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Titel
"Gute Policey" und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach)


Autor(en)
Holenstein, André
Reihe
Frühneuzeit-Forschungen 9
Erschienen
Anzahl Seiten
938 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Barbara Krug-Richter, SFB 496, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Im Zentrum der Habilitationsschrift steht die südwestdeutsche Markgrafschaft Baden-Durlach, die sich aufgrund ihres geringen territorialen Umfangs mit gleichwohl relativ intensiver Verwaltungstätigkeit der Zentralbehörden für eine Untersuchung anbot. Zeitlich konzentriert sich die Arbeit weitgehend auf das 18. Jahrhundert. Dabei verknüpft der Autor erfolgreich die Mikro- und die Makroebene, wobei er im Verlauf seiner Untersuchung bewusst immer kleinräumiger vorgeht: Während die Analyse des zeitgenössischen Diskurses um Policey und Gesetzgebung sich noch auf der territorialen Ebene bewegt, ist die Untersuchung der Praxis der Frevel- und Rügegerichte auf der Ebene der beiden größten Oberämter des Terrritoriums angesiedelt. Auch wenn letztere mit jeweils ca. 20.000 Einwohnern für einen mikrohistorischen Zugang eigentlich zu groß sind – dies betont Holenstein selbst – gelingen dennoch tiefe Einblicke in das Handeln sowohl der Verwaltungsbeamten als auch der lokalen Bevölkerung. Der Ansatz der Untersuchung ist konsequent praxeologisch; Holenstein betreibt keine Institutionengeschichte im klassischen Sinne, sondern untersucht das konkrete Verwaltungshandeln vor dem Hintergrund der lokalen Verhältnisse und Bedürfnisse.

Der hohe Anspruch, den Holenstein an sich und seine Arbeit stellt, wird schon im umfangreichen Kapitel über den Forschungsstand deutlich: Er widmet sich den zentralen Fragestellungen der jüngeren Rechtsgeschichte, der Sozialgeschichte, der Historischen Kriminalitätsforschung, der Gemeindeforschung, der Volkskunde, der jüngeren Kulturgeschichte, der Verwaltungsgeschichte und der Geschichte des Frühneuzeitlichen Staates. Selbst zentrale historische Paradigmen wie der Absolutismus, die Aufklärung und die umstrittene „Volkskultur“ werden einer kritischen Diskussion unterzogen. Dieser breite Ansatz kostet Seiten, und dies nicht nur im Kapitel über den Forschungsstand. Dabei liegt der besondere Stellenwert der Holensteinschen Arbeit genau in dieser breiten Verankerung eines eben nur auf den ersten Blick „kleinen“ Ausschnitts aus der Geschichte der Frühen Neuzeit. Man sieht die Auswirkungen policeylicher Gesetzgebung auf der lokalen Ebene in ihrer Verschränkung mit lokalen Bedürfnissen nach Konfliktregulierung und -schlichtung sowie nach Ordnungssetzung allgemein. Die „gute Policey“ hatte, dies belegt Holenstein wie schon andere vor ihm überzeugend, einen ganz erheblichen Anteil an der Entwicklung des frühmodernen Territorialstaates, und dies nicht zuletzt deshalb, weil die Bestrebungen der Obrigkeiten zur Schaffung einer guten Ordnung nahezu jeden Lebensbereich ihrer Untertanen betrafen. Dabei trafen die Obrigkeiten in ihren Normsetzungen keineswegs nur auf Widerstand, auf eigenständige und gewachsene Wertvorstellungen, die sich der obrigkeitlichen Normierung widersetzten. Es handelte sich vielmehr um komplexe Kommunikationszusammenhänge, in denen sich beide Seiten gegenseitig wahrnahmen und auch voneinander lernten.

Entsprechend seiner Ausgangshypothese, nach der „’gute policey’ und lokale Gesellschaft einen Handlungs- und Wirkungszusammenhang konstituierten, der [...] geradezu einen konstitutiven Faktor der legislatorisch-administrativen Praxis von Obrigkeiten [...] darstellte“ (S. 24), löst sich Holenstein konsequent von dichotomischen Interpretationsansätzen nach dem Motto ’Gesetzgebung auf der einen, Durchsetzung auf der anderen Seite’. Ins Zentrum seines Interesses rücken vielmehr, und darin ist er den modernen kulturgeschichtlichen Ansätzen verpflichtet, die kommunikativen Aspekte. So wird die Policeygesetzgebung hier verstanden als ein „kommunikativer Vorgang“ (S. 142), in dem territoriale Obrigkeiten einerseits Normen setzten, sich jedoch andererseits in ihrer Normsetzung auch an den Bedürfnissen und Möglichkeiten ihrer lokalen Adressaten orientierten. Denn „in der Gesellschaft und Verwaltung werden Problemlagen wahrgenommen und artikuliert, Regulierungsbedürfnisse vorgebracht und von den zuständigen Behörden entsprechende legislatorische Anstalten getroffen“ (ebd.). Rücksicht auf die lokalen Rezipienten nahmen die territorialen Obrigkeiten im übrigen auch in Bezug auf die Formen ihrer Normvermittlung: Denn die verbreitete Illiteralität in der „Volkskultur“ erforderte spezifische Formen der Vermittlung wie die Publikation von Vorschriften über die Kirchenkanzel und vor allem deren regelmäßige Wiederholung. Diese Interpretation der Gründe für die bekannten permanenten Wiederholungen von Policeynormen, die sich in sämtlichen größeren und kleineren Territorien des frühneuzeitlichen deutschen Reich nachweisen lassen, ist einfach und dennoch bestechend in ihrer Logik. Sie erklärt das Phänomen erheblich einleuchtender als all die bisher geläufigen Diskussionen um die Differenzen zwischen Norm und Praxis, die die Forschungen zur Policeygesetzgebung lange prägten.

