C. Nehring: Die Zusammenarbeit der DDR-Auslandsaufklärung

Titel
Die Zusammenarbeit der DDR-Auslandsaufklärung mit der Aufklärung der Volksrepublik Bulgarien. Regionalfilialen des KGB?


Autor(en)
Nehring, Christopher
Erschienen
Heidelberg 2016: heiDOK
Anzahl Seiten
547 S.
Preis
ISBN
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Lorke, Münster

Bulgarien? In historiographischer Hinsicht ist das Land prima vista das Aschenbrödel des „Ostblocks“: In Überblickswerken findet die ehemalige Volksrepublik allenfalls als Moskaus treuester Verbündeter oder als Schauplatz von Großwildjagden Erwähnung. Bei näherer Betrachtung verbinden sich mit der bulgarischen Volksrepublik durchaus international relevante Ereignisse: Etwa der „Regenschirmmord“, 1978 am im Londoner Exil lebenden Schriftsteller Georgi Markov verübt, oder die „bulgarische Spur“ im Zusammenhang mit dem Attentat auf Johannes Paul II. drei Jahre später, wobei in beiden Fällen der bulgarische Staatssicherheit „Dyrzhavna sigurnost“ (DS) eine Schlüsselrolle gespielt haben soll. Doch davon abgesehen ist für Bulgarien, wie für die meisten postsozialistischen europäischen Länder, das Wirken der Staatssicherheit vor 1989/90 und deren Bedeutung weitgehend unerforscht. Auch die Beziehungen zwischen der Auslandsaufklärung der DDR und den „kleineren“ osteuropäischen Geheimdiensten sind, sieht man von Ausnahmen ab1, Desiderat. Dabei war die „Stasi“ stets in einen (ost-)europäischen Kontext eingebunden und agierte im Beziehungsgeflecht der Warschauer Pakt-Staaten.

Von diesen Leerstellen geht der Historiker Christopher Nehring in seiner Dissertation aus, in der er sich mit der Zusammenarbeit der DDR-Auslandsaufklärung HV-A mit der bulgarischen Auslandsaufklärung PGU-DS („Pyrvo glavno upravlenie Dyrzhavna sigurnost“; Erste Hauptverwaltung Staatssicherheit) befasst. Wie der Untertitel seiner Studie andeutet, steht in deren Fokus auch die Anbahnung, Entwicklung und Ausgestaltung der Beziehungen dieser beiden kleineren Aufklärungsabteilungen durch den KGB. Dabei versteht der Verfasser seine Ausführungen explizit als Grundlagenstudie einer Struktur- und Wirkungsgeschichte der bi- sowie trilateralen Kooperation, die deren Dynamiken und Schnittlinien, aber auch Brüche analysiert.

Das besondere Verdienst von Nehrings Arbeit, soviel sei vorweggenommen, besteht in der erstmaligen Auswertung des Archivs der bulgarischen Staatssicherheit (KOMDOS). Das ist umso bedeutsamer, als dass die ohnehin vorhandenen spezifischen Beschränkungen bei geheimdienstlicher Überlieferung hier noch einmal wesentlich problematischer sind: Erst 2007 wurde in Bulgarien als letztem EU-Mitgliedsland ein neues Archivgesetz für die Unterlagen der Staatssicherheit verabschiedet. Doch waren die konkreten Praktiken der Sammlung und Übergabe in das neue Archiv intransparent und von Gerüchten um Aktenzerstörungen, Manipulationen und politischer Einflussnahme flankiert. Erschwerend hinzu kommt die ungebrochen hohe politische und geheimdienstliche Kontinuität seit 1989/90. Erschwerend sind ferner die beträchtliche Politisierung des Themas in der bulgarischen Öffentlichkeit und die persönliche Verwicklung bulgarischer Historiker mit der Staatssicherheit sowie Überlieferungslücken aufgrund von Aktenvernichtungen oder gesetzgeberischen Einschränkungen sowie die kaum vorhandene geschichtswissenschaftliche Aufbereitung.

