H. Dippel (Hrsg.): Visionen eines zukünftigen Deutschlands

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Titel
Visionen eines zukünftigen Deutschlands. Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49


Herausgeber
Dippel, Horst
Erschienen
Anzahl Seiten
2 Bde., XXV, 1750 S.
Preis
€ 199,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laura Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Bei dem niedern Standpunkte, auf welchem das politische Leben an vielen Orten Deutschlands bisher gestanden, hat die Stimme des Volkes sich nur selten Gehör verschaffen können. Die neuesten Ereignisse haben jedoch hinlänglich bewiesen, daß dies keineswegs in einem Mangel an politischer Meinung seinen Grund gehabt hat.“ (Eingabe Eichsfeld, II, S. 583) Erst die Revolution 1848/49 und die Einberufung einer verfassungsgebenden Nationalversammlung ermöglichten es 354 Einwohnern des Eichsfeld Ende Mai 1848 durch ihre Eingabe an die Frankfurter Nationalversammlung ihre politische Meinung kundzutun und sich an einer verfassungspolitischen Grundsatzdiskussion zu beteiligen.

Der Verfassungshistoriker Horst Dippel hat diesen Verfassungsdiskurs in seiner zweibändigen, 1.750 Seiten umfassenden Edition eingefangen. Anhand von 100 Verfassungsentwürfen und Kommentaren möchte er die Forschungslücke zur innerdeutschen Verfassungsdiskussion 1848/49 schließen.1 Er begreift die Texte als gesellschaftliche Zukunftsentwürfe, als Vorstellungen von der politischen Struktur des zukünftigen Lebens, als „Selbstimagination der Zeit“ (I, S. 4). Einen derartigen Diskurs, der alle Schichten umfasste, habe es in Deutschland zuvor nicht gegeben. Trotz des Scheiterns der Paulskirchenverfassung habe dieser Diskurs von 1848/49 den Ideen und Prinzipien des modernen Konstitutionalismus zum Durchbruch verholfen; in ihm fänden sich gebündelt unsere heutigen Verfassungsgrundsätze wieder (I, S. 1f., 27).

Die Edition ist in einen rund 280 Seiten starken Einleitungsband vom Rang einer Monographie und einen, aus zwei Teilbänden bestehenden, Dokumententeil von 1.470 Seiten gegliedert. Der erste Band umfasst eine umfangreiche Einleitung, an die ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Überblick über die 100 edierten Dokumente sowohl in chronologischer Reihenfolge als auch nach inhaltlicher Gruppierung anschließen. Abgerundet wird der Einleitungsband durch Kurzbiographien der Autoren. Auf ein Stichwortregister wurde verzichtet. Unter Einbeziehung von 160 Archiven wurden die Autoren identifiziert und deren Biographien recherchiert.

Bei den Dokumenten handelt es sich vor allem um gedruckte Flugschriften, ein Fünftel sind Eingaben an die Frankfurter Nationalversammlung. Zeitungsartikel und andere Textsorten wurden aus Gründen der „Arbeitsökonomie“ nicht berücksichtigt (I, S. 28). Der Umfang der Dokumente variiert von 2 bis mehr als 50 Seiten. Es wurden nur solche Texte ausgewählt, die entweder einen eigenen umfassenden Verfassungsentwurf beinhalten, in narrativer Form grundsätzliche Verfassungsstrukturen darlegen oder bestehende Entwürfe kommentieren. Texte, die sich nur mit Einzelfragen beschäftigen, wurden nicht ediert. Die Dokumente sind im Zeitraum vom Ausbruch der Revolution im März 1848 bis zur Verlegung der Nationalversammlung als Rumpfparlament nach Stuttgart im Mai 1849 verfasst worden. Sie stammen aus allen Teilen Deutschlands, schwerpunktmäßig aus Städten. Es ist Dippel aber auch gelungen, den ländlichen Raum z.B. mit Eingaben aus Thülen und Walsdorf abzubilden, womit er seine These eines breiten Diskurses stärken kann.2 Nichtsdestotrotz ist die statistische Auswertung der Dokumente wenig überraschend: die Texte stammen mehrheitlich von einem gebildeten Publikum insbesondere aus den stark politisierten Zentren. Autoren der älteren Generation bevorzugten die konstitutionelle Monarchie, wohingegen die Jüngeren eher für Alternativmodelle eintraten. Dippel war bemüht die Entstehungsdaten der Texte – die von den Publikationsdaten abweichen konnten – auf den Tag genau zu bestimmen. Falls es keine hinreichende Eigendatierung gab, griff er auf Bibliographien zur Flugschriftenliteratur, Veröffentlichungsvermerke in Zeitungen oder inhaltliche Hinweise, bei den Eingaben auch auf die Stenographischen Berichte der Nationalversammlung zurück.3

