A. Ghignoli u.a. (Hrsg.): Europäische Herrscher und die Toskana

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Titel
Europäische Herrscher und die Toskana im Spiegel der urkundlichen Überlieferung (800-1100). I sovrani europei e la Toscana nel riflesso della tradizione documentaria (800-1100)


Herausgeber
Ghignoli, Antonella; Huschner, Wolfgang; Jaros, Marie Ulrike
Reihe
Italia Regia. Fonti e ricerche per la storia medievale 1
Erschienen
Leipzig 2017: Eudora
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Stieldorf, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Der vorliegende Sammelband bietet die verschriftlichten Beiträge einer Tagung, die 2009 in Leipzig stattfand und erste Ergebnisse des Projektes „Italia regia“ der Öffentlichkeit präsentierte, ergänzt um Aufsätze kooperierender Kollegen und Kolleginnen aus den Jahren 2011–2014. Bei „Italia regia“ handelt es sich um ein Projekt, das François Bougard noch als Leiter der Mittelalterabteilung der Ècole française de Rome anregte und welches seit einigen Jahren als europäisches Kooperationsprojekt unter Beteiligung der Universitäten Florenz, Leipzig, Paris X/Nanterre, Pisa, La Sapienza/Rom und Venedig durchgeführt wird. Formales Ziel ist die Erstellung einer Datenbank, die später auch als Online-Ressource zur Verfügung gestellt werden soll.1 Im letzten Beitrag des vorliegenden Bandes stellen Antonella Ghignoli und Umberto Parrini (S. 211–230) die Datenbank vor, die von den beteiligten Universitäten gemeinsam gespeist und bearbeitet wird und die bislang 127 Diplome und 57 Placita für die Toskana enthält.

Für diese Datenbank werden die Herrscherurkunden des Regnum Italiae vom 8. bis 11. Jahrhundert nach Empfängerregionen bearbeitet, ein Prinzip, das Paul Fridolin Kehr für die Italia Pontificia eingeführt hatte. Inhaltliches Ziel ist eine Neubewertung der Herrscherurkunden zum einen unter stärkerer und konsequenter Berücksichtigung ihrer äußeren Merkmale, zum anderen unter Auflösung der Dichotomie Original-Fälschung sowie drittens durch die Berücksichtigung des Kontextes der jeweiligen Empfängerüberlieferung. Der Sammelband versteht sich als Auftakt zur Reihe „Italia Regia“, die ein Forum für Veröffentlichungen aus dem Projekt heraus sowie zu verwandten Fragestellungen bieten soll.

In zwei Beiträgen widmet sich François Bougard den Placita (S. 15–23, 165–210). Der erste befasst sich in einem kritischen Forschungsüberblick mit grundsätzlichen Bewertungsfragen der Placita vom 8. bis ins 11. Jahrhundert, auch in Abgrenzung oder Gemeinsamkeit zu den Diplomen. So seien in der Karolingerzeit nur Placita der Missi üblich gewesen, bis die Ottonen selbst diese Urkundenform wieder nutzten und schließlich auch die toskanischen Markgrafen – offenbar durchaus in Konkurrenz zu den Herrschern. Zu Recht problematisiert er auch die Zuweisung der Placita zu den sogenannten Privaturkunden, da es sich doch um Urkunden handele, die die Empfänger von einer öffentlichen Autorität erbaten. Allerdings seien die Placita stärker handlungsorientiert, wohingegen das Objekt Diplom besonders auf die beständige Visualisierung herrscherlicher Präsenz ziele; beide Formen hätten sich gelegentlich auch ergänzt. Nach diesen allgemeineren Ausführungen beschäftigt sich der zweite Beitrag vor allem mit ersten Projektergebnissen zur Überlieferung der 165 Placita in der Toskana, die in einem nach Empfängern geordneten Dokumentenanhang mit Überlieferungs- und Drucknachweisen sowie kurzen Kommentaren erstmals zusammengestellt werden. Er beschreibt sie in ihrer jenseits des überwiegenden Hochformates tendenziell weniger festgelegten und durch graphische Zeichen geprägten äußeren Form, wobei die Leistung von Subscriptiones durch Richter zu den Formerfordernissen zählt.

