A.L. Stoler: Duress. Imperial Durabilities in Our Times

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Titel
Duress. Imperial Durabilities in Our Times


Autor(en)
Stoler, Ann Laura
Reihe
John Hope Franklin Center Book
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 436 S.
Preis
€ 22,05
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Esther Helena Arens, Institut für Niederlandistik, Universität zu Köln

Die Historikerin Ann Laura Stoler ist bekannt für ihre Studien zur imperialen Geschichte der Niederlande und für das gemeinsam mit Frederick Cooper veröffentlichte Konzept des „single analytic field“ von Metropole und Kolonie. Mit dem vorliegenden Band „Duress“ hat sie eine Studie über die „colonial histories of the present“ vorgelegt und reflektiert die theoretisch-methodischen Grundlagen imperialer Geschichte, verbunden mit der Frage nach der Angemessenheit wissenschaftlicher Kriterien und (post)kolonialer Konzepte.

In der Einleitung nutzt Stoler den Begriff „duress“ (Nötigung, Zwang), um drei zentrale Merkmale der kolonialen Geschichten der Gegenwart einzufangen: „the hardened, tenacious qualities of colonial effects; their extended protracted temporalities; and, not least; their durable, if sometimes intangible constraints and confinements.“ (S. 7) Sie führt das Konzept der „imperial formations“ ein, die durch Polyvalenz gegenüber verschiedenen Agenden und Möglichkeiten charakterisiert seien (S. 20). Damit möchte sie über Bruch oder Kontinuität als Merkmale einer auf Regeln zurückgreifenden Geschichte hinausgehen und untersuchen, inwiefern koloniale Beziehungen in sozialen Beziehungen und ökologischen Missverhältnissen aufgegangen und in der Gegenwart weiterhin produktiv sind (S. 24f.). An die Einleitung schließen sich acht Kapitel an, die vor allem die Zwänge imperialer Formationen in den USA, in Frankreich und in den Niederlanden behandeln. In allen Kapiteln nutzt Stoler verschiedene theoretische Konzepte, um ihre Argumente aufzubauen, sowie meistens ein empirisch basiertes Fallbeispiel, um ihre Thesen historisch zu belegen. Sie entwickelt die Argumentation allerdings nicht nach einer linearen Abfolge von Forschungsstand bis Schlussfolgerung, so dass die Texte sich einer kurzen Zusammenfassung versperren und im Folgenden zentrale Argumente herausgegriffen sind.

In Kapitel 2 untersucht Stoler die Rolle von Edward Saids „Orientalism“ für die Herausbildung der (post)kolonialen Studien. In ihren Augen ist Said mit „The Question of Palestine“ darin gescheitert, eine Einschätzung der Politik des Staates Israel in kolonialen Begriffen anzuregen (S. 37). Dass Palästina seitdem analytisch an den Rand gedrängt werde, hält Stoler für ein Symptom einer Reihe von konzeptionellen und politischen Auslassungen in den (post)kolonialen Studien, denn deren Archiv sei ähnlich den kolonialen Archiven „ironically selective, evasive, and problematic“ (S. 39). Stoler problematisiert, dass die Forschung sowohl die USA als auch Israel meist als Ausnahmen behandelt hat (S. 47) und versucht dies mit dem Begriff der imperialen Formationen zu ändern.

Das dritte Kapitel untersucht die Schriften über französische „colonies agricoles“ im späten 19. Jahrhundert bis zur Umsiedlung der Harki (algerische Hilfstruppen der französischen Kolonialmacht) Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie interpretiert Kolonie und Lager auf theoretischer Ebene als „conjoined conceptual matrix“, und auf methodischer als Knotenpunkte in imperialen Netzwerken, die strategisch miteinander verbunden und voneinander getrennt wurden (S. 77). Lager versteht sie als geographische Gefüge, die heute der Definition und Aufrechterhaltung von „racial distribution“ zugrunde liegen (S. 106). Im Gegenzug ist die Kolonie ein Ort der Zirkulation, geprägt von Verunsicherung und Zwangsmigration. Als politisches Konzept taxiere die Kolonie den Wert von „human kinds“ und organisiere die damit verbundenen Aktivitäten wie Arbeit und Muße (S. 117).

In Kapitel 4 greift Stoler den Begriff der Versehrung auf. Anhand der „French Theory“ zeigt sie, wie konzeptionelle Prozesse, akademische Konventionen und affektive Praktiken den Stellenwert kolonialer Geschichten bestimmen, und wie die kolonialen Vergangenheiten dadurch verhüllt oder greifbar werden (S. 123). Dafür greift sie auf die Biografien von Bourdieu, Derrida, Foucault und Nora zurück, um zu analysieren, wie (deren) historiographische Konzepte sowohl Algerien als auch die anderen Kolonien, Protektorate und Besitztümer Frankreichs immer wieder aus dem nationalen Zuständigkeitsbereich herausgeschnitten haben (S. 127): „[P]recisely what has constituted the ‚configuration of the scientific field’ and what conventions of knowledge production have made France’s history of a racialized polity so marginal to so many of France’s cherished intellectual elite?“ (S. 147)

Im fünften Kapitel untersucht Stoler die Rhetorik des US-amerikanischen Imperialismus an der Schnittstelle von politischer Öffentlichkeit und akademischem Diskurs. Im Mittelpunkt steht ihre Kritik an der Erzeugung eines „prototypical archive of empire“, das sich am Konzept des Nationalstaats orientiere und „empire“ nicht als alternativen Weg verstanden habe, ein Gemeinwesen zu organisieren (S. 193). Sie konzentriert sich in der weiteren Analyse auf die Sicherheitspolitik und kommt zu dem Schluss: „Technologies of truth production – torture, confession, humiliation, isolation, and the threat of death – are honed inquisitional skills in the arts and crafts of imperial intelligence.“ (S. 203)

Das sechste Kapitel vertieft dieses Thema der „imperial intelligence“ anhand des Fallbeispiels, wie im 19. Jahrhundert niederländische Kolonialbeamte mit der Kategorie der sogenannten „Indische kinderen“ mit gemischter Herkunft umgingen. Sie plädiert für eine „affective genealogy of security“, weil die Unterscheidung von Empfindung einerseits und politischer Rationalität andererseits verdecke, welche Beitrag diese Empfindungen in Vergangenheit und Gegenwart zur Gestaltung der leitenden Prinzipien und Praktiken imperialer Formationen leisteten (S. 205). Daraus folgt für sie ein Mechanismus, der auch heute noch zur Anwendung komme: „Security regimes play off generic fears that are widely shared and then concentrate and direct those fears to particular sites and situations.“ (S. 236)

In Kapitel 7 befasst sich Stoler zum einen mit den kolonialen Archiven des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in denen niederländische und französische Akteure für die koloniale Regierungsführung die Kennzeichen rassischer Zugehörigkeiten (racial membership) diskutierten. Zum anderen setzt sie sich damit auseinander, wie in der gegenwärtigen Wissenschaft „racialized“ Unterscheidungen der Vergangenheit dargestellt werden und wie unterschiedlich die Vorstellungen darüber sind, wie diese sich heute manifestieren (S. 240f.). Stoler weist darauf hin, dass „race as a concept performs in a mobile field“ (S. 250) – dies sei ein inhärentes Merkmal des Rassismus und keineswegs ein „postracial moment“ (S. 259). Als Leitmotiv staatlichen Rassismus’ und damit auch Schlüsselmotiv des Legitimations- und Polizeiapparats macht sie die Forderung nach „Ordnung“ und die Beseitigung und Ausweisung derjenigen aus, die als Bedrohung gesehen werden. Damit werde eine „Verteidigung der Gesellschaft“ gegen ihre inneren Feinde und eine „innere Grenze“ aktiviert (S. 255).

