C. Lillington-Martin u.a. (Hrsg.): Procopius of Caesarea

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Titel
Procopius of Caesarea. Literary and Historical Interpretations


Herausgeber
Lillington-Martin, Christopher; Turquois, Elodie
Erschienen
Abingdon 2017: Routledge
Anzahl Seiten
XV, 300 S.
Preis
£ 105,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hansjoachim Andres, Institut für Altertumswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Prokop von Kaisareia und die von ihm geschilderte Zeit fordern zu immer neuen Deutungen heraus, stehen doch beide nicht zuletzt an einem Übergang: ersterer an jenem der antiken zur byzantinischen Geschichtsschreibung und letztere an dem der Antike zum Mittelalter. So liegt es nahe, beide Aspekte zu verbinden: Prokop als Schriftsteller und Prokop als Quelle zur Geschichte des 6. Jahrhunderts. In diesem Sinne nähert sich der vorliegende Band seiner Thematik und versammelt Aufsätze der beiden eng verknüpften Bereiche, die aus Beiträgen zu den Konferenzen „Reinventing Procopius: New Readings on Late Antique Historiography“ am Corpus Christi College der University of Oxford und „The Late Mediterranean Society According to Procopius of Caesarea“ am Landesmuseum Mainz, beide im Jahr 2014, hervorgegangen sind, sowie Auftragsarbeiten speziell für das vorliegende Buch. Der Fokus liegt dabei auf Prokops Bella.

In ihrer Einführung widmen sich die Herausgeber Christopher Lillington-Martin und Elodie Turquois kurz Prokops Leben, der Geschichtsschreibung seiner Zeit und dem interdisziplinären Ziel des Bandes, der sich teils stark widersprechende Gelehrte mit kontroversen Meinungen und vielfältigen Herangehensweisen zu Wort kommen lässt. So soll ein facettenreicher Blick auf die lebendigen und vielgestaltigen Prokop-Studien der Gegenwart geboten werden. Daneben bietet die Einführung eine Sammlung der neueren Literatur, Ansätze für zukünftige Forschungen und die Vorstellung der 16 Beiträge, aufgeteilt auf die Sektionen „Revisiting Procopius“, „Literary Tropes“, Persian wars“, „Characterisation“, „Military and legal history comparisons“, „Social history comparisons“, „Receptions“ und „The aftermath“.

Im ersten Beitrag gibt Averil Cameron anhand ihrer eigenen Forschungen zu Prokop einen Überblick über die sich wandelnden Betrachtungsweisen und Themen seit dem Erscheinen ihres Prokop-Buches, die sich auch im vorliegenden Band widerspiegeln. Hauptgegenstand sind Anthony Kaldellis’ Thesen.1 Michael Whitby befasst sich mit der „greatness“ Prokops und der Frage, worin dessen Größe als Historiker besteht – ausgehend von der Frage, was ein großes Geschichtswerk ausmacht. Die Bedeutsamkeit der geschilderten Ereignisse ist nicht notwendig mit der Bedeutung des Geschichtswerkes verbunden, ebenso der Umfang des Geschriebenen, literarischer Stil, historische Genauigkeit und emotionale Dramatik – auch wenn Prokop all diese Kriterien erfüllt. Auffällig ist die Distanz zahlreicher antiker Historiker – der Umstand, dass sie, meist gezwungenermaßen, von ihrer Heimat und ihrem normalen Referenzrahmen entfernt sind, sei es physisch oder psychisch, und somit kritischen Abstand für die Analyse des Geschehens haben, diese Distanz aber nicht auf Kosten der Nähe zu den geschilderten Geschehnissen geht, die von vielen antiken Historikern selbst erlebt und mitgestaltet wurden. Der frühe Prokop der Bücher 1 und 3–6 der Bella ist an sich noch kein großer Historiker, der zu größeren Reflexionen einlädt, aber „adversity transformed Procopius from a good writer into a great historian“ (S. 38), der neben Schilderung der Ereignisgeschichte zu „philosophy and study of history“ (S. 38) beitrug.

