R. Pröve u.a. (Hgg.): Leben und Arbeiten auf märkischem Sand

Titel
Leben und Arbeiten auf märkischem Sand. Wege in die Gesellschaftsgeschichte Brandenburgs 1700 - 1914


Herausgeber
Pröve, Ralf; Kölling, Bernd
Erschienen
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Thomassen, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Ziel dieses von Ralf Pröve und Bernd Kölling zusammengestellten und mit einer kurzen Einleitung versehenen Bandes ist es, einen "ersten Zwischenbericht" über die in den letzten zehn Jahren erzielten Forschungsergebnisse zur brandenburgischen Landesgeschichte im Bereich der Sozialgeschichte vorzulegen. Die Herausgeber betonen, dass gerade in diesem Forschungsbereich erheblicher, auch methodischer Nachholbedarf bis in die jüngste Zeit zu verzeichnen gewesen sei. Erst in den letzten Jahren sei es durch intensive Archivstudien und das Entstehen eines "Forschungsnetzwerkes" im Berlin-Brandenburgischen Raum gelungen, eine Basis zu schaffen, die als Ausgangspunkt für weitere Feldforschungen dienen könne. Der vorliegende Band bestätigt dies eindrucksvoll - auch wenn an der einen oder anderen Stelle Einwände an den formulierten Thesen angebracht erscheinen.

Die Bandbreite der in Leben und Arbeiten auf märkischem Sand behandelten Fragestellungen legte es nahe, die Beiträge in vier große Themenkreise zusammenzufassen: Elitenstreben und sozialer Aufstieg, Strategien und Kulturen des Überlebens, Bürger und andere Minderheiten sowie weitere Felder der Forschung als Ausblick.

Sowohl der Aufsatz von Kay-Uwe Holländer über den brandenburgischen Adel am Hofe Friedrich Wilhelms III. als auch diejenigen von René Schiller über Großgrundbesitz und Nobilitierungen im 19. Jahrhundert und von Norbert Winnige über die Alphabetisierung in der Altmark um 1800 im Abschnitt Elitenstreben und sozialer Aufstieg zeichnen sich durch sehr umsichtiges methodisches Vorgehen aus, das sich nicht zuletzt an der Diskussion des benutzten Quellenmaterials zeigt (z. B. Holländer, S. 18, Anm. 13; Schiller, S. 57, Anm. 27, Winnige, S. 91ff).

Holländer weist mit Hilfe seiner sozialstatistischen Untersuchungen nach, dass am Hofe Friedrich Wilhelms III. die "ständische Exklusivität" der adligen Elite auf der Basis von Leistung und Gesinnung gewahrt blieb und "trotz der individuell erstaunlich weitgehenden Integration" bürgerliche Gruppen auf "Randsegmente des Hofdienstes ... beschränkt" blieben (S. 47). Damit wurde der Hof ein "wesentlicher Initiator und Träger der restaurativ-konservativen Politik". Zugleich verfügte diese Gruppe am Hof - nach Holländer - damit auch über vorteilhafte "Positionen im Konkurrenzkampf um gesellschaftliche Handlungsfelder" (S. 48), die allerdings noch genau zu definieren wären.

Bezüglich der Öffnung der alten Eliten für soziale Aufsteiger kommt Schiller zu ähnlichen Ergebnissen. Persönliche Verdienste, Patronage oder verwandtschaftliche Beziehungen waren für eine Nobilitierung wichtig. Bürgerliche Rittergutsbesitzer, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Land erwarben, waren offensichtlich gar nicht an Nobilitierungen interessiert (S. 86f.). In Preußen "blieb ... eine Elitenbildung, die sich auf Großgrundbesitz stützte - auch durch die beschriebene Nobilitierungspolitik - in rudimentären Ansätzen stecken" (S. 88). Das Phänomen einer wie auch immer gearteten gentrification wirtschaftlich erfolgreicher bürgerlicher Schichten erledigte sich mit dem Ende des Kaiserreichs quasi von selbst.

An das andere Ende der sozialen Skala führt uns der Aufsatz von Winnige. Die Ergebnisse seiner Studien zur Signierfähigkeit der Bevölkerung von Stendal und Umgebung weisen - hierin ist dem Verfasser zuzustimmen - trotz der schmalen Quellenbasis über die Fragestellung nach der Alphabetisierung in der Altmark hinaus. Das liegt allerdings nicht allein daran, dass er die Forschungsergebnisse aus anderen Regionen in seine Interpretation einbezieht (z. B. S. 105ff.). Vielmehr eröffnen seine Studien u. a. indirekt auch Einblicke in die Wirkungsweise staatlicher Schulpolitik (S. 116ff.) und geschlechtsspezifischer Erziehungsvorstellungen (S. 96).

