F. Becker u.a. (Hrsg.): Sport und Nationalsozialismus

Titel
Sport und Nationalsozialismus.


Herausgeber
Becker, Frank; Schäfer, Ralf
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Band 32
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Miller-Kipp, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität

In den frühen persischen Hochkulturen, bei den Inkas, nach gesicherter abendländischer Überlieferung im antiken Griechenland und hierzulande beginnend mit der deutschen Turnbewegung von Friedrich Ludwig Jahn:1 Sport war und ist patriotischen Zwecken dienlich, dies aufgrund sowie vermöge seiner konstitutiven Prinzipien: Körperschulung und Selbstbeherrschung, körperlich-technische Leistung, Wettkampf und Disziplin in der Dialektik von Individuum und Kollektiv. Selbstverständlich variiert deren politische Indienstnahme mit den politischen Verhältnissen, auffällig ist dabei die Häufung in Diktaturen – sie ist militäraffiner Sportdisziplin geschuldet. Das in dieser Hinsicht bei uns favorisierte geschichtliche Kapitel heißt ‚Sport im Nationalsozialismus‘ bzw. ‚Sport im Dritten Reich‘. „Keine Phase der deutschen Sportgeschichte“ sei „so gut erforscht“ wie diese, so selbst die Herausgeber des angezeigten Bandes (S. 10) – eine sympathische Abweichung von üblicher Defizitfeststellung. Die Erforschung begann mit der kritischen Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus vor gut vier Jahrzehnten und setzte in der Erziehungsgeschichtsschreibung ein. Das ist naheliegend, denn im Sport wie im Erziehungsgeschäft geht es um die Formierung menschlicher Wesenskräfte.2 Ebenso naheliegend, wurde dort zuerst die Schule als Ort und als Institution nationalsozialistischer ‚Leibeserziehung‘ vorgenommen3, zunächst die öffentliche allgemeine Schule, hernach die Schulen der Gliederungen und angeschlossenen Verbände der NSDAP4, wobei im Übergang von der Institutions- zur Prozessgeschichte der Sport als Funktion im Herrschafts- und Systemgefüge des ‚Dritten Reiches‘ in den Blick rückte. Mittlerweile gibt es eine beachtliche Bibliothek zu ‚Sport im Nationalsozialismus‘, die „Fülle der Titel“ sei allerdings „trügerisch“, so die Herausgeber, trügerisch insofern, als sie von Veröffentlichungen unterschiedlichen und nicht immer wissenschaftlichen Formats gebildet werde. Tatsächlich sei „die Erschließung des Forschungsfeldes noch keineswegs abgeschlossen“ (S. 10), Desiderate gebe es insbesondere in der Historiographie „zur NS-Vergangenheit des deutschen Sports und seiner Funktionäre“ (S. 11), einzelne Vereine und Verbände eingeschlossen; mithin fehle es an „Organisationsgeschichten“ (S. 19).

Für Veröffentlichungen auf diesem Gebiet und für die darin in den letzten zehn Jahren ausgetragenen Kontroversen interessieren sich die Herausgeber besonders, da sich an diesen Kontroversen die „historische Bedingtheit und strukturelle Limitierung der bisherigen deutschen sporthistorischen Forschungsdebatten“ zeige (S. 11). Zum Nachweis dessen begeben sich Becker und Schäfer auf von ihnen selbst erforschtes Gelände und gehen einleitend auf den „Fußballhistorikerstreit“5, auf die Debatte um Carl Diem6 sowie auf den „Konflikt über die Geschichte des Dopings in Ost- und Westdeutschland“ besonders ein. Resümierend halten sie dazu fest, „dass die Abwehr weiterführender Ergebnisse und Ansätze und die Verweigerung offener Debatten nur um den Preis großer Einbußen an Erkenntnispotential zu haben“ seien (S. 10). Das ist nun allerdings nicht neu; aufschlussreich aber ist die Platzierung solchen Erkenntnisverlustes in die Deutungskonkurrenz der Sportgeschichtsschreibung zwischen der BRD und der DDR. Dort zeigt sich, dass Aufklärung über verschwiegene, verleugnete oder verdrängte Sportgeschichte – NS-Vergangenheit, dabei in Sonderheit antisemitischer Rassismus hier, Doping dort – jeweils von der politischen Gegenseite kam oder vorangetrieben wurde. – Im Übrigen bringt die Einleitung eine „Kartierung der Forschungslandschaft“ (S. 11). Sie hätte weniger knapp ausfallen und etwa auch die oben angeführte erziehungshistorische Forschung einschließen dürfen, Phasen, Perspektiven und Gegenstände der Geschichtsschreibung zu ‚Sport im Nationalsozialismus‘ werden nur punktuell, im Überblick aber instruktiv markiert. – Die konstatierte „Fülle der Titel“ vermehrt der Band nun seinerseits um weitere acht wissenschaftliche Studien. Sie liegen in drei Bereichen: 1. „Arbeit und Freizeit“ (S. 27ff.) – hier geht es jeweils am Einzelbeispiel um Betriebssport sowie um Sport in der und durch die NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (KdF); 2. „Vereine, Verbände und Sportarten“ (S. 107ff.) – hier geht es um das 15. Deutsche Turnfest 1933, um Jiu-Jitsu und um Eislauf; 3. „Sport und NS-‚Eliten‘“ – hier geht es um Sport in den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und um das Pferdesportnetzwerk in Hamburg. Man sieht: Es handelt sich um Spezialstudien. Sie sind ausnahmslos gründlich informiert und fordern Anschlussforschung sowie Überblicksdarstellungen geradezu heraus.

