B. Haider-Wilson u.a. (Hrsg.): Internationale Geschichte

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Titel
Internationale Geschichte in Theorie und Praxis. International History in Theory and Practice


Autor(en)
Haider-Wilson, Barbara; Godsey, William D.; Müller, Wolfgang
Anzahl Seiten
809 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hiepel, Universität Duisburg-Essen

„Internationale Geschichte“ ist im deutschsprachigen Raum seit geraumer Zeit im Aufwind. 1996 führten die Herausgeber der Reihe „Studien zur Internationalen Geschichte“ diesen als Gattungsbegriff und somit groß geschrieben in die deutschsprachige Forschung ein.1 In jüngster Zeit hat sich ausgehend von der Beobachtung einer „Renaissance des Forschungsfeldes der internationalen Beziehungen“ beim Historikerverband eine AG Internationale Geschichte etabliert.2 Und auch das 2013 eingesetzte Institut für Neuzeit und Zeitgeschichtsforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, mit dem die Herausgeberin und Herausgeber des zu besprechenden Sammelbandes verbunden sind, hat einen Schwerpunkt auf die Internationalen Beziehungen und die Internationalität des Habsburgerreiches gelegt. Ihnen geht es nun um nicht weniger als eine „Orientierungshilfe in Zeiten der ,Begriffsverwirrung‘“ (S. 13), die angesichts der unübersichtlichen Debatten, Ansätze und Methoden gerade recht kommt. Denn was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff „Internationale Geschichte“? Handelt es sich lediglich um ein neues Label für eine erneuerte Diplomatiegeschichte? Oder haben wir es mit einer neuen Subdisziplin der Geschichtswissenschaft zu tun? Umfasst Internationale Geschichte alle Formen von internationaler, transnationaler und globaler Geschichtsschreibung der vergangenen Jahre oder meint der Begriff nur die Geschichte der Internationalen Beziehungen?

27 Autor/innen präsentieren in diesem voluminösen Sammelband den aktuellen Stand der Forschung zur Internationalen Geschichte. Die Beiträge reichen von bekannten, mitunter schon andernorts publizierten Beiträgen über überblickshafte Darstellungen bis hin zu quellengesättigten Detailstudien. Das Füllhorn wird hier so reichlich ausgeschüttet, dass nicht jeder Einzelbeitrag angemessen gewürdigt werden kann und auch nicht jeder Beitrag für jeden Leser gleichermaßen von Interesse ist.3 Hervorzuheben ist die umfängliche Einleitung der Herausgeberin Barbara Haider-Wilson, die jede/n noch nicht mit dem Forschungsfeld und dessen Historiographie und Schulenbildung vertraute/n Leser/in kundig in das Forschungsfeld einführt und darüber hinaus bedenkenswerte Überlegungen zur Verortung der Disziplin in der Geschichtswissenschaft und Perspektiven für eine weiterführende Debatte liefert. Die Internationale Geschichte ist ja beileibe nicht der einzige Weg, mit dessen Hilfe nationalstaatliche Grenzen und Perspektiven in der Forschung überwunden werden können. Das ist auch Aufgabe und Ziel einer transnationalen Geschichte, einer Global History, Weltgeschichte oder Universalgeschichte, der histoire croisée ebenso wie der entangled history. Hier klare Abgrenzungen und Definitionen zu finden, erweist sich als außerordentlich schwierig, ist jedoch aus Sicht der Herausgeberin eigentlich auch gar nicht notwendig. Haider-Wilson plädiert stattdessen für einen pragmatischen Umgang mit den Begriffen und die Akzeptanz der Vielfalt von Forschungsansätzen. Internationale Geschichte wird als eine Art catch-all-phrase eingeführt, „unter deren Dach getrennt gehaltene Zugänge im Hinblick auf benennbare Koordinaten wieder zusammenfinden“ (S. 60) und unterschiedlichste Ansätze miteinander vernetzt werden können. Das bedeutet in der Forschungspraxis, sich neuen Ansätzen zu öffnen, ohne die alten zu ersetzen. Die Internationale Geschichte erhält somit die Qualität einer Friedensstifterin im Paradigmenstreit der Wissenschaft. Trotz aller turns, die allesamt unter das Dach einer so verstandenen Internationalen Geschichte gehören, haben beispielweise der Nationalstaat, Staatlichkeit und das Politische nicht an Bedeutung verloren, sondern lediglich einen Wandel erfahren.