Die Arbeit besteht aus zehn Kapiteln. Zunächst legt Nehring die normativen Faktoren der geheimdienstlichen Zusammenarbeit dar, wobei das KGB bei der Ausbildung und Entwicklung des Rahmendesigns für die allgemeine Zusammenarbeit eine maßgebliche Rolle spielte: Verschiedene multilaterale Versammlungen dienten als Plattformen für Erfahrungsaustausch und inhaltlich-geheimdienstliche Orientierungen. Ebenfalls vom KGB initiiert waren die bilateralen Vereinbarungen zwischen dem Ministerium für Staatsicherheit und DS in den Jahren 1962 bis 1974. In diesem Zeitraum wurde der Informationsaustausch kontinuierlich ausgebaut. In einem weiteren hinführenden Kapitel (III) stellt Nehring die Kommunikationsmodi, Konfliktregelungen und Kompetenzstreitigkeiten im geheimdienstlichen Alltagsgeschäft vor. Hierzu zählten persönliche und technische Verbindungen ebenso wie das Spezialflugzeug des MfS, das ab den 1970er-Jahren in der Sommersaison regelmäßig zwischen Sofia und Ost-Berlin pendelte, um gefangene „Republikflüchtlinge“ zurück in die DDR zu fliegen.

Das mit Abstand umfangreichste Kapitel IV, auf das gut die Hälfte der Arbeit entfällt, beleuchtet dann in zahlreichen Unterpunkten und mit unterschiedlicher Detaildichte die konkrete Zusammenarbeit der operativen Abteilungen und ist gespickt mit Fallbeispielen. Nehring behält eine thematische und weitgehend chronologische Untergliederung bei und widmet sich zunächst den jeweiligen „Hauptfeinden“. Die Folge war die Zusammenarbeit beider Geheimdienste sowohl auf deutschen als auch bulgarischen Boden. Aufgrund Bulgariens geostrategischer Lage waren dies vor allem die NATO-Brückenköpfe Griechenland und Türkei, woraus die gemeinsame „Bearbeitung“ griechischer und türkischer Staatsbürger mit Wohnsitz in der Bundesrepublik und West-Berlin resultierte. Weitere, in dieser Intensität und Detailtiefe bislang kaum wahrgenommene Kooperationen bezogen sich auf Propaganda- und Desinformationsmaßnahmen, am bekanntesten wohl die AIDS-Desinformationskampagne Mitte der 1980er-Jahre, wonach das Virus vom US-Militär als Biowaffe entwickelt worden wäre.2 Die beiden Dienste verabredeten außerdem gemeinsame „aktive Maßnahmen“ gegen westliche Geheimdienste und führten verschiedene Operationen gegen Griechenland und die Türkei durch, etwa bei der Diffamierungskampagne gegen den griechischen Ministerpräsidenten Andreas Papandreou, der als Gestapo-Agent entlarvt werden sollte. Die wiederholt lancierten Berichte über Fremdenfeindlichkeit oder Diskriminierung in der Bundesrepublik oder über die angebliche Zusammenarbeit zwischen Franz-Josef Strauß und seiner Umgebung mit türkischen oder griechischen Ultrarechten erinnern an aktuelle Debatten über die Rolle von „fake news“ in der internationalen Politik. Hinsichtlich des Papstattentates 1981 relativiert Nehring die bisher vermutete Verwicklung der bulgarischen und ostdeutschen Aufklärung. Zwar fänden sich Belege für eine Beteiligung bei den „aktiven Maßnahmen“, jedoch keinerlei quellgestützte Hinweise auf eine direkte Beteiligung von MfS und noch viel weniger des DS am Attentat selbst (S. 221f.).

Für das gemeinsame Vorgehen gegen die Bundesrepublik beobachtet Nehring ein reziprokes Tauschgeschäft und spricht von einer „konkurrierenden Kooperation“ (S. 123). Bemerkenswert sind dabei verschiedene „Revierstreitigkeiten“, etwa als das MfS im Jahre einen Vorstoß der bulgarischen Aufklärung zur verstärkten Arbeit in West-Berlin 1970 harsch zurückwies. Grenzen bei der Zusammenarbeit werden auch anderswo greifbar. So traten offenbar regelmäßig „Kultur- bzw. Mentalitätsunterschiede“ (S. 499) auf, wobei es wünschenswert gewesen wäre, dass Nehring die entsprechenden Missverständnisse und Dienstverfehlungen noch stärker ausgeführt hätte, was auf der Basis der vorhandenen Quellen aber möglicherweise nur schwer zu leisten ist.

