P. A. O'Connell: The Rhetoric of Seeing in Attic Forensic Oratory

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Titel
The Rhetoric of Seeing in Attic Forensic Oratory.


Autor(en)
O'Connell, Peter A.
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 282 S.
Preis
$ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Kostopoulos, Historisches Institut, Universität zu Köln

In seiner Untersuchung „The Rhetoric of Seeing in Attic Forensic Oratory“ bezieht sich Peter O’Connell auf die „performance-studies“ verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen der letzten Jahrzehnte sowie auf die Anwendung dieser Studien auf die Kommunikation im antiken Athen, die insbesondere von Simon Goldhill betrieben wurde.1 Vor allem Goldhills Konzept des „civic gaze“, also des „Sehen und Gesehen werden“, als zentrale Aspekte des athenischen Bürgerdaseins werden von O’Connell auf die Prozessreden der sogenannten attischen Redner angewendet.2

Auf der Basis der erhaltenen forensischen Reden aus dem klassischen Athen widmet sich O’Connell den verschiedenen Strategien und Möglichkeiten der Prozessparteien bzw. der Verfasser der jeweiligen Reden, die Aspekte des Sehens nutzbar zu machen, um die versammelten Richter zu überzeugen. Obwohl O’Connell in der Einleitung betont, dass es sich bei jeder Rede um einen einmaligen kommunikativen Akt gehandelt habe, dass also die Verbindung zwischen Performanz und Überzeugung, zwischen Redner und Zuhörern wichtiger sei als die zugehörige rhetorische Theorie (S. 6), werden im Verlauf der Untersuchung doch immer wieder auch Überlegungen insbesondere aus der aristotelischen Rhetorik miteinbezogen. Zusätzlich zieht O’Connell ähnliche Argumentationsstrategien aus modernen US-amerikanischen Gerichtsfällen hinzu, um die Bedeutung des Sehens und der Sichtbarkeit in der Rhetorik zu verdeutlichen (bes. S. 17–27 und passim).

Die Untersuchung ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil, „Physical Sight“, widmet sich der Kombination von konkret und unmittelbar sichtbaren und hörbaren Elementen durch die Prozessparteien, um die Richter zu beeinflussen. Diese Strategie konnte sich zunächst auf das physische Erscheinungsbild des jeweiligen Prozessgegners beziehen, was O’Connell anhand der Analyse von vier Prozessreden nachzuweisen sucht. Außerdem legt er einen Schwerpunkt auf die Bedeutung von Bewegungen und Gesten als Teil der Überzeugungsstrategie des Redners im Prozess. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass nur die Reden des Aischines (und Demosthenes’ Antworten auf diese) Aufschluss über die Bedeutung von angemessenen und unangemessenen bzw. ungewöhnlichen Gesten und ihre Wirkung auf die versammelten Richter geben können, weshalb sich O’Connell in diesem Abschnitt besonders stark auf die „ethics of gesture“ (S. 61) bei Platon und Aristoteles bezieht.

Im zweiten Teil, „The Language of Demonstration and Visibility“, wird die sprachliche Ebene in den Mittelpunkt gerückt. O’Connell untersucht, wie Worte und Ausdrücke in den Reden verwendet werden, die mit Aspekten des Sehens verbunden sind, um eine konzeptionelle Welt zu erschaffen. Dadurch sollten die Zuhörer ermutigt werden, sich selbst mit Augenzeugen des Geschehens zu vergleichen und damit zu einem gesteigerten Wissen über den jeweils vorliegenden Fall zu gelangen. O’Connell setzt voraus, dass „places, people, objects, and events that have been pointed out to witnesses and seen by them were the foundation of Athenian judicial knowledge“ (S. 86). Eng damit verbunden seien die Begriffe deiknumi bzw. epideiknumi als Ausdrücke der sichtbaren Demonstration von Zeugnissen und Zeugenaussagen. Auch der Ausdruck phaneros genomenos mache insbesondere die Sichtbarkeit (und damit Glaubwürdigkeit) von Tathergängen vor den Augen von Zeugen deutlich und damit die Schilderung glaubwürdig. Umgekehrt werden durch „sichtbare“ Argumente auch die zuhörenden Richter zu Augenzeugen der geschilderten Ereignisse. O’Connell hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Verbs epideiknumi hervor und zieht Parallelen zur epideiktischen Redeliteratur.

Der dritte Teil, „Imaginary Sight“, soll schließlich zeigen, wie die Richter ermutigt werden, sich durch mentale Bilder vorzustellen, sie seien bei zeitlich oder räumlich weit entfernten Ereignissen zugegen, und so die Ansprüche des Redners zu akzeptieren. Dies geschehe insbesondere dann, wenn sich der Redner in einer argumentativ schwachen Position befinde: „The ability to manipulate imaginations could have been as important as actual proof“ (S. 121). O’Connell stellt in diesem Zusammenhang das rhetorische Mittel der enargeia in den Fokus seiner Überlegungen. Dieses in der römischen Rhetorik entwickelte Konzept sei bereits in der attischen Rhetorik aufzufinden und werde beispielsweise bei Dionysios von Halikarnassos auch den Prozessreden des Lysias zugeschrieben. Obwohl es im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. keine formale Theorie der enargeia gegeben habe, nutzten die Redner und Logographen viele der Techniken, die später mit diesem Konzept in Verbindung gebracht wurden. Diese Techniken werden anhand dreier Reden näher erläutert, die sich (auch) mit Niederlagen und dem daraus resultierenden Leid für die Polisbürger befassen: In der Rede des Aischines „Gegen Ktesiphon“ wird besonders die Zerstörung von Theben mit der imaginären Anwesenheit der Zuhörer verbunden. In der „Gesandtschaftsrede“ des Demosthenes werden die Ruinen der zerstörten Städte von Phokis beschrieben. Hier präsentiert sich der Redner selbst als Zuschauer und Erzähler, die Zuhörer „sehen“ die Zerstörungen durch seine Augen. „Although Demosthenes does not invoke the jurors’ visual imagination, the repeated references to seeing, the denigration of speech, and the insistence that the Phokians’ destruction is a ‘spectacle’ (theama) present his words as though they are visual evidence rather than straightforward verbal testimony“ (S. 133). In der Rede des Lykurgos „Gegen Leokrates“ untersucht O’Connell die Strategien des „imaginären Sehens“ in Zusammenhang mit den Ereignissen nach der Niederlage bei Chaironeia. Der Prozess des Sehens wird dabei mit bestimmten Emotionen verbunden – gerade durch diese Emotionen sollten die Zuhörer dazu bewegt werden, im Sinne des Lykurgos für eine Verurteilung des Leokrates zu stimmen.

Jedoch sind die Techniken der enargeia nicht nur in den Reden der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, sondern auch in zahlreichen Reden des Lysias und des Andokides zu Beginn dieses Jahrhunderts anzutreffen. So werde in der Lysias zugeschriebenen Gefallenenrede die Schilderung der Schlacht bei Salamis mit Aspekten des Sehens und Hörens verbunden, damit die Zuhörer der Rede über diese Ebene mit den Betrachtern der damaligen Geschehnisse verbunden würden; „he also encourages them to share in the emotional reactions of an internal audience, namely, the Athenias who witnessed the battle“ (S. 146f.). Durch die Vorstellungskraft sollten insbesondere die damit verbundenen Emotionen „from the internal audiences to the external audiences“ (S. 148) sichergestellt werden. In einigen Prozessreden des Lysias dienten zusätzlich deiktische Pronomen als Mittel der enargeia. In den Reden des Andokides spielt darüber hinaus die imaginäre Sichtbarkeit der Vorfahren als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart eine Rolle.

O’Connell betont abschließend, dass die in den einzelnen Teilen untersuchten Strategien der Visualisierung in den Reden oft kombiniert würden und sich dadurch verstärkten. Die Rhetorik des Sehens ergänze andere Überzeugungsstrategien und müsse immer mit dem konkreten Fall und seinen spezifischen Bedürfnissen verknüpft werden, um eine Wirkung auf die athenischen Richter zu entfalten. In einem Anhang werden sämtliche im Verlaufe der Untersuchung analysierte Reden kurz beschrieben und den jeweiligen Untersuchungsteilen zugeordnet. Eine umfangreiche Bibliographie sowie Indices zu den antiken Quellen und sachlichen Begriffen wie auch Personen runden das Werk ab.

O’Connell legt eine Untersuchung vor, die trotz der im Titel formulierten Beschränkung auf die forensischen Reden die beschriebenen Phänomene auch im Rahmen anderer Rede- und Literaturgattungen darstellt und analysiert. Damit wird ein wichtiger Aspekt der attischen Rhetorik in den Mittelpunkt gerückt – weitere Forschungen zu Elementen des Sehens und der Sichtbarkeit in der attischen Rhetorik können auf dieser Arbeit aufbauen.

Anmerkungen:
1 Vgl. insbesondere Simon Goldhill, Programme Notes, in: Simon Goldhill / Robin Osborne (Hrsg.), Performance Culture and Athenian Democracy, Cambridge 1999, S. 1–29 mit einem Überblick über die Forschungslandschaft. Nicht einbezogen werden hingegen die neueren Ergebnisse der deutschsprachigen Forschung in diesem Bereich. Stellvertretend sei hier Karl-Joachim Hölkeskamp, ‚Performative turn‘ meets ‚spatial turn‘. Prozessionen und andere Rituale in der neueren Forschung, in: Dietrich Boschung / Karl-Joachim Hölkeskamp / Claudia Sode (Hrsg.), Raum und Performanz. Rituale in Residenzen von der Antike bis 1815, Stuttgart 2015, S. 15–74 genannt.
2 Vgl. Simon Goldhill, The Seductions of the Gaze: Socrates and his Girlfriends, in: Paul Cartledge / Paul Millett / Sitta von Reden (Hrsg.), Kosmos: Essays in Order, Conflict, and Community in Classical Athens, Cambridge 1998, S. 105–124, bes. S. 106–109; Goldhill, Programme Notes, S. 1–10; Simon Goldhill, Placing Theatre in the History of Vision, in: N. Keith Rutter / Brian A. Sparks (Hrsg.), Word and Image in Ancient Greece, Edinburgh 2000, S. 161–179, bes. S. 165–175.

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