A. Matyssek: Rudolf Virchow. Das Pathologische Museum

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Titel
Rudolf Virchow. Das Pathologische Museum. Geschichte einer wissenschaftlichen Sammlung um 1900


Autor(en)
Matyssek, Angela
Erschienen
Darmstadt 2002: Steinhoff Verlag
Anzahl Seiten
184 S., 91 Abb.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Brandstetter, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien

Die Sammlungsgeschichte hat sich in den letzten Jahren als ein fruchtbares Forschungsfeld erwiesen, auf dem diverse wissenschaftsgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Ansätze in Austausch treten konnten. Sammlungen wurden dabei einerseits als Ordnungssysteme betrachtet, die ein Feld des Empirischen zu allererst konstituieren und damit zu den grundlegenden Operatoren der Erzeugung von Wissen gehören. Diese Analyse der Strukturen wurde jedoch zunehmend von einem Blick auf jene vielfältigen Strategien ergänzt, welche Sammlungen zu Schauplätzen von – oftmals umkämpften – Bedeutungsproduktionen machen.1

Die vorliegende Monografie der Kunsthistorikerin Angela Matysseks hat sich vor allem dieser zweiten Perspektive verschrieben. Gegenstand ihrer Untersuchung sind die Bestände des vom Mediziner und Sozialreformator Rudolf Virchow gegründeten Pathologischen Museums in Berlin. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Virchow als Ordinarius für pathologische Medizin eine umfangreiche Sammlung von Präparaten zusammengetragen, die ab 1901 im neu errichteten Museumsgebäude in der Berliner Charité der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Mehr als 20.000 Objekte waren für das Publikum jeden Sonntag zwischen 11 und 13 Uhr zu besichtigen.

Bereits die Tatsache, dass die Öffnungszeiten in unmittelbare Nähe zum Gottesdienst gerückt wurden, verdeutlicht, welches Gewicht der symbolischen Ebene im Pathologischen Museum zukommt. Angela Matyssek gelingt es hervorragend zu zeigen, wie Virchows Kampf gegen die Macht des Wunder- und Aberglaubens mit einer Sakralisierung seiner eigenen sammlerischen Tätigkeiten einherging. Vier Kapitel, „Architektur“, „Sammlungen“, „Sammler“ und „Objekte“, bieten ihr verschiedene Zugänge zur Analyse der symbolischen Bedeutungen, von denen die scheinbar säkularen wissenschaftlichen Praktiken Virchows immer wieder heimgesucht wurden.

Bereits im Abschnitt über die Architektur des Museums zeigt sich eine der grundlegenden Probleme der Virchowschen Sammel- und Ausstellungspraxis. Denn der Neubau des Pathologischen Instituts, zu dessen Gebäudekomplex auch das Museum gehörte, wurde zwar der Konvention entsprechend abseits des Krankenhauses errichtet. Dennoch war es nicht den Blicken der Patienten entzogen, im Gegenteil: durch eine mächtige Blickachse wurde es optisch in den Charité-Komplex eingebunden. Dieser Versuch, auf der architektonischen Ebene eine Trennung zwischen dem Körper, der von der potentiell gefährlichen Umgebung der Pathologie fernzuhalten war, und dem reinen Blick zu konstruieren, findet sich auch auf der Ebene der Sammlungspraxis. Während Virchow versuchte, seine Präparate zu reinen wissenschaftlichen Anschauungsobjekten zu machen, bewirkte gerade ihr anschaulicher Charakter eine nur schwierig zu bändigende Eigendynamik des Ästhetischen.

Das zeigt sich etwa an Virchows Versuch, die lange Tradition der Zurschaustellung von Monstren in ein pädagogisches Unternehmen zu verwandeln. Indem der Pathologe diese vermeintlichen Wundergestalten zu Reihen zusammenstellte, wollte er „diesen Erscheinungen ihre Einzigartigkeit und ihre mystische Aura nehmen“ (S. 25) und zeigen, dass auch sie naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Logik der Sammlung dabei selbst zu einer Auratisierung der Objekte führt: gerade weil sie nun Teil dieses großen Ganzen sind, werden die Präparate zu „Reliquien“ (S. 47). Mittels dieses Begriffs analysiert Angela Matyssek die Beziehungen, die sich nun zwischen den Objekten und ihren Betrachtern herstellen: wie Reliquien sollen die Sammlungsstücke Ängste hervorrufen und gleichzeitig auch binden. Zudem eignet ihnen eine Erinnerungsfunktion – die freilich nicht mehr die Toten selbst, sondern ihre Ärzte und Präparatoren ins Gedächtnis holen will. Daran knüpft sich auch Virchows Bestreben, das Bewusstsein für die Geschichte seines eigenen Faches wachzuhalten. Dieses Gedenken einer institutionellen Tradition, und damit einer medizinischen Erfolgsgeschichte, diente auch als Waffe gegen neuere Disziplinen wie die Bakteriologie, von deren Ansprüchen sich der Pathologe Virchow bedroht fühlte.

Solche konzentrierten und bestechenden „dichten Beschreibungen“ bilden den Kern von Angela Matysseks Studie. Sie begnügt sich jedoch nicht damit, die einzelnen Objekte und Praktiken in ihren kulturellen und wissenschaftlichen Kontexten zu verorten. Exkurse über Vorläufer Virchows tragen dazu bei, die veränderten Ansprüche verständlich zu machen, die seit dem 17. Jahrhundert an pathologische Präparate gestellt wurden. Dabei veränderte sich vor allem ihr Status als Kunstwerke: während der Anatom Frederik Ruysch im 17. Jahrhundert die ästhetische Funktion offensiv forcierte, indem er Vanitas-Allegorien aus Skeletten und konservierten Organen komponierte, versuchte Virchow, die Präparate zu reinen Wissenschaftsobjekten zu machen. Da sie jedoch stets als Anschauungsobjekte zu funktionieren hatten, und das nicht nur für die Museumsbesucher, sondern auch als Lehrmittel für die Studenten, ließ sich das ästhetische Moment nie ganz ausschalten. Vielleicht ist gerade das der Grund dafür, dass seit kurzem wieder ein Präparator in die Rolle des Künstlers geschlüpft ist: der Heidelberger Anatom Gunther von Hagens, auf den Angela Mayssek zum Schluss ihres Buches zu sprechen kommt, arrangiert seine sogenannten „Plastinate“ in direktem Rückgriff auf die Formen der bildenden Kunst.

Angela Matysseks Buch beinhaltet neben ihrer eigenen Analyse der Geschichte des Pathologischen Museums auch die Nachdrucke zweier von Virchow selbst verfasster Broschüren: die Publikation seiner Eröffnungsrede vom 27. Juni 1899, und eine Art Führer durch das Museum, der auch Grundrisse der Schausammlung enthält. Beide Dokumente ergänzen das Bild der Sammlung, indem sie ihren Gründer selbst zu Wort kommen lassen. Das vorliegende Buch bildet somit nicht nur einen materialreichen und spannenden Beitrag zur Geschichte einer Sammlung, sondern liefert darüber hinaus einen anregenden Beitrag zu einer Problemgeschichte des Anschaulichen in der Wissenschaft.

Anmerkungen:
1 vgl. etwa Bal, Mieke, Kulturanalyse, Frankfurt am Main 2002.

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