H. Berding u.a. (Hgg.): Kriminalität und abweichendes Verhalten

Titel
Kriminalität und abweichendes Verhalten. Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert


Herausgeber
Berding, Helmut; Klippel, Diethlem; Lottes, Günther
Erschienen
Göttingen 1999: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pascale Sutter, Historisches Seminar, Universität Zürich

Der von Helmut Berding, Diethelm Klippel und Günther Lottes herausgegebene Sammelband "Kriminalität und abweichendes Verhalten" beinhaltet neben einem einleitenden Kapitel sechs Aufsätze von Stipendiaten und Kollegiaten des Graduiertenkollegs "Mittelalterliche und neuzeitliche Staatlichkeit (10.-19. Jahrhundert)" der Justus-Liebig-Universität Giessen und des von der Volkswagen-Stiftung unterstützten Forschungsprojekt "Politischer Diskurs und staatliche Praxis". Der Hauptteil der Beiträge ist der zur Zeit boomenden historischen Kriminalitätsforschung verpflichtet, die auf die neue Sozialgeschichte, die so genannte "Ecole des Annales", zurückgeht und die in der Anfangszeit hauptsächlich Quellen, die gerichtlich registrierte Kriminalität überliefern, verwendete. Die ersten sozialgeschichtlichen Studien befassten sich mit Delinquenz und normwidrigem Verhalten in der städtischen und ländlichen Gesellschaft des Spätmittelalters sowie der Frühen Neuzeit. Ihre Ergebnisse erzielten die Historiker vorwiegend aus quantitativen Analysen, während neuerdings vermehrt auch qualitative Methoden bzw. eine Kombination der beiden Vorgehensweisen angewendet werden. 1
In der Einleitung "Staat und Devianz" betont Diethelm Klippel, daß die jüngeren Vertreter der historischen Kriminalitätsforschung einen "Perspektivenwechsel weg von den Ideen und Normen hin zu der Lebenswelt und dem Alltag der Betroffenen, vor allem der Täter, ihrem gesellschaftlichen Hintergrund und ihren Motiven und Zwängen" (S. 7) vollzogen haben. Zudem postuliert er, sich vermehrt auf drei Ebenen - der Ebene der Lebenswelt, des Staates und seiner Normen sowie der theoretischen Ebene - interdisziplinär dem Problem des abweichenden Verhaltens zu nähern. Das Hauptaugenmerk des Bandes richtet sich daher auf "den Staat, sein Personal, das materielle und prozessuale Strafrecht und andere Normen des Rechts- und Verwaltungshandelns sowie die politische Theorie" (S. 9). Daß neben den Gerichtsprotokollen und den normativen Quellen auch andere Quellengattungen zur Erforschung von Kriminalität beigezogen werden müssen, ist eine Selbstverständlichkeit.
Der erste und meiner Meinung nach beste Artikel des Sammelbandes stammt von Joachim Eibach und behandelt das Thema "Stigma Betrug. Delinquenz und Ökonomie im jüdischen Ghetto". Eibach zeigt anhand der jüdischen Gemeinde der Stadt Frankfurt a. M., daß die jüdische Delinquenz, vor allem die Hehlerei, im 18. Jahrhundert eindeutig strukturbedingt war. Da Juden der Zugang zu verschiedenen Erwerbszweigen verwehrt war und Christen nach kanonischem Recht das Zinsnehmen verboten war, verdienten die Juden ihren Lebensunterhalt hauptsächlich im Kredit-, Pfandleihe- und Wechselgeschäft sowie dem Gebrauchtwarenhandel. Die Standardvorwürfe gegenüber den Juden, überhöhte Zinsen zu fordern, zu betrügen und Hehlerei zu betreiben, lassen sich neben den religiösen Vorurteilen und dem Judenhass seit dem Mittelalter immer wieder in verschiedenen Quellen nachweisen. Nach Eibach versuchten die Bürger mit Hilfe des Betrugs- und Hehlereivorwurfs, sich vor der wirtschaftlichen Gleichberechtigung der Juden und der dadurch entstehenden Konkurrenz zu schützen. (S. 31)
Der Beitrag von Thomas Nutz behandelt den Gefängnisreformdiskurs und die Kriminalpolitik in Preussen bis 1806. Anhand zeitgenössischer strafrechtlicher Schriften stellt er den Wandel der Strafauffassung dar, die weg von der Vergeltung hin zur Prävention zukünftiger Delikte führte. Auch setzte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Meinung durch, daß Strafmassnahmen "ein Gegengewicht zu der zum Verbrechen treibenden Begierde bilden" (S. 41) sollte. Gleichzeitig beschäftigten sich die ersten auf empirischen Untersuchungen basierenden Publikationen detailliert mit den Missständen im Bereich der Gefängnisse und entwarfen Modelle von idealen Strafanstalten als wirksames Mittel zur Verbrechensbekämpfung und zur Erhaltung der inneren Sicherheit (S. 49, 57).
