Titel
Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung


Autor(en)
Large, David Clay
Erschienen
München 1998: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claus-Christian Werner Szejnmann, Department of History University of Leicester

Hitler fühlte sich in München wohl, ja schwärmte von der Isarmetropole. In "Mein Kampf" schrieb er, daß er mehr an München hing "als an irgendeinem anderen Flecken Erde auf dieser Welt" 1. Nachdem Hitler als Vierundzwanzigjähriger im Mai 1913 von Wien nach München übersiedelte, blieb sein Leben bis zu seinem Tod eng mit der Geschichte der Stadt verknüpft. Er formulierte hier erstmals seine Weltanschauung, entdeckte hier sein Talent als Redner, wurde Mitglied der "Deutschen Arbeiterpartei" (später NSDAP) und versuchte 1923 die Macht im Reich zu ergreifen. Hier entstand der "Führermythos" um ihn; von hier aus breitete sich die NSDAP in ganz Deutschland aus und selbst nach 1933 blieb München das Zentrum der nationalsozialistischen Bewegung.

Natürlich nimmt der Themenkomplex, warum gerade München zur Wiege und Metropole der Nationalsozialisten wurde, einen wichtigen Stellenwert in der neuen Deutschen Geschichte ein und ist somit auch schon in vielen Studien untersucht worden. David Clay Large erhebt auch nicht den Anspruch, Forschungslücken zu füllen, sondern verspricht einen neuen Blickwinkel und seine Interpretation (18). Laut Large haben traditionelle Studien Münchens Rolle in der Geschichte des Nationalsozialismus vor allem mit dem Trauma der Revolution und Räterepublik 1918-1919 assoziiert ("ohne Eisner kein Hitler", 160). Nach dieser Interpretation grub sich diese Episode "so tief in das Bewußtsein der Münchner Mittelschicht ein, daß diese für die antimarxistische Ideologie der Nationalsozialisten höchst empfänglich wurde" (18). Large sieht die Wurzeln des nationalsozialistischen Erfolgs dagegen in den drei oder vier Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dem sogenannten "goldenen Zeitalter" Münchens. Auch wenn in vielen Publikationen mit ähnlichem Thema diese Periode viel zu kurz kommt 2, muß hier allerdings angemerkt werden, daß andere Autoren auch schon dahingehend argumentiert haben. Beispielsweise konzentrierte sich Hermann Wilhelms Studie "Dichter, Denker, Fememörder" auf das rechtsradikale Milieu in München von der Jahrhundertwende bis 1921; und Karl-Ludwig Ay verwies ausdrücklich auf die tieferliegenden Ursachen der politischen Rahmenbedingungen für den Austieg Hitlers in München 3.

Das erste Viertel des Buches blickt hinter die Fassade von München, das sich zu dieser Zeit "einen Ruf als die toleranteste, bürgerfreundlichste und heiterste Stadt Deutschlands erworben hatte" (10). Dieser Ruf basierte nicht zuletzt auf Münchens berühmtestem Wirtschaftsgut: seinem Bier. Bierkeller luden aber nicht nur zur Geselligkeit ein, sondern waren auch zunehmend Schauplätze von Schlägereien und Tumulten, in denen die Maßkrüge nach ideologischen Wortgefechten zu gefährlichen Waffen umfunktioniert wurden. Hier offenbarte sich "eine Zeit verschärfender sozialer Disharmonien und wachsender politischer Spannungen" (20). Auch in der gefeierten Münchner Kultur des Fin de Siècle entdeckt Large "einen zutiefst problematischen Aspekt, was die von ihr hinterlassene ideologische Erbschaft betraf" (18). Hier prallten Werke der Moderne, z.B. in Form der Malerei des Blauen Reiters, mit einer "Kritik der kosmopolitischen Modernität und des politischen Liberalismus" zusammen. Letzteres war das "protofaschistische Kulturerbe", was "die Hitler-Bewegung mit der kulturellen Identität und Geschichte Münchens" verband (19).

Large gelingt eine faszinierende Beschreibung der Konflikte und Antagonismen, die München vor dem Ersten Weltkrieg plagten. Das vielleicht aufschlußreichste Kapitel handelt von Schwabing, "der Heimat der deutschen Bohème". Hier lebte beispielsweise Gräfin Franziska zu Reventlow, mit ihrem kuriosen "Gemisch aus fortschrittlichem und reaktionärem Gedankengut" (50). Auf der einen Seite war die "Königin von Schwabing" durch ihre ungebundene Lebensführung und ihrem Bekenntnis zur "freien Liebe", trotz eines unehelichen Kindes, eine Ikone der Frauenbewegung. Auf der anderen Seite verachtete sie ihre Geschlechtsgenossinnen, die um das Frauenwahlrecht kämpften, fand Politik nutzlos und war der Überzeugung, "daß der beste Platz für eine Frau das Bett sei" (56). Von Schwabing aus nahm aber auch die legendäre Monatszeitschrift "Simplicissimus" das preußische Establishment und die bayerische Rückständigkeit aufs Korn. Gleichzeitig trat der "Simpl" aber für aggressive Ideale der Nation ein und schwelgte in Klischees über das Judentum. Laut Large führte die obskure Beimischung von Rassismus, Engstirnigkeit und Heldenanbetung der Bohèmekultur in der Isarstadt nicht zuletzt dazu, daß Berlin München als Zentrum der deutschen Avantgarde ablöste (70-71).