Insgesamt konstatiert Nehring eine schwache Wirkung der Gesamtkooperation, die er mit der geringen Schnittmenge gemeinsamer Interessen und Zielobjekte begründet. Zwar wären in vielerlei Beispielen „logistische“ Hilfe des MfS bei „scharfen Maßnahmen“ gegen bulgarische „Politemigranten“ nachzuweisen. Doch spielte die Verfolgung ideologischer Feinde, von Flüchtlingen oder Dissidenten letztlich keine besonders ausgeprägte Rolle. Stattdessen zog sich, trotz stetiger Ausweitung der Zusammenarbeit, eine erhebliche Asymmetrie durch die Beziehungen. Die HV-A war dank ihrer Stellung, Ressourcen und Möglichkeiten der klar überlegene Kooperations- und Interaktionspartner. Für die PGU-DS wiederum war das ostdeutsche „Bruderorgan“ der mit Abstand wichtigste Partner nach dem KGB. Profitieren konnte die HV-A wohl vor allem bei der „Werbungsarbeit“ in Bulgarien oder bei „Maßnahmen“ gegen die bundesdeutsche Botschaft in Sofia, die in das Visier beider Geheimdienste geriet (Deckname Schloss/“Zamyk“). Nehring konstatiert hier allerdings eine wenig ergiebige Zusammenarbeit, deren größte „Erfolge“ die Anwerbungen eines Mitgliedes der bundesdeutschen Handelsvertretung sowie einer Diplomatengattin waren.

In Kapitel V werden dann die Auslandsniederlassungen einer Betrachtung unterzogen, die der außenpolitischen, militärischen und wirtschaftlichen Aufklärung, der Überwachung exilbulgarischer Organisationen oder der Spionageabwehr dienten. Auf bundesdeutschem Boden orientierten sich diese an den Zentren der bulgarischen Emigration. Auf der anderen Seite wurde Mitte der 1970er-Jahre eine „Operativgruppe“ der HV-A in Bulgarien etabliert, die während der Sommersaison in den Touristenkomplexen an der Schwarzmeerküste tätig war. Bedingt durch die Grenzlage Bulgariens und der Tatsache, dass die „Rote Riviera“ einer der wichtigsten Urlaubsdestinationen für DDR- aber auch westdeutsche Bürger war, bestanden hier günstige operative Bedingungen, was die „beeindruckend hohe HV A-Präsenz“ (S. 412) von bis zu 30 Mitarbeitern vor Ort erklärt. Die weiteren Kapitel seien nur kursorisch angeführt: Abschnitt VI befasst sich mit der Rolle von Agenten und Inoffiziellen Mitarbeitern und liefert u.a. genauere Hinweise zu Anwerbemechanismen (wie die auch anderswo stark verbreitete „Romeo-Methode“), während Kapitel VII zum Ende des MfS in den Akten der DS ausblickhaft vorgeht. Es folgt der Kenntnisstand geheimdienstlicher Arbeit im Westen (Kapitel VIII) und eine theoretische Rückbindung der Erkenntnisse an die Intelligence Theory (IX).

Nehrings Arbeit ist weit mehr als nur ein Agententhriller. In aufwändiger Kleinarbeit hat er Quellen bulgarischer Geheimdienste zutage befördert und das geheimdienstliche Kooperationsverhältnis vermessen. Dadurch gelingt es ihm, die Rolle des ostdeutschen Nachrichtendienstes innerhalb der deutsch-deutschen Beziehungen wie auch im internationalen Kräftefeld von bislang unbekannter – bulgarischer – Seite nachzuvollziehen und damit zugleich ein größeres Puzzlestück bei der Rekonstruktion der Geschichte der HV-A beizusteuern. Weil es sich bei seiner Arbeit um eine Grundlagenarbeit handelt, fällt sie über manche Strecken allerdings recht deskriptiv aus. Eine gestraffte Ausarbeitung in Buchform und eine inhaltliche Zuspitzung einiger Kapitel würden der Arbeit, die zurzeit nur als Online-Publikation vorliegt, zweifellos guttun. Aufgrund der fragmentarischen Quellenlage unberücksichtigt bleiben mussten zudem sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Faktoren. Künftige Forschungen könnten indes auf Basis dieser Studie derartige Fragehorizonte weiter ausloten, bleibt doch die „massive Präsenz der ehemaligen Staatssicherheit im postsozialistischen Bulgarien“ (S. 13) weiterhin ebenso erklärungsbedürftig wie deren umkämpfte Nachgeschichte.

Anmerkungen:
1 Tytus Jaskulowski, Przyjazn, ktorej nie bylo. Ministerstwo Bezpieczenstwa Panstwowego NRD wobec MSW 1974–1990, Warschau 2014; Georg Herbstritt, Entzweite Freunde. Rumänien, die Securitate und die DDR-Staatssicherheit 1950 bis 1989, Göttingen 2016; Christian Domnitz, Kooperation und Kontrolle. Die Arbeit der Stasi-Operativgruppen im sozialistischen Ausland, Göttingen 2016.
2 Dazu bereits ausführlich Douglas Selvage / Christopher Nehring, Die AIDS-Verschwörung. Das Ministerium für Staatssicherheit und die AIDS-Desinformationskampagne des KGB, Berlin 2014.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch