M. A. Visceglia: La nobiltà romana

Cover
Titel
La nobiltà romana in età moderna. Profili istituzionali e pratiche sociali


Herausgeber
Visceglia, Maria Antonietta
Erschienen
Rom 2001: Carocci
Anzahl Seiten
473 S.
Preis
€ 36,30
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Buechel, Département d'histoire médiévale et moderne, Université de Fribourg

Eliten-Forschung geriet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oftmals in den Verdacht der anbiedernden Verherrlichung der Mächtigen. Zudem schien sie im Bereich der Geschichtswissenschaft auch einem veralteten Konzept der Erforschung von Haupt- und Staatsaktionen anzuhängen. Neue Denkansätze trugen aber dazu bei, diesen Bereich wieder attraktiv zu machen und den Blick auf die führenden Schichten einer Gesellschaft als wesentlich für das vertiefte Verständnis historischer Zusammenhänge zu akzeptieren. Wegweisende theoretische Grundlagen hat insbesondere für die Romforschung Wolfgang Reinhard formuliert, zuerst in einer Schrift über Verflechtung und Klientelstrukturen, 1 dann in seinen Überlegungen zur politischen Mikrogeschichte der Kurie. 2 Dabei wird, grob gesagt, für die Frühneuzeit postuliert, dass die große Geschichte der politischen Kampagnen und Operationen, die Makropolitik, erst verständlich wird vor dem Hintergrund der klientelären Vernetzung und Verflechtung der jeweiligen Führungsgruppen - eben der Mikropolitik. Dieses an mehreren Beispielen einleuchtend exemplifizierte Modell wirkte außergewöhnlich belebend auf die gesamte Romforschung und wurde nicht nur in den Publikationen aufgenommen, die unter Reinhards Leitung entstanden, sondern hat auch über die Grenzen hinweg bei der italienischsprachigen Forschung Beachtung gefunden, wobei zu unterstreichen ist, dass diese auch aufgrund eigener Traditionsstränge in entsprechender Richtung tätig geworden war. In letzter Zeit hat sich besonders Maria Antonietta Visceglia der römischen Elitenforschung angenommen und mit einem Kreis von KollegInnen und SchülerInnen eine Reihe von wegweisenden Publikationen vorgelegt. 3

In dieser Tradition steht auch der hier anzuzeigende Band. Schon der schlichte Titel weist auf Themenfeld und Erkenntnisinteressen der Publikation hin, wobei diese beiden Punkte im Vorwort von der Herausgeberin detailliert umrissen und ausgeleuchtet werden. Die Einleitung geht darüber hinaus kurz auf Charakteristika der römischen Adelsgesellschaft ein und gibt eine Vorschau auf die einzelnen Artikel. Dabei werden jedoch keinerlei Anhaltspunkte für thematische Leit-Prinzipien gegeben, die eine Ordnung der einzelnen Abhandlungen erlauben würden. Eine Binnengliederung der einzelnen Aufsätze ist somit schwer auszumachen und scheint dem Buch auch nicht zugrunde zu liegen. Die zwölf Beiträge beleuchten folglich verschiedenste Facetten des römischen Adels, ohne miteinander verzahnt oder zwingend auf ähnliche Fragestellungen hin ausgerichtet zu sein.