Der Kompetenzstreit über die Beurteilung der Unzurechnungsfähigkeit im Strafprozess des 19. Jahrhunderts zwischen Richtern und Sachverständigen wird von Ylva Greve anhand "criminalpsychologischer" (S. 69) Abhandlungen beschrieben. Im Zusammenhang mit der Aufklärung stellten die Strafbehörden anstelle der Tat den Delinquenten, die Tatmotive und Tatumstände ins Zentrum ihrer Ermittlungen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der menschlichen Psyche hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Erweiterung des Katalogs von Geisteskrankheiten zur Folge. Die Mediziner gerieten durch ihre vermehrte gerichtsärztliche Gutachtertätigkeit mit den Juristen in Konflikt. Der Diskurs wurde vor allem über die Qualifikation zur Beurteilung der Unzurechnungsfähigkeit und über die Zulässigkeit der Todesstrafe geführt (S. 93).
Alexandra Chmielewski zeichnet in ihrem medizinhistorischen Beitrag "Auf dem Weg zum Experten" die Entwicklung des neuen Berufsstandes der Psychiater am Beispiel von Baden und Bayern für die Zeit zwischen 1800 und 1860 nach. Sie beschreibt die Anfänge der akademischen Disziplin, die praktische und theoretische Ausbildung und Tätigkeit der Psychiater, die Reform der Psychiatrie durch die Gründung von Spezialkliniken und das wachsende Berufsethos der "Irrenärzte".
Mit den "Handlungsspielräumen im Strafvollzug" und den "Beschwerden von Gefangenen im hessen-darmstädtischen Zuchthaus Marienschloss 1830-1860" befasst sich Martina Henze, indem sie die lückenhaft überlieferten Rekurs- und Beschwerdeschriften der Inhaftierten sowie die Gefangenenrechte analysiert. Die geäusserten Reklamationen waren vielfältig und deckten alle Lebensbereiche ab. Am häufigsten gaben jedoch das schlechte Essen und die zu leistende Arbeit Anlass zu Kritik. Martina Henze vertritt die Meinung, daß die Sträflinge jede Gelegenheit nutzten, um auch am vorgeschriebenen Instanzenweg vorbei Missstände anzuprangern. Die zuständigen Beamten nahmen sie jedoch nicht immer ernst (S. 157-159).
Der letzte Beitrag "Bayerische Schwurgerichte und die Todesstrafe" von Petra Overath geht den Fragestellungen nach, wie gross die Handlungsspielräume der Laienrichter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren und wie die Repräsentanten des Staates auf die zum Teil unberechenbaren Urteile der Geschworenen reagierten. Die Justizreformen von 1848/49 liessen einen kleinen Teil der Bevölkerung als Laienrichter an der Rechtssprechung partizipieren, um die Effizienz der Strafgewalt zu steigern und die Legitimation der Justiz zu stärken (S. 174). In den Kompetenzbereich der Schwurgerichte fielen Vergehen gegen das Pressegesetz sowie Delikte, die mit Zuchthaus-, Ketten- oder Todesstrafen geahndet wurden (S. 176). Die streng richtenden Geschworenen liessen die Zahl der Todesurteile ansteigen. Dieser Entwicklung entgegneten die Justizminister, indem sie durch Begnadigungsplädoyers versuchten, die Zahl der umstrittenen Hinrichtungen zu verringen (S. 188).
Die im Einführungskapitel ausformulierten, hochgesteckten Ziele des vielversprechenden Sammelbandes werden nicht in jeder Hinsicht erreicht. So passt meiner Meinung nach Alexandra Chmielewskis Beitrag über die Entwicklung der Psychiatrie nur bedingt ins Konzept der historischen Kriminalitätsforschung. Zudem wird in einigen Artikeln die Behandlung der Delinquenten beschrieben, die Betroffenen kommen jedoch allein in den von Martina Henze analysierten Beschwerdeschriften direkt zu Wort. Obwohl die einzelnen Beiträge in ihren Anmerkungen weiterführende Literaturhinweise zitieren, hätte ich eine kurze - am liebsten kommentierte - Übersicht der einschlägigsten Werke zur Kriminalitätsforschung in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert erwartet.
Dennoch liefert das Taschenbuch interessante Denkanstösse, aus welch verschiedenen Blickwinkeln man Delinquenz erforschen kann. Mit Spannung erwarte ich die weiteren Arbeiten der jungen Autorinnen und Autoren.

Anmerkung:
1 Eine gute Einführung in die aktuelle historische Kriminalitätsforschung mit einer ausführlichen Literaturübersicht geben Clive Emsley, Louis A. Knafla (Hg.): Crime History and Histories of Crime. Studies in the Historiography of Crime and Criminal Justice in Modern History, Westport 1996. Für Deutschland vgl. neuerdings Gerd Schwerhoff: Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, (Historische Einführungen 3), Tübingen 1999. Überblicke für Frankreich, Grossbritannien und Italien vgl. Benoît Garnot, Rosine Fry (Hg.): Histoire et criminalité de l'antiquité au XXe siècle. Nouvelles approches, Actes du colloques de Dijon-Chenove 3, 4 et 5 octobre 1991, (Publications de l'Université de Bourgogne LXXI, Série du Centre d'Etudes Historiques 1), Dijon 1992; James Anthony Sharpe: Crime in Early Modern England 1550-1750, London 1984; Trevor Dean, Kate J.P Lowe: Crime, Society and Law in Renaissance Italy, Cambridge 1994. Als einschlägige Fachzeitschriften sind v.a. Crime, Histoire et Sociétés/Crime, History and Societies, Criminal Justice History und die Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, zu empfehlen.

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