Von den weiteren Aufsätzen befassen sich sechs mit Fragestellungen, die auf die gesamte Toskana bezogen werden. Die mit Karten und Tabellen ausgestattete Untersuchung der 18 zwischen 888 und 926 ausgestellten Herrscherurkunden für Empfänger in der Toskana – von 283 für das Regnum Italiae insgesamt – durch Karina Viehmann (†) (S. 23–36) bezeugt die Anfangsphase der herrscherlichen Erschließung dieses Raumes, die zunächst einmal Bischöfe und geistliche Kommunitäten als Urkundenempfänger der fast überwiegend im Umfeld des Herrschers entstandenen Urkunden kennt, bevor nach 926 auch laikale Einzelempfänger Herrscherdiplome erhielten. Giulia Barone (S. 55–58) stellt einen Einfluss der Königin und Kaiserin Adelheid auf die Ausstellung von Herrscher- und Papsturkunden für monastische Empfänger fest, die nach dem Erhalt bzw. der Absicherung ihrer libertas im Sinne der Klosterreform strebten. Paolo Tomei (S. 77–86) erläutert am Beispiel des Erzkanzlers für Italien, Bischof Hubert von Parma, die Rolle einzelner Persönlichkeiten für den herrscherlichen Zugriff auf eine Region, nicht nur weil der Parteiwechsel Huberts – gemeinsam mit Guido von Modena – von Berengar zu Otto I. 961 ein wichtiger Schritt für die Etablierung von dessen Macht in Italien war, zumal ihm die mit ihm wohl verwandten Ingoniden mit ihren überregional verstreuten Besitzungen darin folgten. Ausgehend von einer Urkunde Huberts mit seiner Unterschrift über ein Bewirtschaftungsabkommen belegt Tomei Huberts Nähe zum Kaiser auch bei dessen Eingreifen in die Verhältnisse der Toskana 964 und 967; die Urkunde wird nun auf 962–972 datiert.

Wolfgang Huschner (S. 119–134) befasst sich mit der Produktion der 25 Urkunden Konrads II. für 16 toskanische Empfänger, die zu mehr als 50% durch Empfänger- bzw. Gelegenheitsschreiber, davon 20 in Italien, erstellt wurden, welche offensichtlich in der Lage waren, eine Herrscherurkunde in akzeptierter Weise zustande zu bringen. Als Vorurkunden dienten ihnen Urkunden der eigenen Bistums- oder Klosterarchive; bevorzugt wurden Urkunden Ottos III. und Heinrichs II. Als fruchtbar erweist sich der Ansatz, Herrscherurkunde als greifbare Visualisierungen eines Aushandlungsprozesses zwischen Herrscher und Empfänger zu sehen, in den andere als Mittler eingeschaltet sein konnten.

Claudia Hentze (S. 135–148) belegt anhand der als einfachen Privilegien gehaltenen Muntbriefe, die nur den Königsschutz beinhalten, dass Heinrich III. diese Urkundenform fast ausschließlich in Italien nutzte, wo sie 27% der von ihm für Italien ausgestellten Urkunden ausmacht. Allein sieben der 21 Urkunden mit Königsschutz begünstigten Klöster in der Markgrafschaft Tuszien und sollten offenbar deren Stellung gegenüber den Markgrafen stärken. Deutlich wird hier, dass die Diplome unterschiedliche herrschaftliche Praktiken gegenüber einzelnen Herrschaftsräumen belegen.