Heinrich Kaaks Beitrag über die brandenburgischen Bauern im 18. Jahrhundert, der den Abschnitt Strategien und Kulturen des Überlebens einleitet, zeichnet sich durch eine, wie es im Untertitel heißt, "mikrohistorische Perspektive" auf das Funktionieren von Gutsherrschaft aus. Nach einer knappen Skizze der einschlägigen Forschungen zur Geschichte "im Kleinen" - genannt seien hier nur die Arbeiten von Medick, Sabean und Schlumbohm - zeigt er auf, dass die Ergebnisse der älteren Forschung bezüglich der Strukturen von Gutsherrschaft durch die neueren Arbeiten grundsätzlich bestätigt werden (S. 144). Bezüglich des "Herrschaftsalltags", des täglichen Zusammenlebens aller Beteiligten in der Gutswirtschaft, fasst er die Resultate der neueren Forschung dahingehend zusammen, dass zwischen Gutsherren und Gutsuntertanen ein modus vivendi gefunden werden musste, der den unterschiedlichen Interessen Rechnung trug (S. 147f.).

Die sozialen Auswirkungen des Bevölkerungswachstums der Großstadt Berlin im 19. Jahrhundert untersucht Rüdiger Hachtmann. Auf der Basis umfassenden statistischen Materials arbeitet er heraus, dass bei einer Verdreifachung der Bevölkerung zwischen 1800 und 1860 die soziale Schichtung "eine beträchtliche Kontinuität" zeigte. Das bedeutete, dass über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg immer mehr als 80% der Bevölkerung zu den Unterschichten zu rechnen waren und mehr oder weniger unter schlechtesten Bedingungen lebten. Charakteristisch für Berlin war die "Vielfalt der sozialen Unterschichten", die aus dem wirtschaftlichen Umbruch dieser Jahrzehnte resultierte. Diese sozialen Unterschichten reichten vom selbständigen Handwerksmeister oder Kleinhändler über Gesellen, Arbeiterinnen und Arbeitern, dem Dienstpersonal bis zum Subproletariat; zunehmend wurden von dieser Entwicklung auch Frauen aus "besseren Kreisen" erfasst (S. 167ff.). Alles in allem zeichnet Hachtmann ein sehr düsteres und trostloses Bild vom Leben und Überleben in der rasch wachsenden Großstadt, zumal es kaum einem der permanent zuwandernden Armen gelang, "aus den erbärmlichen Verhältnissen herauszukommen" (S. 154). Die Parallelen zu Schilderungen aus dem Pionierland der industriellen Revolution sind unverkennbar.

Bernd Köllings Längsschnittstudie über Anbau, Verarbeitung und Konsum von Tabak in Brandenburg von 1700 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs will einen Beitrag über die Verbreitung des Kolonialwarenhandels in Deutschland leisten, und zwar "über ihre 'reale und symbolische Bedeutung' in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive" (S. 191). Aus der Vielzahl der angesprochenen Aspekte sei hier nur herausgegriffen, dass Tabak, wenngleich ein Luxusgut, auch für unterbürgerliche Schichten zum Alltag gehörte (S. 205). Produziert wurde er in der Uckermark im 18. Jahrhundert "in hohem Maße" von Frauen und Kindern für Männer, und: Tabakkonsum galt bis in das 19. Jahrhundert als gesund. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts, mit der Ablösung der Pfeife durch die Zigarre, erlangte die Zigarrenherstellung in Brandenburg große Bedeutung (S. 208f.). Gleichzeitig ging mit der Einführung der "Wickelformen" eine Dequalifizierung der Arbeit einher, die dann "zu einem erheblichen Teil Frauen" erledigten (S. 209f.). Abgerundet werden Köllings Untersuchungen mit einem kursorischen Überblick über die kulturellen Dimensionen des Tabakkonsums in der Industriegesellschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik (S. 213ff.).

