Cover
Titel
Otto Weidt. Anarchist und »Gerechter unter den Völkern«


Autor(en)
Kain, Robert
Reihe
Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand / Reihe A: Analysen und Darstellungen 10
Anzahl Seiten
652 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carolin Kosuch, Deutsches Historisches Institut Rom

Robert Kain untersucht in seiner detailliert recherchierten Studie Leben und Wirken des im Erwachsenenalter weitgehend erblindeten Bürstenfabrikanten Otto Weidt (1883−1947). Den Fokus legt er auf die anarchistischen Aktivitäten des jungen Weidt, besonders aber auf dessen späteres Netzwerk und sein Eintreten für Jüdinnen und Juden während der NS-Zeit. Die Arbeit – hervorgegangen aus einer an der Humboldt-Universität Berlin entstandenen Dissertation – besteht aus acht Hauptkapiteln, die im Wesentlichen Weidts Lebensstationen folgen. Bildmaterial sowie ein umfänglicher Anhang, der neben Literatur- und Quellenverzeichnissen auch Register und biografische Notizen der in Weidts Blindenwerkstatt beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter enthält, runden das hochwertig gefertigte Buch ab.

Der erste Teil der Arbeit ist Otto Weidts Jugendbiografie, seinem familiären Hintergrund und seinen bis in die Jahre vor den Ersten Weltkrieg reichenden Aktivitäten für den in Fraktionen zersplitterten deutschen Arbeiteranarchismus gewidmet. Weidts Wirken in der anarchistischen Bewegung des Kaiserreiches, ebenso wie seine Verbindungen und Einflussnahmen sind bisher wenig bekannt. Der Autor hat eine erhebliche Rechercheleistung erbracht, sie zu erhellen und trägt damit substanziell zum Verständnis der vielgestaltigen deutschen Anarchismen bei. Nach der Lektüre der Studie stellte sich der Rezensentin allerdings die Frage nach der tatsächlichen Relevanz dieser ausführlich geschilderten Lebensphase Weidts für sein späteres Engagement für verfolgte Jüdinnen und Juden. War, wie der Autor es einleitend als These formuliert und im ausgehend Kapitel bejaht, die anarchistische Betätigung Weidts hierfür tatsächlich entscheidend (S. 17, 520)? Schließlich baute Weidt, der mit dem organisierten Anarchismus bereits um 1910 gebrochen hatte, bei der Unterstützung der jüdischen Belegschaft seiner Blindenwerkstatt nur in einem Fall auf einen Bekannten aus anarchistischen Tagen. Belastbare Kontinuitäten scheinen ansonsten vorrangig in der noch kurz vor seinem Tod geäußerten Selbstbeschreibung als „individualistischer Anarchist“ (S. 520) bestanden zu haben, wobei zu diskutieren wäre, welche politischen Inhalte eine solche Selbstwahrnehmung transportierte. Dass die anarchistische Idee die Begriffe „Vaterland“ und „Nation“ nicht gekannt habe (S. 520) 1 und dass Anarchisten die politische Macht zerstören wollten (S. 47) 2 sind demgegenüber generalisierende Verkürzungen. Sie sind nur bedingt geeignet, eine etwaig aus dem Anarchismus herrührende libertäre, antimilitaristische oder systemkritische Grundhaltung Weidts ohne Weiteres mit seinem Einsatz als Rettungswiderständler der NS-Zeit zu verbinden, selbst wenn sich dieser Schluss anzubieten scheint. Welche Prägungen und Einflüsse einen Charakter wie Weidt im Einzelnen ausmachten und motivierten und auf welche Weise das „widerständige Selbst“ auf das „anarchistische Selbst“ bezogen war, bleibt daher – auch mangels konsultierbarer autobiografischer Zeugnisse – offen.