Der erste Artikel von Alessandra Camerano bietet einen Überblick über die kapitolinischen Eliten, also das Stadtpatriziat, das sozial unterhalb des Lehen besitzenden Baronaladels des Umlands in einer Sekundärposition anzusiedeln ist. Zwar ist die quantitative Analyse der Ämterpräsenz in ausgewählten Zeitabschnitten methodisch etwas wenig hinterfragt, sie gibt aber einen guten Einblick in Konstanten und Wandel dieser aristokratischen Schicht und führt zu der These, dass vom 15. zum 16. Jahrhundert drei Nuklei auszumachen seien: ein zentraler, sich kaum wandelnder Kernbestand an wenigen Familien, ein weiter gefasster Bereich von Geschlechtern, welche hin und wieder in die Ämter gelangen und ein breiterer dritter Kreis mit nur kurz in der Herrschaft präsenten Sippen. Dieser Gesamtschau folgt ein Artikel von Benedetta Borello, der sich zum Ziel setzt, die Integration der aus Gubbio stammenden Familie Pamphili in das römische Stadtpatriziat im 16. Jahrhundert zu untersuchen. Leider werden in den sich mehrfach wiederholenden Ausführungen nur einige Punkte im ganzen Ablauf herausgegriffen und eher oberflächlich verortet, ohne eine tiefer gehende Klientelanalyse und -entwicklung vorzunehmen oder durch Quellen belegbare Sozialstrategien aufzuzeigen. Zwar wird dauernd von einer Heiratspolitik geraunt, doch mit welchen Motiven genau und unter welchen Umständen die ihnen zugrunde liegenden Ehen geschlossen wurden, vor allem aber: inwieweit und wie diese für die einzelnen Familienmitglieder der Familie Pamphili karrierewirksam wurden, wird dem Leser nicht aufgezeigt. So bleibt der Ertrag dieser Untersuchung relativ dürftig, gerade auch im Vergleich zu schon bestehenden luziden Analysen von familiären Aufstiegsstrategien. 4

Dem Stadtpatriziat geht unter anderem auch Giampiero Brunellis Beitrag nach. Dabei steht die Beziehung des römischen Adels zum Waffendienst im Vordergrund. Brunelli zeigt – beeindruckend in Detailgenauigkeit wie auch in der Vielzahl der analysierten Familien –, wie die Angehörigen des Baronaladels gegen Ende des 16. Jahrhunderts immer mehr vom militärischen Dienst für den Papst Abstand nahmen, weil sie nicht mehr die gewünschten Kommandoposten erhielten und sich nicht in Strukturen einreihen wollten, in denen ihnen Vertreter aus dem Stadtpatriziat oder den päpstlichen Nepotenfamilien als Kommandierende vor der Nase standen. Die mangelnde Flexibilität des Kirchenstaates gegenüber den Wünschen des prinzipiell zu Waffendiensten bereiten Hochadels und die daraus resultierende verpasste Integration der sozialen Spitzenvertreter in den staatlichen Apparat macht Brunelli überzeugend als gewichtiges Manko des römischen Staatswesens aus. Ebenso überzeugend fällt der Aufsatz von Nicoletta Bazano über die politische Sprache im Briefverkehr Marco Antonio Colonnas aus. Nach eher disparat erscheinenden Ausführungen und vielen Beispielen wird der Leser hier mit einem fulminanten Schlusskapitel belohnt, in dem unter anderem darauf aufmerksam gemacht wird, dass die starren Regeln der ersten brieflichen Kontakte sich im Laufe der Zeit durchaus wandeln konnten und daraus großer Erkenntnisgewinn geschöpft werden kann. Auf ähnlich exemplarische Weise gewinnt Diane H. Bodart aus der Analyse von königlichen Porträts in den Bildersammlungen römischer Adliger bedeutende Erkenntnisse. Am Beispiel der Colonna und vor allem der Barberini zeigt sie eindrücklich, wie die Zurschaustellung von Mitgliedern europäischer Monarchenfamilien mit der politischen Ausrichtung der „Aussteller“ einher ging. Ebenfalls mit einem Thema, in dem sich Kunst und Politik überschneiden, beschäftigt sich Alfredo Cirinei, der den Kriminalprozess gegen den Maler Giuseppe Cesari, genannt Cavalier d’Arpino, von 1607 untersucht und aufzeigt, wie hier im Hintergrund ein Konflikt unter Kardinalnepoten ablief.

