H. Mommsen: Der Mythos von der Modernität

Titel
Der Mythos von der Modernität. Zur Entwicklung der Rüstungsindustrie im Dritten Reich


Autor(en)
Mommsen, Hans
Reihe
Stuttgarter Vorträge zur Zeitgeschichte 3
Erschienen
Anzahl Seiten
72 S.
Preis
€ 7,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Fg. Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Universitaet Hohenheim

Dieses Büchlein ist ein Kuriosum: es tritt gegen eine These an, die erstens nie mehr als zaghaft angedeutet und zweitens dennoch schon vor einem Jahrzehnt widerlegt wurde. Mehr noch, es konzentriert sich drittens in der Argumentation auf einen Themenbereich, der mit der zu widerlegenden These wenig zu tun hat. Immerhin ist es viertens anregend, weil es den Stand der Forschung in Frage stellt.

Eines der großen Themen Hans Mommsens ist in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten die kritische Auseinandersetzung mit der These gewesen, daß der Nationalsozialismus in vielen Lebensbereichen modernisierend gewirkt habe, teils intentional, teils unbeabsichtigt. "Diese Interpretation", so Mommsen, "die dessen atavistische Züge marginalisiert und ihm insbesondere im wirtschaftlichen Bereich ausgeprägt fortschrittliche Wirkungen zuschreibt, läßt das NS-Regime als notwendige Zwischenstufe innerhalb des Modernisierungsprozesses im 20. Jahrhundert erscheinen, ohne die der wirtschaftliche und soziale Aufstieg der Bundesrepublik nicht möglich gewesen wäre" (S. 5). Wer aber hätte das jemals mit Bezug auf die Wirtschaft behauptet? In den von Mommsen angegebenen Textstellen bei Dahrendorf und Schönbaum stehen nur sehr vorsichtige Äußerungen, die sich keinesfalls eignen, einen "Mythos von der Modernität" im wirtschaftlichen Bereich zu begründen. Die weitestgehende Aussage in dieser Richtung, die sich bei Zitelmann finden läßt, ist, daß sich Hitler "als bewußter Vollstrecker dieses Modernisierungsprozesses" (der die Industrialisierung mit einschließt) gesehen habe.1 Doch das subjektive Selbstverständnis eines Diktators ist wohl meilenwert entfernt von der Postulierung einer 'objektiv' "notwendigen Zwischenstufe".

Als Rainer Zitelmann die Öffentlichkeit 1989 mit seinem Buch "Hitler: Selbstverständnis eines Revolutionärs" provozierte, in dem er Hitlers Politik, insbesondere der Sozialpolitik, modernisierende Züge zubilligte, wurden seine Thesen eifrig diskutiert - von Politik- und Sozialhistorikern, kaum aber von Wirtschaftshistorikern, eben weil sich Zitelmann auf dieses Feld allenfalls nebensächlich begeben hatte. Nun, wo die Dämme sozusagen schon gebrochen waren, lag es allerdings in der Tat nahe, einmal zu untersuchen, ob nicht vielleicht die NS-Wirtschaftspolitik doch modernisierende Wirkung gehabt haben könnte. Dieser Frage ging Albrecht Ritschl in einem Aufsatz nach, der erstmals 1991 in einem Sammelband von Michael Prinz und Rainer Zitelmann veröffentlicht wurde.2 Die Antwort fiel eindeutig, und übrigens ganz im Sinne Mommsens aus: der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik lag ein malthusianisch geprägtes Weltbild zugrunde, das den zu befürchtenden systemimmanenten Zusammenbruch nur durch extensive Expansion abwenden zu können glaubte. Sie war weder in der Intention noch im Ergebnis modernisierend.

Mommsen kennt diesen Aufsatz und zitiert ihn. Warum dann noch das Büchlein? Im Unterschied zu Ritschl konzentriert sich Mommsen zur Widerlegung des "Mythos von der Modernität" auf die Entwicklung der Rüstungswirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Mommsen hat sich im Zusammenhang mit dem VW-Projekt 3 in den letzten Jahren ausgiebig mit der Kriegswirtschaft beschäftigt und glaubt offenbar, daß seine Ergebnisse als weitere Argumente gegen die angebliche Modernisierungsthese einsetzbar seien. Doch erscheint dies methodisch höchst fragwürdig: wenn man der Frage, ob der Nationalsozialismus in der Wirtschaft modernisierend gewesen sei oder sein wollte, eine Chance lassen will, so muß man sich fairerweise auf die dreißiger Jahre beschränken. Der von den Nazis nicht gewollte Abnutzungskrieg an zwei Fronten und das zunehmende Chaos der Planungsinstanzen gegen Kriegsende ist sicherlich nicht die Folie, vor der die Frage beantwortet werden kann. Oder anders gefragt: was wäre von einer Analyse des angelsächsischen Kapitalismus zu halten, die sich ausschließlich auf die US-amerikanische und britische Kriegswirtschaft konzentrieren würde? Insofern ist der argumentative Ansatz schon von der Konzeption her schlicht verfehlt.