Peter Van Nuffelen geht in seinem Aufsatz von der bekannten Schwierigkeit aus, mit der im Corpus Procopianum dargestellten Welt unser Justinianisches Zeitalter zu konstruieren. Der Autor postuliert, dass der umgekehrte Fall, der Prokop vorlag – aus dem Justinianischen Zeitalter sein Corpus zu schaffen und damit „the problematic transition from world to word“ (S. 40) – ein explizites Thema Prokopischen Erzählens ist. Im Werk Prokops wird reflektiert, was es bedeutet, eine sich verändernde Welt mit sich verändernden Worten darzustellen. Van Nuffelen bestimmt, inwieweit Prokop auf die Veränderung der „poetics of history“ (S. 50) im Sinne Jacques Rancières von der klassischen Antike hin zur Spätantike verweist und auf die „poetics of doubt“ (S. 50), in denen sich zwar der klassischen rhetorischen Form bedient, aber zugleich bezweifelt wird, dass sich die Realität durch die Mittel der Rhetorik adäquat darstellen lässt. Prokop weitet diese Zweifel auch auf die Wahrnehmung der Welt durch den Menschen aus. Als Hintergrund der auch bei anderen Autoren der Zeit über sprachliche- und genrebedingte Grenzen hinweg zu findenden „poetics of doubt“ sieht Van Nuffelen das Verhältnis des Christentums zur klassischen Tradition und die christliche Sichtweise vom Wirken Gottes in der Welt, welche diese Welt schwerer verständlich macht. Die scheinbare Oberflächlichkeit Prokops ist den speziellen „poetics of history“ zuzuschreiben.

Franco Basso und Geoffrey Greatrex widmen sich dem oft untersuchten ersten Kapitel der Bella unter spezieller Berücksichtigung der meist vorausgesetzten mimesis des Thukydides und der zumeist vernachlässigten Herodots. Dabei wird diese mimesis besonders als Mittel betrachtet, durch das Prokop seine Antworten auf historiographische Probleme gibt. Durch einen engen Vergleich des ersten Kapitels der Bella mit den beiden klassischen Historikern, unter Verwendung der überspitzten Darstellung Lukians zur Geschichtsschreibung, lässt sich Prokops Herangehensweise erklären. So ist seine Betonung der Bedeutsamkeit der Justinianischen Kriege eine durchdachte Neugestaltung Thukydideischer Behauptungen nach Herodoteischer Art, so dass sich Prokop auf die Qualität der dargestellten Leistungen statt auf deren Quantität berufen kann. Dies ermöglicht Prokop auch die Verwendung von Aristien nach Homerischem Vorbild, die im Gegensatz zu den Schilderungen des Thukydides stehen.

Alan J. Ross untersucht die Selbstdarstellung Prokops in seinem Werk als handelnde Figur. Unter Betrachtung des Usus anderer antiker Historiker kommt Ross zu dem Schluss, dass sich Prokop in der dritten Person Singular als fähige und verlässliche Ratgeberfigur Belisars darstellt, die bereits die Anlagen eines Historikers hat und der Erhöhung des Autors dient. Schreibt Prokop dagegen in der ersten Person Singular, so handelt es sich fast immer um Erklärungen zu adynata und mirabilia. Prokop gibt sich damit den Anstrich eines reisenden Reporters, um den von ihm selbst als unglaubwürdig eingeschätzten Episoden Glaubwürdigkeit zu verleihen. Der Prokop der dritten Person trägt einen Thukydideischen, derjenige der ersten Person einen Herodoteischen Zug. Die Verwendung der ersten Person Plural kommt nur in einer Episode des Vandalenkrieges vor und dient der Strukturierung und Ausgestaltung dieses besonders komplex erzählten Abschnitts, wie auch zur Äußerung über Autopsie an sich.