Kapitel 8 lenkt den Blick auf Verbindungen zwischen den Kategorien race, class und gender, und zwar – ausgehend von einem eigenen Forschungsaufenthalt dort – anhand der Rolle der Kleinstadt Vitrolles als „Labor“ des Front National. Was als Überlegung zu einer Ethnographie im öffentlichen Raum begann, beschreibt sie rückblickend als „an effort to capture the discord between what I saw, heard, and read, and an effort to identify the historical ontology of that dissonance and duress of the present“ (S. 279). Aus dieser Studie heraus schlägt sie Forschungsfragen vor, zum Beispiel nach den praktischen Konsequenzen rassistischer Politik auf das, was zur Reichweite des Normalen zählt (S. 295f.), weil „Rasse“ sowohl in Europa wie auch in den USA weiterhin als Organisationsprinzip sozialer Praxis und Regierungspolitik funktioniere (S. 303f.).

In Kapitel 9 geht Stoler auf Sexualpolitik, Trafficking und Internierung als „new intimate frontiers of empire“ ein (S. 334). Sie betont, dass der Schlüssel zur Sexualpolitik kolonialer Herrschaft in der Verteilung sozialer und politischer Gefährdungen lag, die wiederum das Potenzial für Übertretungen nährten (S. 308). Deswegen folgert sie: „If political passions are most profoundly centered on policing the borders of privilege, property, private and public space – and guarding against their permeability – as they have been in imperial formations, one might expect that security regimes and their biopolitical practices to fix on these as well.“ (S. 313) Nötigung und Zwang vervielfältigten sich so in Inhalt und Form, wobei es nicht notwendigerweise um Sex gehe, sondern um körperlichen und psychischen Schaden (S. 313). Sie charakterisiert Entwicklungsprogramme und humanitäre Flüchtlingslager als Teil imperialer Formationen, in denen typischerweise Souveränität, Autonomie und Dienstleistungen versprochen werden, um dann wieder ausgesetzt, verschoben oder eingegrenzt zu werden (S. 325).

Abschließend setzt Stoler sich im zehnten Kapitel mit den Folgen imperialer „duress“ auseinander und skizziert mögliche Forschungsthemen im zu erneuernden Feld der (post)kolonialen Studien. Sie versteht „koloniale Präsenz“ nicht als Vorschlag, die gegenwärtige Welt nur mit kolonialen Geschichten alleine zu erklären. Stattdessen geht es ihr darum zu verstehen, wie aus dieser Präsenz neue Schäden und erneuerte Ungleichheiten folgen (S. 345). Als ein Beispiel führt sie den Umgang mit kulturellem Erbe an: „Rather than the introspective gaze of Europeans on ruins, we need to look to the lives of those living in them.“ (S. 357) Die Analyse materieller Formen könnte sich so zerschlagenen Infrastrukturen, verschmutzten Orten und zerstreuten Familien widmen (S. 353). Konkret am Beispiel Vietnams: „There is nothing 'over' about this form of ruination. It remains in bodies, in the poisoned soil, in water on a massive and enduring scale.“ (S. 374)

Stoler schreibt in einem sehr gehobenen Englisch, in einer komplexen philosophischen Sprache und mit einem hohen Abstraktionsgrad. Ihre (Rück-)Bezüge auf den Kanon französischer Theorie setzen Vorkenntnis voraus. Insofern eignet sich das Buch vor allem für diejenigen, die selbst zu Themen der kolonialen und imperialen Geschichte arbeiten und die Vorannahmen ihrer wissenschaftlichen Theorien und Methoden/Grundsätze hinterfragen wollen. Beim Lesen des ganzen Buches bauen Kapitel aufeinander auf und geben die Möglichkeit, die eigene Arbeit zu spiegeln und zu positionieren. Da einige der Fallbeispiele zuvor schon (in anderen Versionen) publiziert waren, lassen sie sich auch einzeln mit Gewinn lesen, vor allem für diejenigen, die den Forschungsstand zu einem der behandelten Fallbeispiele bzw. Felder rezipieren möchten.