Dennoch ist dieses Büchlein anregend, denn Mommsen tritt hier mit interessanten Thesen an die Öffentlichkeit, die im über 1.000 Seiten dicken VW-Buch nur versteckt waren. Zum einen hinterfragt Mommsen die "geschönten Erfolgsbilanzen" des Ministeriums Speer (S. 29), die einen enormen Anstieg der Rüstungsendfertigung zwischen 1942 und 1944 zeigen. Insinuiert Mommsen hier, daß die Zahlen gefälscht worden seien? Seine Begründung erfolgt eher indirekt, indem er das zunehmende Chaos beschreibt, daß letztlich aus dem Widerspruch zwischen Planungsanspruch und Verfügbarkeit von Ressourcen entsprang, und an dem die einander oft widersprechenden Planungsinstanzen nur herumdoktern konnten, ohne das Problem grundsätzlich lösen zu können. Das ist jedoch kein besonders starkes Argument angesichts der beeindruckenden Steigerung der Produktionszahlen. Interessanter ist der Verweis auf die Vernachlässigung anderer Industriebereiche und der Produktqualität. Doch war die Konsumgüterindustrie nicht Speers Job. Speer hätte wohl kaum bestritten, daß seine Erfolge in der Rüstungsendfertigung auf Kosten der rüstungsfernen Produktionszweige erfolgte. Was die Produktqualität angeht, so wäre in der Tat zu prüfen, ob die Speerschen Statistiken diese Effekte gebührend berücksichtigen. Insgesamt haben sich jedoch bislang die Nazi-Statistiken in der wirtschaftshistorischen Forschung ganz überwiegend als zuverlässig erwiesen - jedenfalls, wenn man ins Kleingedruckte schaut, wo manchmal nicht unerhebliche Änderungen von Definitionen versteckt sind. Schließlich entstammten die Leute, die sie herstellten einer sich als rational verstehenden Bürokratie, die akkurate Planungsgrundlagen zu erarbeiten hatte. Auch die Amerikaner übernahmen diese Zahlen in ihren weitgehenden Analysen nach dem Krieg im wesentlichen unkorrigiert. Die Fülle von Argumenten, die Richard Overy in dieser Tradition zur Erklärung des Speerschen "production miracle" zusammengetragen hat, läßt Mommsen, der das Buch zitiert, unkommentiert.4 Overy mag vielleicht ein bißchen zu sehr die Innensicht der Speerschen Planer übernommen haben, aber an der Tatsache eines beeindruckenden Produktionsanstiegs in der Rüstungsendfertigung, der mindestens zu großen Teilen Rationalisierungsfortschritten zu verdanken ist, läßt sich wohl kaum rütteln, jedenfalls nicht alleine mit der Einstellung "es kann nicht sein, was nicht sein darf".

Zum anderen unterstellt Mommsen "den Einbruch der Irrationalität des Regimes in die Rüstungswirtschaft des Dritten Reiches" (S. 32), auch dies eine These aus dem VW-Buch. Mommsen bringt eine Reihe von Beispielen, die in der Tat auf den ersten Blick irrational erscheinen mögen. Zu bedenken wäre aber, daß die Unternehmen eben nicht die gleichen Ziele verfolgten wie das Regime, was Mommsen an anderen Stellen völlig zu Recht betont. Was volkswirtschaftlich oder gesellschaftlich kontraproduktiv ist, muß deswegen nicht individuell irrational sein. Warum sollte ein Flugzeugunternehmen nicht an einem utopischen Bomberprojekt weiterbasteln, wenn es damit seine - vom Staat bezahlten - Entwicklungsingenieure halten konnte (vgl. S. 31f.)? Und das buchstäbliche Verheizen von Zwangsarbeitern in unsinnigen Untertageverlagerungen mag durchaus eine betriebswirtschaftliche 'Rationalität' gehabt haben, wenn auch eine zynische: Rettung des Sachkapitalbestands vor alliierten Luftangriffen (vgl. S. 26f.). Damit soll dieser These von Mommsen nicht grundsätzlich widersprochen werden. Doch sollte der im Grunde rhetorisch recht bequeme Verweis auf irrationales Verhalten nur 'argument of last resort' sein, wenn also alle anderen denkbaren Motive sorgfältig durchgeprüft und verworfen worden sind.5