Weitere fünf Beiträge nehmen einzelne Empfänger in der Toskana in den Blick. Sebastian Roebert (S. 37–53) untersucht die 13 Herrscherurkunden von Ludwig dem Frommen bis Otto I. für San Salvatore al Monte Amiata und bewertet dabei einige der Urkunden neu – die 2016 erschienene Edition der Urkunden Ludwigs des Frommen2 konnte noch nicht berücksichtigt werden – und unterfüttert die Kenntnis der bedeutenden Stellung der Abtei, die in der Regel als erster italischer Empfänger eine Urkunde eines neues Herrschers erhielt. Antonella Ghignoli weist das fragmentarisch erhaltene D O. I. 270 nicht mehr San Ponziani in Lucca sondern San Salvatore in Sesto (S. 59–76) zu und bewertet es aufgrund der äußeren Merkmale und sprachlicher Kriterien als Original eines Empfängernotars, wobei der Vergleich mit anderen Urkunden des Klosters in Sesto der Grund für diese Deutung ist. Andrea Antonio Verardi (S. 87–112) untersucht drei in einem Familien- und Rechtsbuch des 14. Jahrhunderts abschriftlich erhaltene – teilweise mit Lücken – Urkunden Ottos III. für einen Maginfred, einem Mitglied der zwischen Lucca und Pisa ansässigen Familie Ripafratta, auf ihre Authentizität. Während die Echtheit von DD 223 und 421 nicht bestritten wird, sei D 382 ein Spurium, das im 12. oder 13. Jahrhundert auf der Grundlage von D 421 angefertigt worden sei, um die Besitzungen und Rechte der Familie mithilfe eines erweiterten Narrativs gegen Ansprüche von Pisa zu sichern; dieses wird zudem neu ediert. Nicolangelo D’Accunto (S. 113–118) skizziert die Canusiner Markgrafen als Konkurrenten der Salier (und deren Missi) um die Ausübung von Herrschaftsrechten in der Toskana, was etwa in den seltenen Erwähnungen der Markgrafen in salischen Herrscherurkunden ebenso wie in dem Fehlen von an diese gerichteten Diplomen zum Ausdruck gekommen sei, wobei die Zahl der Urkundenausstellungen von Heinrich III. zu Heinrich IV. für italische Empfänger ohnehin deutlich zurückging. Die mit 35 erhaltenden Texten im Vergleich recht zahlreichen Placita der Markgrafen zeigen die intensive herrschaftliche Durchdringung ihres Machtbereiches. Zugleich ahmten sie kaiserliche Verwaltungs- und Repräsentationsformen durch die Errichtung einer eigenen Hofkapelle nach. Silio Scalfati (S. 149–163) vollzieht am Beispiel von Urkunden der Pisaner Archive vor allem des 11. Jahrhunderts bis in die 1230er Jahre die Entwicklung von cartae und brevia hin zum instrumentum (publicum) nach und legt dabei den Schwerpunkt auf die verschiedenen Mischformen und Zwischenstufen.

Den Abschluss des Bandes bilden die Neueditionen von D Karlmann 52 für S. Peter und Andreas in Novalesa (Sebastian Roebert), sowie drei Urkunden für Bischöfe von Fiesole: D Wi.1 (Sebastian Roebert und Karina Viehmann [†]), D O. II. 277, D Ko. II. 78 (beide Antonella Ghignoli) (S. 223–254), die hier alle erstmals nach den Originalen ediert werden; für jede der vier Urkunden wurde eine Farbtafel beigelegt. Abgeschlossen wird der Band durch ein Urkundenregister.
Die Beiträge dieses erweiterten Tagungsbandes zeigen, wie vielversprechend die konsequente Beachtung der Empfängerperspektive für diplomatische Forschungen ist. Sie verdeutlichen einmal mehr, dass Urkunden in den Kontext personaler Herrschaftstechniken zu stellen sind und man sie als Ausdrucksformen solcher Bindungen ernst nehmen muss. Dies hat zudem Auswirkungen auf die Untersuchung der Produktionsbedingungen von Urkunden, die sich immer wieder als Ergebnis von Verhandlungen zeigen. Des Weiteren regt der Band zu weiteren Untersuchungen an, auch etwa die Analyse einzelner Urkundenarten im diachronen Vergleich. Bedauerlich ist lediglich, dass die Datenbank, das zentrale Werkzeug des Projektes „Italia Regia“ noch nicht für externe Nutzer freigeschaltet ist, welches aber in Zukunft sicher ein wichtiges Hilfsmittel sein wird.

Anmerkungen:
1http://www.italiaregia.it (29.08.2017). Diese Seite bietet bislang nur die wichtigsten Informationen zum Projekt. Die im Aufbau befindliche Datenbank selbst, die eine einfache und eine erweiterte Suchmöglichkeit haben soll, ist noch nicht freigeschaltet.
2 Theo Kölzer (Hrsg.), Die Urkunden Ludwigs des Frommen (MGH Diplomata Karolinorum 2), 3 Bde., Wiesbaden 2016.