Lyvia Vasconcelos Baptista untersucht in ihrem Beitrag die Art und Weise, in der Prokop die Größe seines Gegenstandes im Perserkrieg benutzt. Anhand des Vergleiches zwischen Homerischen Bogenschützen und denen der Zeit Justinians, der Beschreibung der Pest und des Nikaaufstandes wird gezeigt, wie die Erhöhung von Geschehnissen und Erlebnissen des Autors Teil des „narrative amplification process“ (S. 95) und Charakteristikum der historiographischen Komposition ist.

James Murray entwirft durch Vergleich des Geschichtswerkes mit der Consolatio Philosophiae des Boethius eine jenseits von Averil Cameron und Anthony Kaldellis stehende Sichtweise auf Prokop als „Christian philosopher-historian“ (S. 104), der von den Notlagen seiner Zeit ernstlich erschüttert war, aber Trost in seiner Religion und Bildung fand. Prokop beschäftigten die gleichen Zweifel wie Boethius, doch nahm er sich ihrer in Gestalt einer Geschichtserzählung statt in Dialogform an.

In Conor Whatelys Aufsatz gerät mit Bessas ein Akteur Prokops in den Fokus, der nicht in der ersten Reihe steht. Er wird als Prüfstein für die Einschätzung der Aufmerksamkeit gewählt, die Prokop der Charakterisierung seiner Personen zukommen lässt. Zudem zeigt Whately, wie Kernthemen der Bella durch die Charakterisierung des Bessas hervorgehoben werden.

Charles Pazderniks Gegenstand ist die Darstellung der Goten und kaiserlichen Invasionstruppen im Gotenreich einerseits als Eindringlinge beziehungsweise Besatzer und andererseits als Instrumente zur Herstellung legitimer Herrschaft in Italien. Durch geschickte Parallelen, Spiegelungen und Anspielungen auf Thukydides setzt Prokop Theoderich und Belisar in Beziehung. Theoderichs Erfolg bestand darin, die römische Gesellschaftsordnung erhalten und die Interessengemeinschaft zwischen ihm, seinen Soldaten und der Bevölkerung wahrgenommen zu haben. In der Praxis wirkte er somit als wahrer Kaiser – und in Abwesenheit einer solchen Figur müssen die kaiserlichen Invasionstruppen als fremde Besatzer erscheinen. In den Episoden um das gotische Herrschaftsangebot an Belisar gibt Prokop seinen Lesern die Möglichkeit, über einen alternativen Weg nachzudenken, in dem Belisar die Möglichkeit wahrnimmt, Theoderichs Errungenschaften zu erneuern.

Christopher Lillington-Martin stellt unter Nutzung des Corpus Procopianum und Codex Justinianus die Idee vor, dass Justinians übergeordnetes Ziel bei seinen Unternehmungen im westlichen Mittelmeerraum die Kontrolle der mediterranen (und angrenzenden) Schifffahrtsrouten und damit ein wirtschaftliches war. Es wird davon ausgegangen, dass Cod. Iust. 1,27 wesentlich von Hinweisen aus Belisars militärischer Korrespondenz mit Konstantinopel geprägt ist, eben jener Korrespondenz, die wohl auch Prokop zumindest teilweise mitgestaltete. Auch Prokops berufliche Stellung wird in diesem Zusammenhang umfassend unter Betrachtung der dahingehenden termini technici thematisiert.

Marion Kruse befasst sich mit der Rezeption der Justinianischen Gesetzgebung in den Bella. Justinians Reformen des Konsulats und ihre Behandlung bei Prokop werden interpretiert. Immer wieder zeigt sich die Inversion der kaiserlichen Rhetorik als beliebte Technik Prokops. Dies mag auch Auswirkungen auf die Gliederung der Bella nach Kriegsschauplätzen gehabt haben.