Die folgenden Kapitel zeichnen wiederum profund recherchiert und auch Hintergrundinformationen zur Lebens- und Arbeitssituation Erblindeter in der Weimarer Republik liefernd Weidts Weg ins Blindenhandwerk und in die Selbstständigkeit als Bürstenfabrikant nach. Dieser berufliche Neuanfang war nötig geworden, nachdem Weidt sein Augenlicht größtenteils eingebüßt hatte. Gemeinsam mit seinem langjährigen, der KPD nahestehenden Bekannten Gustav Kremmert gründete er einen Betrieb, in dem er mit Sehbehinderten und Erblindeten zusammenarbeitete. Systematisch bauten die beiden das Unternehmen aus und konnten sich überdies zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wehrwichtige Aufträge und Materialzuweisungen sichern. Um die eingehenden Großaufträge abzuwickeln, beschäftigte Weidt jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und bot Berufsumschulungskurse für Sehbehinderte an, die er anschließend ebenfalls in seiner Werkstatt anstellte. Wenig später nahm er zusätzlich auch sehende Jüdinnen und Juden unter Vertrag. Für seine Angestellten und deren Familien bzw. ihn um Hilfe ersuchende Verfolgte trat Weidt auf vielfältige Weise ein: Sein Engagement reichte vom respektvollen Umgang mit den Entrechteten und Diffamierten über ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln, die Versendung von zahlreichen Lebensmittelpaketen an seine deportierten Beschäftigten ins KZ Theresienstadt bis hin zur Fluchthilfe und Unterbringung der in die Illegalität Abgetauchten in wechselnden Verstecken. Auch gab er Informationen über die Zustände in Auschwitz weiter. Ebendahin war er selbst auf der Suche nach seiner deportierten Sekretärin im Rahmen eines zu diesem Zweck fingierten Vertreterbesuches gereist.

Überzeugend zeigt Kain in seiner Darstellung auf, dass Weidt zwar als bis in Polizeikreise hinein gut vernetzter, charismatischer Fabrikant mit einigen finanziellen Möglichkeiten durchaus individuell handelte, dennoch aber ohne die Hilfe eines ausgedehnten Unterstützerkreises (bestehend etwa aus der Prostituierten Hedwig Porschütz, dem Lieferanten für Büromaterial Paul Happach, mehreren Pfarrern, oder aber dem jüdischen Arztehepaar Held) schnell an seine Grenzen gestoßen wäre. Der Autor schildert das möglichst unauffällige Zusammenwirken dieses um Weidt zentrierten Netzwerkes, geht auf die Arbeitsteilung und die aus Sicherheitsgründen nötige Informationsbegrenzung innerhalb dieses Kreises ein und rekonstruiert in umfassender Quellenarbeit die Art des Engagements der einzelnen Glieder des Rettungswiderstandes. Auch nach einem Verrat an die Gestapo und einer folgenden Razzia ließ dieser Einsatz nicht nach. Das Buch greift zudem Biografisches bzw. das Schicksal der von Weidt und seinen Helferinnen und Helfern unterstützten Jüdinnen und Juden im Einzelnen auf. Weidt setzte seine Bemühungen bis zu seinem Tod 1947 fort, indem er etwa Renovierungsarbeiten jüdischer Einrichtungen in Berlin finanzierte. Für seinen Einsatz wurde er 1971 posthum vom Staat Israel mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet.

Robert Kain leistet mit dieser Arbeit eine eingehende Rekonstruktion von Leben und Werk Otto Weidts. Ihm gelingt es, Forschungslücken zu schließen, auch bisher wenig gewürdigte Helferinnen und Helfer des Netzwerks ausfindig zu machen, Kontexte zu erhellen und weitreichende Hintergrundinformationen zu liefern. Dabei wäre stellenweise eine stärkere Syntheseleistung sowie eine auch theoretisch an die Erkenntnisse der Biografieforschung rückgebundene Reflexion des reichen Quellenmaterials denkbar und wünschenswert gewesen. Eine solche systematisierende und deutende Position macht das Buch erst auf den letzten Seiten auf. Die zweifelsohne umfassend geleistete forscherische Arbeit des Autors und der Erkenntnisgewinn durch sein Buch bleiben von diesen Eindrücken freilich unberührt.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu etwa Davide Turcato, Nations without Borders: Anarchists and National Identity, in: Constance Bantman / Bert Altena (Hrsg.), Reassessing the Transnational Turn. Scales of Analysis in Anarchist and Syndicalist Studies, New York 2015, S. 43−61. Vgl. weiter auch Lucien van der Walt, Global Anarchism and Syndicalism: Theory, History, Resistance, in: Anarchist Studies 24 (2016), S. 85−106.
2 Das Verhältnis der Anarchismen bzw. von Anarchistinnen und Anarchisten zu (politischen) Machtfragen ist äußerst vielschichtig und häufig paradox. Als Beispiel sei nur die Übernahme von politischen Führungspositionen durch bekennende Anarchisten während der kurzen Zeit der Bayerischen Räterepublik im April 1919 genannt, die sie im Ansinnen bekleideten, ihr anarchistisches Credo gesamtgesellschaftlich zu implementieren und durchzusetzen. Vgl. hierzu weiterführend auch die Arbeit von Paul McLaughlin, Anarchism and Authority. A Philosophical Introduction to Classical Anarchism, Aldershot 2007.