Nicht gerade hilfreich ist in diesem Zusammenhang, daß Mommsen neben dem Buch von Neil Gregor über Daimler-Benz 6 zwar nicht nur, aber doch ganz überwiegend immer wieder das Volkswagenwerk als Beleg heranzieht. Das Volkswagenwerk war ein Staatsunternehmen, das bis mindestens zur konsequenten Umstellung auf lukrative Rüstungsprojekte 1942 ganz andere Unternehmensziele verfolgte als privatwirtschaftliche Unternehmen (vgl. auch S. 21). Als unternehmenshistorische Studien sind sowohl das Buch von Mommsen und Grieger als auch das von Gregor sehr gelungen. Nur inwieweit daraus induktiv auf die Kriegswirtschaft als Ganzes geschlossen werden kann, ist fraglich. Das Volkswagenwerk gar als "eine Art Mikrokosmos der deutschen Rüstungswirtschaft" (VW-Buch S. 40) darzustellen, ist äußerst gewagt und bedürfte einer sorgfältigen wirtschafts- oder komparativ-unternehmenshistorischen Analyse, die Mommsen auch in dem zu besprechenden Büchlein schuldig geblieben ist.

Abschließend bleibt zu fragen, was denn eigentlich unter Modernisierung im wirtschaftlichen Bereich zu verstehen ist. Mommsen liefert dafür bestenfalls sehr indirekte Antworten. Rationalisierung scheint erstaunlicherweise nicht dazuzugehören (S. 12), eher schon der Ausbau industrieller Kapazitäten (S. 41) und wohl auch der Weg zur marktwirtschaftlich organisierten Konsumgesellschaft (S. 42). Letzteres dürfte wohl noch am ehesten konsensfähig sein, doch zeigt sich hier wiederum, wie verfehlt es ist, dafür ausgerechnet die Kriegswirtschaft zu untersuchen.7 An der unscharfen inhaltlichen Bestimmung des Modernisierungsbegriffs zeigt sich einmal mehr, wie problematisch das ganze Konzept heute erscheinen muß. Modernisierung ist ein teleologisches Konzept; der die Vergangenheit analysierende Historiker oder Sozialwissenschaftler glaubt zu wissen, wohin die Reise geht. Im Planungsoptimismus der sechziger und siebziger Jahren mag man diese Illusion gehabt haben, auch in Bezug auf die Wirtschaft. Aber heute? In der Betriebswirtschaft würde Modernisierung heute als Anpassung des unternehmerischen Zielsystems an den shareholder value verstanden, doch wer weiß, was die Management-Gurus in zehn Jahren als modern propagieren? In Hinsicht auf die Wirtschaft(sgeschichte) ist das Modernisierungskonzept, das vor 20 oder 30 Jahren heuristischen Nutzen gehabt haben mag, hoffnungslos veraltet. Mommsen attackiert Windmühlen, die längst durch einen Komplex von Kraftwerken ersetzt worden sind, die in starker Konkurrenz auf unterschiedliche Energieträger setzen. Und niemand weiß, wohin die Reise gehen wird.

Anmerkungen:
1 Rainer Zitelmann: Hitler: Selbstverständnis eine Revolutionärs, 3. Aufl., Stuttgart 1990, S. 496.
2 Albrecht Ritschl: Die NS-Wirtschaftsideologie - Modernisierungsprogramm oder revolutionäre Utopie?, in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hgg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, 2. Aufl., Darmstadt 1994, S. 48-70.
3 Hans Mommsen/Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996.
4 Richard Overy: Rationalization and the 'Production Miracle' in Germany during the Second World War, in: ders.: War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994, S. 343-375.
5 Ein schönes Beispiel dafür ist der Aufsatz von Lutz Budraß/Manfred Grieger: Die Moral der Effizienz. Die Beschäftigung von KZ-Häftlingen am Beispiel des Volkswagenwerks und der Henschel Flugzeug-Werke, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1993), Bd. 2, S. 89-136.
6 Neil Gregor: Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich, Berlin 1997.
7 Am Rande sei bemerkt, daß sich gerade im Bereich der Konsumpolitik in den dreißiger Jahren Kontinuitätslinien zu den zwanziger und fünfziger Jahren aufzeigen lassen. Ein sehr schönes Beispiel ist übrigens gerade das von Mommsen so kenntnisreich untersuchte Volkswagenwerk.

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