Der Band widmet sich zunächst den Epochen, dann den Methoden und Zugängen sowie historiographischen Räumen. Die Vielfalt der Themenfelder und Konzepte wird schließlich anhand einer Reihe von Fallbeispielen aufgezeigt. In programmatischer Hinsicht ist sicherlich das erste Großkapitel „Epochen“ von eminenter Bedeutung, schlägt es doch den Bogen von der Antike bis in die Neuzeit und geht damit über den bislang in der Internationalen Geschichte dominierenden Schwerpunkt der Forschung in der Neueren und Neuesten Geschichte hinaus. Forschungsarbeiten zur Begrifflichkeit und Praxis des Internationalen in der Vormoderne liegen zwar bereits vor4, werden jedoch von Historiker/innen des 19. und 20. Jahrhunderts noch zu wenig rezipiert. Methodisch-theoretische Überlegungen und Herangehensweisen unterscheiden sich hier oftmals fundamental und es stellt sich die noch lange nicht abschließend beantwortete Frage, ob sich Kategorien von Internationalität, die ja per definitionem eine Nation voraussetzen, überhaupt auf die Vormoderne übertragen lassen. Die Antworten fallen zwiespältig aus. Für die Alte Geschichte wird dies von Josef Wiesehöfer vorsichtig bejaht. Auch wenn die Begrifflichkeiten nicht ganz passen, so sieht er doch geradezu die Notwendigkeit, diese Ansätze aufzugreifen für die von ihm postulierte dringende Neuausrichtung des Faches, die er u.a. in einer „Überwindung des Hellas- und Rom- bzw. Eurozentrismus“ (S. 75) sieht. Für das Mittelalter hält Martin Kintzinger die Übertragung der Begriffe, Ansätze und Methoden für grundsätzlich möglich, wenngleich noch nicht weit fortgeschritten. Auch wenn das Wort, also Internationalität, aus einer anderen, sehr viel jüngeren Epoche stammt, so habe es die Sache an sich, also auswärtige Beziehungen und Kontakte, im Mittelalter durchaus gegeben (S. 135). Hillard von Thiessen argumentiert hingegen vorsichtiger. Vor dem Hintergrund der nicht vorhandenen Staatlichkeit im modernen Sinne zieht er es vor, statt von „internationalen Beziehungen“ lieber von „Außenbeziehungen“ (S. 145) zu sprechen. Hier wäre zu hoffen, dass über Begriffe und geographische Räume hinweg Epochengrenzen überwunden werden und ein epochenübergreifender Dialog in Gang kommt.

Wie schwierig es jedoch ist, in dem Dickicht von Ansätzen, Methoden und Zugängen und von je unterschiedlichen nationalen Historiographien den Überblick zu behalten und orientierende Schneisen zu schlagen, zeigen die folgenden Kapitel. So kommen Autor/innen unterschiedlicher Schulen und Richtungen zu Wort, von der Diplomatie- über die Kultur- bis hin zur transnationalen Geschichte, die der Grundtenor eint, Internationale Geschichte als „pluralistisches Programm“ (Wilfried Loth) zu betrachten, in dem sich Ansätze und Herangehensweisen nicht ausschließen, sondern ergänzen. Im Kapitel „Historiographische Räume“ werden neben den bekannteren nationalen Forschungsdiskursen in Deutschland und den USA auch die russische Geschichtswissenschaft thematisiert sowie diejenige in außereuropäischen Räumen wie Lateinamerika, China und Afrika. Allerdings muss man nicht allzu weit in die Ferne schweifen, um auf unbekanntes geschichtswissenschaftliches Terrain zu stoßen. Laurence Badel hält in ihrem bemerkenswerten Beitrag der französischen wie auch der nicht-französischen Forschung den Spiegel vor. Indem die französische Forschung den „taktischen Fehler“ (S. 357) beging, nicht auf Englisch zu publizieren, war sie im internationalen wissenschaftlichen Diskurs nicht vertreten bzw. wurden ihre Forschungsergebnisse und -debatten verzerrt wahrgenommen. Überhaupt, so paradox es klingt, ist eine mangelnde Internationalität der Internationalen Geschichte zu beklagen. Charles Maier legt den Finger in die Wunde, wenn er anmerkt: „If we can have médecins sans frontières we should be able to have historians without borders as well.“ (S. 315) Tatsächlich ist das offensichtlich nicht so einfach, da die Geschichtswissenschaften traditionell in (national-)staatlichen Grenzen denken und historische Narrative geschaffen haben, die sich am Nationalstaat und nationaler Identität orientieren. Eine ausgeprägte nicht-nationale Identität als Voraussetzung für eine europäische oder globale Geschichte sieht er hingegen (noch) nicht. Neben dem epochenübergreifenden Dialog steht also auch mehr Internationalität der Wissenschaftler selber nach wie vor auf der Agenda.

Schließlich kann das Kapitel „Themenfelder und Konzepte“ eigentlich nur schlaglichtartig anhand einer Reihe von Fallbeispielen die Vielfalt an Themen und damit das Potential einer Internationalen Geschichte andeuten: Feminismus, Umweltgeschichte, Kirchengeschichte, jüdische Geschichte, das Verhältnis zwischen Europa und Palästina, die Habsburgermonarchie im „langen“ 19. Jahrhundert, Ernährungsforschung oder Tourismus, um nur einige Beispiele zu nennen.

Der recht heterogene Sammelband bildet somit den aktuellen Stand der Diskussionen über die Konturen einer Internationalen Geschichte ab, die noch lange nicht abgeschlossen sind. Er bietet zudem zahlreiche Anregungen und wirft weiterführende Fragen auf, die für alle an diesem dynamischen Forschungsfeld Interessierten aufschlussreich sind.

Anmerkungen:
1 Eckart Conze u.a., Geleitwort zur Reihe „Studien zur Internationalen Geschichte“, in: Gerhard Th. Mollin, Die USA und der Kolonialismus. Amerika als Partner und Nachfolger der belgischen Macht in Afrika 1939-1965, Berlin 1996, S. 13.
2https://www.historikerverband.de/arbeitsgruppen/ag-internationale-geschichte.html (13.06.2018).
3 Zum Inhaltsverzeichnis siehe http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a22_1/apache_media/GIHA5A9IL4Q6V8LB1KG2YRN52DLM1D.pdf (13.06.2018).
4 Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, Köln 2010; Martin Kintzinger, Internationale Beziehungen im europäischen Mittelalter, Stuttgart 2017.