Ian Colvin beschäftigt sich mit der Frage, warum Prokop und Malalas zwei verschiedene, aber komplementäre Berichte über die Vorgeschichte des Perserkrieges 525–532 bieten. Im Kern steht Lazika als Zankapfel zwischen Rom und Persien. Beide antike Autoren sind laut Colvin gut informiert, berichten aber nur die Elemente, die ihrer Intention entsprechen. Die Unvollständigkeit unseres Malalas-Textes ist für die Argumentation nicht entscheidend. Malalas liegt daran, die Erfolge Justins hervorzuheben, Prokop aber daran, die persischen Ansprüche auf Lazika als ungerechtfertigt darzustellen. Zudem beeinflusst seine Abneigung gegenüber römischen Zahlungen an Barbaren die Darstellung. Diese mit Prestigefragen verbundenen Zahlungen waren der Hauptkonfliktgrund zwischen Rom und Persien.

Alexander Sarantis fordert in seinem Beitrag die Forschungsrichtung heraus, gemäß der die Informationen der römischen Autoren über Barbaren nicht zuverlässig und nur aus ihrem Kontext heraus verständlich und verwendbar seien, indem er Prokops Werk hinsichtlich barbarischer Gruppen auf dem Balkan und im Norden zur Zeit Justinians untersucht. Ein Fokus liegt auf politischen und ethnischen Identitäten und ihren Konsequenzen für das Handeln der Barbaren bei Prokop – und was dies über den antiken Autor auszusagen in der Lage ist.

Peter Sarris erkundet die Verbindung des Menschen zu seiner Heimaterde bei Prokop. Nach dessen Ansicht sind alle lebenden Wesen „rooted emotionally, psychologically and economically in their native soil and would only give it up if pressed by fate or circumstances“ (S. 239), was unter anderem bedeutet, dass ein Herrscher wie Justinian, der Menschen ihr Land versagen will, zwangsläufig große Schwierigkeiten heraufbeschwört. Fragen des Grundeigentums sind daher von essentieller Bedeutung in Prokops Kritik der Herrschaft Justinians. So lassen sich auch Einblicke in die ländliche Gesellschaft und die mit ihr verbundene Wirtschaft in verschiedenen Teilen des Mediterraneums und darüber hinaus gewinnen, sei es im Imperium, Vandalen- oder Gotenreich.

Federico Montinaro begibt sich auf eine Spurensuche um die von Joseph Justus Scaliger initiierte Edition der Bella und de aedificiis und verfolgt das wechselhafte Schicksal der dahingehenden Manuskripte.2 Abschließend unternimmt Anthony Kaldellis im Epilog des Bandes eine Würdigung der Leistungen, Gesinnung und der Größe Prokops. Zudem kommt er auf seine Monographie zu Prokop und deren Anliegen – auch im Verhältnis zu den vorstehenden Aufsätzen – zurück 3, gibt einen Ausblick auf künftige Forschungsfelder und schließt somit den Kreis zu Averil Camerons erstem Beitrag.

Der vorliegende Band präsentiert die vielgestaltigen Ansätze, Methoden und Interpretationen der aktuellen Forschung, die nicht nur an das Corpus Procopianum als Quelle herangetragen werden, sondern die vielmehr dieser Text als literarisches Werk geradezu herausfordert. Der Schriftsteller Prokop fasziniert auch fast 1500 Jahre nach seinem floruit, und der Band „Procopius of Caesarea. Literary and Historical Interpretations“ bietet einen exzellenten Einblick in die Ursachen dieser Faszination.

Anmerkungen:
1 Averil Cameron, Procopius and the sixth century, London 1985.; Vgl. Anthony Kaldellis, Procopius of Caesarea. Tyranny, history, and philosophy at the end of antiquity, Philadelphia 2004.
2 Es handelt sich um eine Ergänzung zu einem Aufsatz Dirk van Mierts, Project Procopius. Scaliger, Vulcanius, Hoeschelius and the Pursuit of Early Byzantine History, in: Hélène Cazes (Hrsg.), Bonaventura Vulcanius. Works and Networks. Bruges 1538 – Leiden 1614, Leiden 2010, S. 361–386.
3 Kaldellis, Procopius.

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