Mit Brigitte Meiers Forschungsbericht zur frühneuzeitlichen brandenburgischen Stadtgeschichte wird der dritte Abschnitt Bürger und andere Minoritäten eingeleitet. Ihr Anliegen ist es, "in erster Linie die Neugierde für eine in der Forschung kaum beachtete Städteregion (zu) wecken und Vorurteile abbauen (zu) helfen" (S. 221). Die Vorurteile werden den kleinen Städten in Brandenburg und ihren Bürgern entgegen gebracht, die - zugespitzt - nur als Manövriermasse übergeordneten staatlichen Handelns betrachtet werden. Meier betont dagegen zu Recht und illustriert auch an Beispielen, dass die Stadtbewohner nicht nur "Objekt der Geschichte" waren, sondern durchaus auch selbständig handelten. Damit vertritt sie - ähnlich wie Kaak - den Ansatz, die Geschichte dieser Städte "im Kleinen" zu erforschen, und zwar unter dem Aspekt der "Stadt als zentralen Ort" (S. 232). Schon aus Gründen des methodischen Pluralismus und der Erkenntnismöglichkeiten einer aspektgeleiteten Forschung sollten jedoch auch in Zukunft sektorale Studien zu einzelnen Städten gefördert werden; die Gefahr, dass ausschließlich Laien, Heimatforschern oder Hobbyhistorikern das Feld überlassen werden würde, ist doch relativ gering (S. 232, Anm. 46, 47).

Martin Winter beleuchtet in seinem Beitrag das Verhältnis von Militär und städtischer Gesellschaft in Frankfurt an der Oder gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Er unterzieht "die These Otto Büschs von der 'sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft', die im Kern von einer funktionalen Verbindung des preußischen Militärsystems und der ostelbischen Agrarverfassung ausgeht," einer Überprüfung am Beispiel der Oderstadt (S. 243). Seine Ausführungen gewähren einen tiefen Einblick in das Funktionieren des Kantonsystems in - und man ist geneigt zu sagen: auch mit der Stadt. Er versteht es, die Auswirkungen des Miltärsystems auf die städtische Gesellschaft herauszuarbeiten. Deutlich wird das z. B. an seiner Schilderung des alltäglichen Militärdienstes, dessen Organisation die Soldaten teils zu Konkurrenten für die ansässigen Tagelöhner machte (S. 262). Alles in allem kommt Winter zu dem Schluss, dass "aus der Funktion des Kantonsystems" nicht "auf eine generelle Militarisierung der preußischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert zu schließen" sei (S. 265) - und belegt damit recht eindrucksvoll, welche Ergebnisse die Konzentration auf einen einzelnen Gegenstand zeitigen kann.

Auf der Basis der einschlägigen Forschungen zum Vereinswesen (S. 266, Anm. 1) untersucht Ralf Pröve Schützengilden und Schützenvereine in Brandenburg während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein Ziel ist es, sowohl einen Beitrag zur Vereinsforschung bezüglich der Schützen im allgemeinen zu liefern, als auch "einige Aspekte brandenburgischer Vergesellschaftungsprozesse im Vormärz und die partielle Formierung einer bürgerlichen Gesellschaft in den kleineren und mittleren Städten der Provinz aufzudecken" (S. 267). Nach einer kurzen Schilderung der Geschichte der Vereine inklusive ihres Funktionswandels von der militärischen Organisation zum Geselligkeitsverein liefert Pröve differenzierte sozialstatistische Untersuchungen zur Zusammensetzung der Schützengilden (S. 272ff.). Er unterscheidet drei Typen von Schützengilden oder -vereinen: echte Korporationen, freiwillige Korporationen und Assoziationen, die im Prinzip bis zur Mitte des Jahrhunderts nebeneinander bestehen konnten, obschon der Trend zur Assoziation sich im Laufe der Jahrzehnte verstärkte (S. 283ff.). Zusammenfassend kommt Pröve zu dem vielleicht nicht überraschenden Ergebnis, dass die Schützengilden und -vereine mit ihrem Funktionswandel ein Bindeglied zwischen Tradition und Moderne bildeten. Ihre relative Exklusivität resultierte anfangs daraus, dass die Mitgliedschaft am Stadtbürgerrecht festgemacht wurde, später dann aus der Orientierung an sozioöknomischen Kriterien. Kontinuität bewahrten die Schützen auch auf dem Feld von Gemeinsinn und Bürgergeist, so dass sie "in erheblichem Maße zur Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft in den von der Forschung gerne als rückständig betrachteten brandenburgischen Klein- und Mittelstädten bei"(trugen) (S. 296).