Dippel ordnet die Dokumente in der Einleitung vier verschiedenen Verfassungsmodellen zu, die er detailliert vorstellt: die konstitutionelle Monarchie, die parlamentarische Monarchie, der moderne Konstitutionalismus, die Verfassung des souveränen Volkes. Er moniert, dass die Forschung sich zu stark auf die Gegensatzpaare Monarchie/Republik und – in Bezug auf die revolutionären
Kräfte – Liberalismus/Demokratie konzentriert und damit inhaltliche Verkürzungen vorgenommen habe. So werde die Bandbreite der damaligen Alternativvorstellungen völlig außer Acht gelassen (I, S. 7–9). Die Zuordnung der Texte in die vier Modelle erfolgt anhand ihrer Positionen zu Oberhauptfrage, Gesetzesinitiativrecht, Wahlrecht, Gewaltentrennung, Ein- oder Zweikammersystem, Bundesstaat/Zentralstaat und oberster Gerichtsbarkeit. Die Positionen zu einzelnen Aspekte konnten innerhalb der Modelle durchaus unterschiedlich ausfallen, die Zuordnung erfolgte anhand des Grundtenors der Texte.

Fast die Hälfte aller Dokumente ordnet Dippel der konstitutionellen Monarchie zu: Ihnen gemein war die Bewahrung des monarchischen Prinzips durch ein Oberhaupt, das mit einem absoluten Vetorecht ausgestattet war und aktiv regieren sollte. Interessanterweise lief dies nicht automatisch auf ein Erbkaisertum hinaus, sondern es wurde auch ein Rotationsprinzip oder häufig die Wahl des Oberhauptes (z.B. auf Lebenszeit oder für eine Wahlperiode von 5–10 Jahren) vorgeschlagen. Mehrheitlich wurde für ein Zweikammersystem und einen Bundesstaat plädiert. Entscheidend waren die politische Rolle des Oberhauptes und die Durchsetzung der Einheit zur Etablierung der Macht Deutschlands, auch auf Kosten der Freiheit.

Im Unterschied dazu sprachen sich die Anhänger der parlamentarischen Monarchie für ein Oberhaupt aus, das das aktive Regieren den dem Parlament verantwortlichen Ministern überlassen sollte. Die Mehrheit befürwortete die Wahl des Oberhauptes auf Zeit. Uneinigkeit bestand dahingehend, ob ein Parlament oder ein Fürstenkollegium wählen sollte. Den Anhängern schwebte mehrheitlich ein Bundesstaat mit einem Zweikammersystem vor. Der Staat sollte dazu dienen, den Bürgern ihre Freiheiten zu garantieren. Obwohl sich berühmte Namen wie die Paulskirchenabgeordneten Karl Biedermann oder Karl Theodor Welcker unter den Verfassern finden, konnte sich nach Dippel die parlamentarische Demokratie gegen die konstitutionelle auch deshalb nicht durchsetzen, weil sie sich durch ihre Positionierung zwischen dem Neuen und dem zu Bewahrenden nicht eindeutig genug als Alternative abgrenzen konnte (I, S. 103f.).

Die Anhänger des modernen Konstitutionalismus plädierten mehrheitlich für eine republikanische Staatsform, wobei das Unterstützerspektrum von gemäßigten Konservativen bis hin zu radikalen Linken reichte. Es sollte ein gewähltes Oberhaupt installiert werden, wobei die Länge der Wahlperiode in den Vorschlägen variierte. Dieses Oberhaupt hatte sich der Verfassung unterzuordnen, wodurch die letztere ein höheres Gewicht erhielt als in den vorherigen Modellen. Uneinigkeit herrschte jedoch in Bezug auf ein Ein- oder Zweikammersystem: Einige lehnten den Bikameralismus mit der Begründung ab, dass dadurch die Aristokratie gestärkt werde. Andere wollten so in einem föderalen Staat die Einzelstaaten nach amerikanischem Vorbild abbilden.

Nur neun Dokumente können dem Modell der Verfassung des souveränen Volkes, also radikaldemokratischen Vorstellungen zugeordnet werden. Dieses Modell favorisierte eine Republik mit einem Einkammersystem, in der das Parlament das Zentrum aller Entscheidungen bilden und die Exekutive sich unterordnen sollte. Es gab Vorschläge mit Elementen der direkten Demokratie, der weitgehendste stammte von dem Naturphilosophen Karl Ludolf Menzzer. In Ablehnung des Repräsentativgedankens beurteilte er Wahlen als Verfälschung des Volkswillens: „[e]s ist also klar, daß das Princip der ‚Volksvertretung‘ durch Wahl […] zu seinem eigenen Untergange führt.“ (Entwurf Menzzer, II, S. 579) Ihm schwebten nach dem Vorbild der Appenzeller Volksgemeinde sonntägliche Volksversammlungen der Bürger in den Orten vor. Eine Mehrheit der Projekte favorisierte einen Zentralstaat, wobei diese Frage in den Abhandlungen kein großes Gewicht hatte. Die teilweise radikalen Vorschläge fanden nicht zuletzt durch den hohen Stellenwert von Freiheit und Recht durchaus Anhänger in der Bevölkerung – allein eine Petition aus Lörrach unterzeichneten 2.800 Bürger.

In die Edition aufgenommen wurden noch 13 weitere Dokumente, die Teil einer Diskussion um die Grundrechte waren und somit nicht den vier Verfassungsmodellen zugeordnet werden konnten. Auch wenn Konservative die Grundrechte als Beschränkung der konstitutionellen Monarchie ablehnten und gemäßigte Liberale nicht alle Grundrechtsforderungen unterstützen, so schien sich ein mehrheitsfähiger Grundrechtskanon von Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Öffentlichkeit und Mündlichkeit in Gerichtsverfahren entwickelt zu haben (I, S. 175). Dippel sieht in diesem Konsens ein entscheidendes Defizit des damaligen Zukunftsdiskurses, da die von der Nationalversammlung verabschiedeten Grundrechte zwar mehrheitlich unterstützt wurden, „doch über die Standardforderungen an den Staat hinausgehend, […] zu keiner intensiven Debatte landauf, landab führten, was die Rechte des Einzelnen in einem zukünftigen Staatswesen sein sollten und wie diese gesichert werden müssten, um Bestand zu haben und die Freiheit zu garantieren mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Staatsaufbau“ (I, S. 178). Dies wiederum half der konstitutionellen Monarchie mit Modifikationen bis 1914 das dominierende deutsche Verfassungsmodell zu bleiben.

Horst Dippel hat eine grundlegende Edition mit einer gehaltvollen Einleitung vorgelegt, die von seiner Expertise für internationale Verfassungsgeschichte zehrt. Die Verweise auf die französischen, belgischen, britischen, schweizerischen und amerikanischen Vorbilder sind jedoch für einen Leser ohne größeres Vorwissen schwer einzuordnen. Dippels gelegentlicher Hang zu langen, verschachtelten Sätzen erschwert es zum Teil, die komplexe Materie zu verstehen. Leider wurde auf Hinweise zur zeitgenössischen Wirkung der Diskursbeiträge verzichtet. Welche Beiträge tatsächlich Einfluss auf die Diskussion in der Nationalversammlung und in der Öffentlichkeit nehmen konnten, bleibt bis auf wenige Hinweise leider offen – auch weil keine Verbindung zu Diskussionen in der Nationalversammlung und im Verfassungsausschuss hergestellt wird.4

Anmerkungen:
1 Bei der anlässlich des 150. Jubiläums der Revolutionen von 1848/49 einsetzenden Publikationsflut spielten verfassungshistorische Aspekte eine untergeordnete Rolle. Der Schwerpunkt lag auf der europäischen Dimension der Revolutionen und kulturhistorischen Ansätzen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist weiterhin Standardwerk: Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850, Düsseldorf 1977.
2 Für Forschung zum ländlichen Raum vgl. Karl-Joseph Hummel, Zonen der politischen Stille, in: Dieter Dowe / Heinz-Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hrsg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 535–554; Klaus Ries, Bauern und ländliche Unterschichten, in: Christof Dipper / Ulrich Speck (Hrsg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt am Main 1998, S. 262–271; Nikolaus Back, Dorf und Revolution. Die Ereignisse von 1848/49 im ländlichen Württemberg, Ostfildern 2010.
3 Dippel gelingt es dabei, die Bibliographien von Paul Wentzcke, Kritische Bibliographie der Flugschriften zur deutschen Verfassungsfrage 1848–1851, Halle (Saale) 1911, und Heinz Boberach / Horst Zimmermann, Publizistische Quellen zur Geschichte der Revolution von 1848 und ihrer Folgen. Inventar der Bestände in der Stadt- und Universitätsbibliothek, im Stadtarchiv und im Bundesarchiv Frankfurt am Main, Koblenz 1996, teilweise zu ergänzen und zu berichtigen. Auf die regionalgegliederten Zusammentragungen der Petitionen von Rüdiger Moldenhauer finden sich hingegen keine Verweise.
4 13 Texte stammen von Mitgliedern der Nationalversammlung.