Nach diesen Studien präsentiert der Band ein „Fundstück“, das heißt die Eröffnungsrede des Reichserziehungsministers Bernhard Rust zur Olympiade in Berlin 1936. Ralf Schäfer (Mitherausgeber) nimmt sich diese Rede historisch-kritisch vor und kommt zu dem Befund, dass sie die Olympiade aus der liberalen Tradition Coubertins löse und in die Tradition altgriechischer Kampf- und Weihespiele rücke. – Dieser Quellenanalyse folgt auf den letzten 44 Seiten des Bandes ein Rezensionsteil, was wohl der Reihe geschuldet ist, in der der Band erschien; eine editorische Notiz dazu gibt es nicht, und so mag derjenige überrascht sein, der mit dem Band keinen Reihentitel erwartet hat. – Alle rezensierten Bücher fallen in die Historiographie des Nationalsozialismus, nur einer von insgesamt 19 besprochenen Titeln ist hier thematisch einschlägig: Henry Wahlig, Sport im Abseits. Die Geschichte der jüdischen Sportbewegung im nationalsozialistischen Deutschland, Göttingen 2015, rezensiert von Frank Becker. – Resümierend kann man wiederum die Herausgeber zitieren mit ihrer Feststellung, dass „für Deutschland“7 „bisher kein Versuch einer Gesamtanalyse des NS-Sports unternommen wurde“ (S. 22). Zu ergänzen ist, dass es bislang auch keine wie immer systematisch angelegte Geschichte über „Sport und Nationalsozialismus“ gibt. Für eine solche Monographie legt der Band hingegen anregende und gehaltvolle Studien vor.

Anmerkungen:
1 Sc. „Turnvater Jahn“; politischer Zweck seinerzeit: patriotische als körperliche Ertüchtigung im „Befreiungskampf“ gegen Napoleon.
2 Hajo Bernett, Das Kraftpotential der Nation. Leibeserziehung im Dienst der politischen Macht, in: Ulrich Herrmann / Jürgen Oelkers (Hrsg.), Pädagogik und Nationalsozialismus, Weinheim und Basel 1989, S. 167–192; Bernett hatte 1966 die erste und zugleich grundlegende Studie zum Sport im Nationalsozialismus vorgelegt (Nationalsozialistische Leibeserziehung. Eine Dokumentation ihrer Theorie und Organisation, Schorndorf); zum Formierungsaspekt: Ulrich Herrmann, „Völkische Erziehung ist wesentlich nichts anderes denn Bindung“. Zum Modell nationalsozialistischer Formierung, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.), Die Formung des Volksgenossen, Weinheim 1985, S. 67–78.
3 Lorenz Pfeiffer, Turnunterricht im Dritten Reich – Erziehung zum Krieg?, Köln 1987; ders., „Soldatische Haltung in Auftreten und Sprache ist beim Turnunterricht selbstverständlich“. Die Militarisierung und Disziplinierung des Schulsports, in: Ulrich Herrmann / Ulrich Nassen (Hrsg.), Formative Ästhetik im Nationalsozialismus, Weinheim 1994. S. 181–196.
4 Zumeist als Kapitel in der Geschichte dieser Institutionen.
5 Sc. Andreas Rosenfelder „Der deutsche Fußball wiederholt den Historikerstreit“, Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.02.2006; zugrunde liegt die Veröffentlichung von Nils Havemann über den DFB (Fußball unterm Hakenkreuz, Frankfurt am Main 2005).
6 Ausgelöst durch Frank Becker (Mitherausgeber des vorliegenden Bandes), Den Sport gestalten. Carl Diems Leben, 2 Bde., Duisburg 2009–2011 und die kritische Ergänzung von Ralf Schäfer (Mitherausgeber des vorliegenden Bandes), Militarismus, Nationalsozialismus, Antisemitismus. Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich, Berlin 2011.
7 Wohl aber für Österreich, vgl. Mattias Marschik, Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialistischen Österreich, Wien 2008.