Am Beispiel Brandenburgs (Havel) untersucht Uwe Müller die Entwicklung des Tuchmachereigewerbes und fragt nach der "Struktur der sozialen Träger der Industrialisierung" (S. 300) vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zu den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. Neben wichtigen Ergebnissen zur Organisation und zum Strukturwandel des Tuchmachergewerbes sowie zur Rolle der Zünfte wird gezeigt, dass sich im zweiten Viertel des Jahrhunderts teilweise der Übergang vom Handwerks- zum Fabrikbetrieb vollzog und auch alteingesssene Brandenburger Familien an diesem Prozess beteiligten (S. 310ff): "Es bestand also durchaus die Möglichkeit, vom Handwerksmeister bzw. Heimgewerbetreibenden zum industriellen Mittelständler aufzusteigen." (S. 325). Als dann der Niedergang der Textilindustrie spätestens seit den 60er Jahren nicht mehr zu stoppen war, verfügte die Stadt nach Müller über ein qualifiziertes Arbeitskräftepotential und über eine Unternehmerschaft, die in gewisser Weise den Nucleus für einen erneuten Industrialisierungsprozess seit den späten 70er Jahren bildete (S. 324).

Im letzten Teil des Sammelbandes skizzieren Ulrike Gleixner und Rita Gudermann weitere Forschungsfelder: die Bedeutung von gender studies, Mikrogeschichte und Historischer Anthropologie für die Erforschung der brandenburgischen Landesgeschichte und die Beschäftigung mit den Meliorationen unter Friedrich II. unter neuen Fragestellungen.

Gleixner betont, dass nach Jahrzehnte langer "Vernachlässigung geschlechterspezifischer Fragestellungen" in Ost und West die Landesgeschichte Brandenburgs sich diesen Fragestellungen seit Beginn der 90er Jahre verstärkt zuwendet. Im Folgenden präsentiert sie nach einer kurzen Diskussion des aktuellen Standes der Frauen- und Geschlechtergeschichte eine Vielzahl von Fallbeispielen, die eindrucksvoll die Stärke dieses Ansatzes untermauern und die Namenlosen als Handelnde in die Geschichte zurückholen (S. 333ff.).

Die Landeskulturmaßnahmen Friedrichs II. gelten landläufig als eine großartige Leistung, als Zivilisationsarbeit (S. 360), und zwar bis auf den heutigen Tag. Es ist nicht zu überlesen, dass Gudermann an diesem Befund massiv rüttelt und etliche Belege für eine Relativierung der Bedeutung der Meliorationen liefert (S. 361ff.). Sie fordert nachdrücklich dazu auf, die Perspektive zu wechseln und sich dabei der Methoden der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie der Umweltgeschichte, weniger der "Umweltverschmutzungsgeschichte", zu bedienen (S. 364f.). Dabei rückt dann die Kehrseite der Meliorationsmedaille in den Blickpunkt: die grundlegende Veränderung des Vegetationssystems und die daraus resultierenden und negativ einzuschätzenden Folgen für die dort lebende Bevölkerung (S. 370). Gudermann arbeitet beides sehr plastisch heraus und betont zugleich, dass Größe und Grenzen der friederizianischen Landeskulturmaßnahmen beim jetzigen Forschungsstand nicht abschließend zu beurteilen seien (S. 376). Nach der Generalabrechnung mit der älteren Forschung und der offensiven Art und Weise, wie sie die von ihr zusammengetragenen Belege für eine weitaus kritischere Einschätzung der Meliorationen präsentiert, ruft dieses Fazit allerdings eine gewisse Verwunderung hervor.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die 12 Beiträge des hier besprochenen Sammelbandes aufschlussreiche Beispiele für Wege in die Landes- und Regionalgeschichte - und nicht nur in diejenige Brandenburgs - liefern. Wenngleich viele Ergebnisse noch provisorischen Charakter tragen, so ist doch davon auszugehen, dass z. B. unser Wissen über Klein- und Mittelstädte durch die angekündigten Arbeiten und andere Projekte 1 weiter wachsen wird - die "unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne" schreitet fort. Gerade deshalb ist es wichtig, die hier präsentierten Resultate sowohl methodisch als auch inhaltlich mit denjenigen aus anderen Regionen in Beziehung zu setzen und sie in einem Konzept von "moderner Landesgeschichte" (S. 8) zu verorten.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu das Themenheft Kleine Städte der Informationen zur modernen Stadtgeschichte (1999) 2.

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