Ins Blickfeld der Holensteinschen Untersuchung rücken nach einer Analyse der badisch-durlachischen Gesetzgebung entsprechend die Kommunikationsstrukturen zwischen den gesetzgebenden Instanzen und den lokalen Adressaten. Die zahlreichen Maßnahmen der Obrigkeiten, Informationen aus den Dörfern zu erhalten, werden hier nicht primär unter der Intention einer möglichst umfassenden obrigkeitlichen Kontrolle interpretiert, sondern vielmehr verstanden als Informationsbeschaffung mit dem Ziel, „die in der Gesellschaft liegenden Kapazitäten und Ressourcen gezielter zum Nutzen von Staat und Bevölkerung zu aktivieren“ (S. 827f.). In Bezug auf die Informationsbeschaffung und -vermittlung waren die territorialen Behörden durchaus erfinderisch: Sie schufen neue Ämter, die zwar auf traditionellen Vorläufern wie den Rügegeschworenen der Gemeinden basierten, jedoch im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine neue Qualität gewannen. Die vielfach – im übrigen nicht nur in der Markgrafschaft Baden-Durlach – neu geschaffenen Ämter für die nun den Obrigkeiten und nicht mehr den lokalen Gemeinden zur Auskunft verpflichteten Informanten hatten, auch dies belegt Holenstein überzeugend, nicht nur die Funktion, die Einhaltung der Gesetze vor Ort zu überwachen. Sie fungierten vielmehr auch als Vermittler einer übergeordneten Idee, in der die Bevölkerung ins Zentrum des staatlichen Interesses rückte. „Politik als Policey“ brachte ein neues Interesse für das Lokale und das Volk hervor, das sich letztlich auch in den gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommenden statistisch-„volkskundlichen“ Erhebungen zu Land und Leuten dokumentierte. Vor diesem Hintergrund interpretiert Holenstein auch die Praxis der badischen Frevelgerichte als „Instrumente der Volksaufklärung“ (S. 845), ging es dort doch nicht nur um die Umsetzung von Verordnungen, sondern auch um die langfristige Implementation von Normen und Wertvorstellungen. Dass dies in der Praxis nur in Grenzen gelang – die Umsetzungsschwierigkeiten sind hinlänglich bekannt und werden auch in Holensteins Arbeit diskutiert – sahen auch die zeitgenössischen Akteure schon. Dies tut dennoch der Tatsache keinen Abbruch, dass die „politischen Eliten [...] die Möglichkeiten und die Wirkung gesetzlicher Maßnahmen [...] grundsätzlich optimistisch eingeschätzt haben“ (S. 827).

Dabei spiegelt die Tätigkeit der lokalen Rügegerichte – und an dieser Stelle gelingt die Verknüpfung von Makro- und Mikroebene besonders gut – auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen. Denn die Rügegerichte verhandelten in Baden-Durlach, und wohl nicht nur hier, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend ökonomische Belange; das gute „oikonomische“ Wirtschaften und Haushalten und damit die Vorläufer der bürgerlichen Tugenden rückten ins Zentrum des staatlichen Interesses. Traditionelle Regelungsbereiche wie religiös-moralische Normen wurden zwar nicht aufgegeben, rückten aber in den Hintergrund. Wohl auch aus diesen Gründen, aus ihrer Anpassung an die aufziehende ‚Moderne’, gelang es den badischen Rügegerichten, bis in das 20. Jahrhundert hinein zu überleben.

André Holenstein hat mit seiner Habilitationsschrift ein wirkliches ‚opus magnum’ vorgelegt. Dabei lässt sich das Buch auch kapitelweise rezipieren: Die Einleitung wäre vom Umfang und der Tiefe der Argumentation her durchaus geeignet, als eigenständiges Überblickswerk publiziert zu werden. Der Teil über die Rügegerichte bildet im Grunde ein Buch im Buche. Entsprechend finden zahlreiche Disziplinen und Subdisziplinen interessante neue Ergebnisse auch zu ihren Forschungsfragen: Die Rechtsgeschichte, Historische Kriminalitätsforschung, Gemeindeforschung, Verwaltungs- und Institutionengeschichte und auch die Volkskunde.

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