Larges Argument, daß Entwicklungen in der Münchner Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg den Nährboden vorbereiteten, für das, was sich anschließend abspielte, überzeugt. In der anschließenden Diskussion über den Krieg und die Revolution, die das "Klima des Hasses und der Angst" verschärften (162), hätte man sich allerdings eine präzisere Beschreibung gewünscht, wieso sich hier eine hochexplosive Masse bildete. Anders ausgedrückt, eine schärfere Analyse der Alltagserfahrungen und Ängste der Arbeiter, Angestellten und Besitzer der zahlreichen kleinen und mittleren Betriebe, deren wirtschaftliche Existenz durch den Krieg und die Inflation vernichtet wurde, fehlt. Larges Erklärung, wieso sich ausgerechnet die Nationalsozialisten an die Spitze der Meute setzen konnten, folgt weithin akzeptiertem Muster. Einmal war da Hitlers Talent als Redner. Zum anderen wäre Hitler "ohne die Unterstützung seiner Freunde höchstwahrscheinlich ein zweitrangiger Bierkellerprophet geblieben" (194). Seine Freunde gaben ihm wichtige Impulse, um eine kohärente Weltanschauung aufzubauen, außerdem öffneten sie ihm die Türen zu wichtigen Gesellschaftskreisen. Nicht zuletzt bewegten sich die Nazis völlig selbstverständlich in den bürgerlichen Kreisen Münchens, weil das föderal eingestellte Bayern im Konflikt mit dem zentralistischen Reich besonders konservative und nationalistische Züge annahm.

Die Zeit der Stabilisierung enthält, neben einer Behandlung der stagnierenden NSDAP, interessante Beobachtungen über das breite Spektrum und die gemeinsame Vorgehensweise des national-konservativen Milieus in München. Beispielsweise wurde "Wedekinds Stück 'Die Büchse der Pandora' abgesetzt, nachdem sich den Protesten der Nazis die Polizei, die Kirche und die BVP angeschlossen hatten" (265).

Wenn eine Periode in dem Buch einfach zu kurz kommt, ist es die Zeit und Atmosphäre zwischen 1929 und 1932, die Jahre der Wirtschaftskrise, des Zusammenbruchs der Weimarer Republik und des dramatischen Aufstiegs der NSDAP. Vergeblich sucht der Leser nach Erklärungen, wieso die Münchner NSDAP am Ende der Republik in Wahlen verhältnismäßig schlecht abschnitt (Hitlers Partei erhielt selbst in den Reichstagswahlen am 5. März 1933 "nur" 37,8 Prozent der Stimmen, während ihr nationaler Durchschnitt bei 43,9 lag) oder warum die Nationalsozialisten einige Milieus erobern konnten, andere aber nicht. In diesem Teil kommt die größte Schwäche der Studie am deutlichsten zum Vorschein. Während sie nämlich das spezifische Milieu von Schwabing so ausgezeichnet beschreibt ("Hitlers München"), erfährt der Leser fast nichts über das "andere" München vor 1933: nichts über andere Stadtteile, vor allem aber auch nichts über die höchst interessanten und bedeutenden sozialistischen und katholischen Milieus. Dies mag zu dem Eindruck beitragen, daß, nachdem der Autor seine These von den tiefsitzenden Wurzeln des Nationalsozialismus überzeugend präsentiert hat, dem Werk in gewisser Hinsicht gerade dafür ein Argument fehlt.

Larges Analyse von München während der Nationalsozialistischen Diktatur, das sich der Titel "Hauptstadt der Bewegung" und "Hauptstadt der Deutschen Kunst" erfreute, deckt eine Fülle von interessanten Aspekten ab, so die Beiträge über das Konzentrationslager Dachau ("Dachau is net für d' Gäns' baut wor'n") und über die "Nacht der langen Messer", bei der München und Umgebung eine zentrale Rolle spielten. Zudem folgen aussagekräftige Teilkapitel über das, womit man die Isarstadt im Dritten Reich assoziiert. Beispielsweise den Kult zur jährlichen Feier des Hitlerputsches, Ausstellungen im "Haus der deutschen Kunst", aber auch Hitlers häufige Aufenthalte in seiner Münchener Privatwohnung, von wo aus er seine Lieblingsrestaurants besuchte, endlos über Kunst und Architektur schwadronierte und sich mit grandiosen, aber unverwirklicht gebliebenen architektonischen Plänen für die Stadt befaßte. "Der Schöne Schein des Dritten Reiches" wird eindrucksvoll von den Reaktionen der meisten ausländischen Besuchern dokumentiert, die selbst noch im Jahre 1937 mit München die scheinbar grenzenlose Festlaune der Bewohner verbanden und nicht die brutale Wirklichkeit Dachaus (358).