Exemplarisch für die Möglichkeiten, die mikropolitische Untersuchungen eröffnen, ist der Beitrag von Marina d’Amelia, welche die Nepotenrolle der Schwägerin Innozenz X., Olimpia Maidalchinis, neu analysiert. Der bisher oftmals moralisch interpretierte Konflikt der wegen ihres Einflusses „Papessa“ genannten Frau mit ihrem Sohn, dem Kardinalnepoten Camillo Pamphili, wird minuziös und überzeugend als politische Differenz zwischen den beiden Protagonisten decouvriert. Auch die Abhandlung von Maria Antonietta Visceglia selbst, die ein Dokument ins Zentrum stellt, in dem der römischen Baronalfamilie Caetani dargelegt wird, warum sie nicht ihre Güter im Kirchenstaat verkaufen und ins Königreich Neapel übersiedeln sollte, ist ansprechend ausgefallen, wenn auch etwas langatmig auf das Hauptstück hingeleitet wird. Problematischer hingegen ist der Beitrag von Sergio Raimondo, der die Kreditnetze der Colonna im 16. und 17. Jahrhundert aufzuzeigen versucht. Der Beitrag listet detailliert die finanziellen (Schuld-) Beziehungen der Colonna auf, ohne daraus Folgerungen von weiterreichender Relevanz zu ziehen. Wenn man dazu noch in Rechnung stellt, dass Kernelemente seiner Forschungen schon bekannt sind, 5 fällt der Ertrag dieser Lektüre eher gering aus. Solide in ihrer Darstellung, aber in den Ergebnissen nicht eben innovativ fallen die Beiträge von Alessandro Serio über die Rolle Pompeo Colonnas bei der pax romana von 1511 und von Bertrand Forclaz über die Borghese als Herren auf ihren Feudalgütern aus. Der Hauptbeitrag von David Armando und Adriano Ruggiero schließlich besteht in einer nützlichen, in ihrer Detailliertheit einzigartigen Karte der Feudalgebiete im Latium Ende des 18. Jahrhunderts; der dazugehörige Artikel ist vor allem erklärend und wertet die Ergebnisse parallel auf statistischer Ebene aus.

Wie bei fast jedem Sammelband sind auch im vorliegenden die Ergebnisse recht unterschiedlich ausgefallen. Insgesamt liegt jedoch ein gelungener Band mit anregenden Untersuchungen über die römische Elite vor. En passant zeigt sich zudem anhand von vielen Beiträgen, dass der römische Adel in all seinen Handlungen mehr als nur lokale Begebenheiten zu berücksichtigen hatte. So wird die Internationalität und europapolitische Verstrickung der Kurie etwa bis in die Ausgestaltung der Stadtpalazzi spürbar.

Anmerkungen:
1 Reinhard, Wolfgang, Freunde und Kreaturen. ”Verflechtung” als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600 (Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg 14), München 1979.
2 Reinhard, Wolfgang, Amici e Creature. Politische Mikrogeschichte der römischen Kurie im 17. Jahrhundert, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 76 (1996), S. 309-333.
3 Unter anderem als Hg., Signori, patrizi, cavalieri in Italia centro-meridionale nell'Eta moderna ( Biblioteca di cultura Moderna 1022); Cérémonial et rituel à Rome (XVIe-XIXe siècle Roma 1992), Rome 1997; (Collection de l’École francaise de Rome 231, zusammen mit Catherine Brice; La Corte di Roma tra Cinque e Seicento. “Teatro” della politica europea, (Biblioteca del Cinquecento 84, zusammen mit Gianvittorio Signorotto, Roma 1998.
4 Genannt seien nur: Fosi, Irene, All’ombra dei Barberini. Fedeltà e servizio nella Roma barocca, Rom 1997; Karsten, Arne, Kardinal Bernardino Spada. Eine Karriere im barocken Rom, Göttingen 2001; Reinhard, Wolfgang, Ämterlaufbahn und Familienstatus. Der Aufstieg des Hauses Borghese 1536-1621, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 53 (1974), S. 328-427.
5 Etwa: Raimondo, Sergio, Il prestigo dei debiti. La struttura patrimoniale dei Colonna di Paliano alla fine del XVI secolo (1596-1606), in: Archivio della società romana di storia patria 120 (1997), S. 65-165.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Land
Sprache der Rezension