründungen bestimmte Ziele erreicht werden konnten. Politisches Taktieren trieb die Dinge mehr voran als generelle Überlegungen zur Ursache und Wirkung von Kriegsgewalt.

Ähnliche Muster zeigen sich nach dem Zweiten Weltkrieg. 1949 wurde der besondere Schutz von Verwundeten, Kranken und Zivilisten als Opfern bewaffneter Konflikte beschlossen. Jetzt standen Verwundung und Krankheit zur Diskussion. Medizin und Psychologie brauchten lange, um die Tragweite der psychischen Verletzungen durch Krieg, Verfolgung und KZ-Haft zu erkennen. Goltermann schildert die rasante Transformation der Trauma-Diagnosen überzeugend und nimmt die inflationäre Verwendung des Trauma-Begriffs scharf ins Visier. Die Frage von Renten und Entschädigungen für NS-Verfolgte diskutiert und historisiert sie in knapper, teilweise etwas zu knapper Form.

Die postheroische Selbstverständlichkeit, mit der heute unter „Opfer“ ein Mensch verstanden wird, der ungerechtfertigterweise Schweres erdulden musste (victima), und nicht die mit Verzicht verbundene Hingabe für eine Sache oder zugunsten eines Anderen (sacrificium), fließt implizit in die These des Buches ein. Dass das Opfer als „Chiffre für illegitime Gewalt“ (S. 236) nur ein Aspekt des Bedeutungsspektrums ist, wie darüber hinaus die religiöse Dimension semantisch hineinspielt und welche Probleme die Doppeldeutigkeit des Begriffs im Deutschen schafft, wird nicht substantiell erörtert, selbst dann nicht, wenn die Aufmerksamkeit auf „Opferbereitschaft“ (S. 69), auf „Kriegsopfer“ (S. 157) als „erbrachte Opfer“ im Zusammenhang mit der NS-Kriegsverherrlichung oder das Selbstverständnis der Anti-Apartheid-Kämpfer fällt (S. 228f.). Eine Diskussion der Wortwahlmöglichkeiten (sacrificium / victima) zum Beispiel im Englischen und in den romanischen Sprachen fehlt auch dort, wo es um „die Figur des heldenhaften Opfers“ in Italien und Frankreich geht (S. 168). Dass die etymologischen Hintergründe und die Unterscheidung der Opferbegriffe die Forschungsrezeption steuern müssten, schlägt sich nicht argumentativ nieder. Zudem wird nicht systematisch nach Parallelbegriffen gesucht (z.B. „martyr“).

Dies ist vielleicht der Stringenz geschuldet, mit der das Buch überzeugt. Sie mag öfters zu kurzschlüssigen Formulierungen führen, wenn es pointiert sein soll. Auch integriert der Band weniger als „Die Gesellschaft der Überlebenden“ erkenntnisleitend Erfahrungsgeschichte, Film und Literatur. Die starke Bündelung der Argumente um den Soldatentod, die Kolonialkriege und den Ersten Weltkrieg wirkt leicht schlagseitig, die Verbindung der Erkenntnisse zu Trauma und Traumafolgestörungen bleibt wiederum zu lose, teilweise prekär. Glänzend ist dagegen, wie die Autorin die Entwicklung von Vereinbarungen und Normen des Rechts, von Kriminologie und Viktimologie, Administration und Versicherungswesen für die Darstellung des Begriffswandels miteinander verflicht. Stark sind auch die Passagen, in denen Goltermann zeigt, wie manche Gruppen ausdrücklich danach strebten, nicht als Opfer bezeichnet zu werden, um den Eindruck eigener Schwäche zu verhindern. Die Legimitationsstrategien vor allem im Rechtsbereich werden schlüssig freigelegt. Wer optimistisch dachte, dass sich der Aufstieg des Opferbegriffs wesentlich einer steigenden Sensibilität für Ungerechtigkeit verdanke, wird eines anderen belehrt. Der Wert ist ein symbolischer – in Systemen von Leistung und Gegenleistung. Die Aufwertung des „Opfers“ ging weniger von den Betroffenen und ihrem Selbstverständnis als von politisch agierenden Kräften aus; die Aura des Begriffs beruht mehr auf Kompensationsgeschäften als auf Einsicht in die schützenswerte Verletzlichkeit des Individuums. Svenja Goltermanns konzentrierte Engführung auf den Gebrauch des Opferbegriffs im genannten interdisziplinären Rahmen ermöglicht gerade als Gegenpol gängiger Annahmen einen richtunggebenden Überblick, der die gesuchte Wahrnehmungsverschiebung plausibel konkretisiert.

Anmerkung:
1 Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2009.