Obwohl laut Large der Unterschied zu anderen Städten während des zweiten Weltkrieges verblasst (391) - beispielsweise war auch die Münchener Bevölkerung ab November 1940 von immer mehr Unheil anrichtenden Luftangriffen betroffen - geht der Autor im Folgenden auf eine Reihe von Ereignissen ein, die man doch nur mit Münchens spezifischer Geschichte erklären kann. So wurden die Grenzen des totalitären Machtanspruches der Nationalsozialisten, aber auch die insgesamt viel zu wenig ausgenutzten Potentiale einer wirkungsvollen Verweigerung gegenüber dem Nationalsozialismus, in der Landesmetropole des katholischen Bayerns teilweise offen deutlich. Als Gauleiter Adolf Wagner es wagte, am 23. April 1941 durch Erlaß anzuordnen, die Kruzifixe in den Klassenzimmern der Münchner Schulen durch "zeitgemäße Bilder" zu ersetzen, ging ein solcher Aufschrei durch die bayerische Bevölkerung, daß Hitler persönlich den Befehl gab, die Maßnahme rückgängig zu machen.

In einem sehr interessanten Epilog zieht Large ein nüchtern-zynisches Fazit über die Entwicklung der Isarstadt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Danach wurde München nur wieder groß, "weil die Stadt es verstand, die Erinnerung an ihre zentrale Rolle im Dritten Reich zu verdrängen." (438) Schon als US-Soldaten Ende April 1945 in die Stadt einmarschierten, flatterten plötzlich Tausende weißblauer Fahnen aus den Fenstern, als wollten die Leute sagen: "Das hier ist Bayern, nicht Deutschland." (433)

Bevor wir zu einem überaus lobenden Fazit kommen, sollten noch einige Aspekte genannt werden, die dem Rezensenten verbesserungsfähig erscheinen. Da das Buch die Münchner Gesellschaft oftmals aus der Sichtweise von Prominenten beschreibt, wird nicht selten der Blickwinkel von anderen Gesellschaftsgruppen, wie die von Frauen, dem "kleinen Mann" und verschiedenen Generationen vermißt. Generell hätte man sich mehr Vergleiche gewünscht, zumindest Ansätze einer Gegenüberstellung Münchens mit seinem Umland und Vergleiche mit anderen deutschen Städten. Dies hätte Besonderheiten und Gemeinsamkeiten herauskristallisiert und die Untersuchung in die allgemeine Diskussion über die Wurzeln, den Erfolg und die Grenzen des Nationalsozialismus eingebettet. So begrüßenswert die Behandlung einer langen Zeitspanne ist, es scheint dies teilweise auf Kosten einer nuancierteren Analyse gegangen zu sein. In der Besprechung der 12 Jahre dauernden nationalsozialistischen Diktatur hätte beispielsweise das komplexe Geflecht von Zustimmung, Ablehnung und Gleichgültigkeit von einzelnen Münchener Bürgern gegenüber dem Nationalsozialismus deutlicher zur Geltung kommen können.

Insgesamt ist Large aber zweifellos eine sehr eindrucksvolle Studie gelungen, die vor allem von Nicht-Experten geschätzt werden wird. Hier schreibt jemand, der seine weitgefächerten Kenntnisse in scharfsinnige, lebendige und oft humorvolle Geschichtsschreibung umsetzt (dafür darf man wohl auch den Übersetzer beglückwünschen). Wenige Werke, die diesen langen Zeitraum problematischer deutscher Geschichte behandeln, vermitteln solch eine Fülle von Einsichten und Überblicken in Form einer so guten Lektüre.

Anmerkungen:
1 Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1941, S. 138. Zitiert aus Large, Hitlers München, S. 75.
2 Das wohl ausführlichste Werk über diesen Themenbereich widmet der Zeit vor 1914 gerade 5 der 487 Seiten. Siehe Münchner Stadtmuseum (Hrsg.), München - 'Hauptstadt der Bewegung', München 1993 (Publikation zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum, 22. Oktober bis 27. März 1994).
3 Hermann Wilhelm: Dichter, Denker, Fememörder. Rechtsradikalismus und Antisemitismus in München von der Jahrhundertwende bis 1921, Berlin 1989; Karl-Ludwig Ay: Von der Räterepublik zur Ordnungszelle Bayern. Die politischen Rahmenbedingungen für den Aufstieg Hitlers in München, in: Björn Mensing und Friedrich Prinz (Hrsg.): Irrlicht im leuchtenden München? Der Nationalsozialismus in der "Hauptstadt der Bewegung", Regensburg 1991.

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