S. Trültzsch-Wijnen u.a. (Hrsg.): Geschichte(n), Repräsentationen

Cover
Titel
Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen. Medienarchive als Gedächtnis- und Erinnerungsorte


Herausgeber
Trültzsch-Wijnen, Sascha; Barberi, Alessandro; Ballhausen, Thomas
Reihe
Jahrbuch Medien und Geschichte 3
Erschienen
Anzahl Seiten
217 S., 16 Abb., 1 Tab.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Behmer, Institut für Kommunikationswissenschaft, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

„Medienarchive sind Orte, an denen das Wechselverhältnis von Medialität und Historizität durch die Materialität der Archivalien in besonderer Weise deutlich und auch immer wieder problematisiert wird“ (S. 9). Was die drei Herausgeber gleich im ersten Satz ihrer zusammenfassenden Einleitung abstrakt umreißen, das wird in den weiteren 15 Aufsätzen des Bandes konkretisiert – teils in Form von theoretischen Reflexionen, teils mittels aktueller Problemskizzen und immer wieder anhand von (auch sehr speziellen) Beispielen. Dokumentiert werden so die Vorträge und Erträge der 45. Jahrestagung des Studienkreises Rundfunk und Geschichte, die 2015 in Kooperation mit der Zeitschrift „Medienimpulse“ in Wien stattfand.

Eine grundlegende Reflexion liefert Reinhold Viehoff. Auf wenigen Seiten spricht er aktuelle Kernprobleme an: Wie etwa wird kollektives Erinnern und damit Geschichtsschreibung, ja: Geschichte, noch möglich in Zeiten medialer Allgegenwärtigkeit – Zeiten, da etwa Bildikonen durch die digitale Bilderflut kaum mehr entstehen könnten, die Differenz privat/öffentlich schwinde, sich die Unterscheidung von wahrgenommener und erzählter Wirklichkeit, von Fakt und Fiktion auflöse und „jede spätere Archivierung und Geschichtsschreibung schon durch die vorhergehende Medienlogik präformiert“ (S. 89) werde? Wie können ubiquitär vorhandene Geschichten, Bilder, reale wie fiktionale Darstellungen zu Geschichte werden? Was also soll wie und unter welchen Rahmenbedingungen aufbewahrt und aufbereitet werden in den Medienarchiven?

Konkretere Problemskizzen dazu steuern vor allem Leif Kramp, Edgar Lersch und Susanne Hennings bei. Ausgehend vom Doppelcharakter der Medienarchive von Rundfunkanstalten – nämlich auf der einen Seite Produktionsarchive für den laufenden Sendebetrieb zu sein und auf der anderen Seite kulturelle „Gedächtnisorganisationen“, die auch der Forschung zugänglich sein müssten – beschreibt Kramp im längsten Beitrag des Buches unter anderem rechtliche Probleme und zeigt politischen Handlungsbedarf auf: Das audiovisuelle Kulturerbe müsse besser geschützt, die Archivierung gefördert werden. Lersch setzt bei den Archivaren selbst an, liegt doch bei ihnen die „letzte Entscheidungskompetenz“ (S. 45), was da wie aufzuheben sei. Besonders wichtig sei, dass „dem Entstehungskontext mindestens so viel Beachtung zu schenken ist wie dem Produkt selbst“ (S. 48). Es müsse also auch rekonstruierbar bleiben, wie Medieninhalte entstanden sind. Eine umso höhere Verantwortung, da die Archivkräfte ja, wie Gabriele Fröschl deutlich macht, nicht nur sammeln, sondern angesichts der Unmengen potentieller Archivalien auch konsequent „entsammeln“, also aussortieren müssen.

Inwiefern Medienarchive bewahrende „Speichergedächtnisse“ und zugleich historisches Rekonstruieren, Verstehen und Einordnen ermöglichende „Funktionsgedächtnisse“ sein können, illustriert und erläutert Susanne Hennings am Beispiel von drei Schallarchiven: dem Wiener Phonogramm-Archiv, dem Archiv der (deutschen) Sendegesellschaften 1929–1945 und dem Lautarchiv des Deutschen Rundfunks. Die zentrale Funktion dieser Archive ist es demnach, zur „Erinnerungskultur“ beizutragen. Das gilt im Übrigen auch für viele weitere Archive wie die von Johannes Müske näher vorgestellten „Sammlung Dür“ zur Geschichte des schweizerischen Radios und der populären Musik oder auch das von Clemens Schwender und Jens Ebert beschriebenen Feldpost-Archiv Berlin; und auch für private Internetplattformen (auf die Yulia Yurtaeva eingeht), auf denen Medienentwicklung dokumentiert und Medieninhalte gesammelt werden. So ermöglichen die Feldpostbriefe beispielsweise authentische Einblicke, wie Radio und Film genutzt und wahrgenommen wurden, und Online-Portale wie „Wumpus Welt der Radios“ illustrieren mit vielen Beispielen, wie sich Rundfunktechnik entwickelt hat.

Dass „Archiv“ nicht zwingend als konkret physischer oder digitaler Raum zu verstehen ist, in dem Dokumente etc. gelagert, gesichert und weiterer Nutzung zugeführt werden, machen exemplarisch Beiträge von Yvonne Robel, Thomas Wilke und Sandra Nuy deutlich. Robel zeigt am Beispiel von „Suchkind 312“, einem in den 1950er-Jahren in der „Hörzu“ abgedruckten Fortsetzungsroman, der bald auch verfilmt wurde, wie hier kollektive Erinnerung in Form eines Unterhaltungsstoffes vermittelt (oder konstruiert) wurde. Nuy zeichnet nach, wie der Terror der RAF in den 1970er-Jahren und die damit verbundene „Radikalisierung politischer Handlungspraxen im Spielfilm narrativiert“ (S. 113) wurden. Wilke macht anhand der von 2005 bis 2007 produzierten TV-Serie „Rome“ deutlich, wie durch die Inszenierung eine „Reaktualisierung der Historie“ geleistet werden kann, die dann „aus dem kulturellen in das kommunikative Gedächtnis“ übertragen werden kann (S. 133).

Alle diese Beispiele erscheinen zwar weit weg vom Themenfeld „Medienarchive“, doch illustrieren sie zumindest, wie Medien selbst (den Titel des Bandes aufgreifend) als „Gedächtnis- und Erinnerungsorte“ wirken können. Wie hingegen Archivalien in aktuellen Medienproduktionen genutzt werden (können), das verdeutlicht etwa Jean Christophe Meyer anhand der historiografischen Fernsehreihe „Histoire parallèle/Die Woche vor 50 Jahren“ von Marc Ferro, die von 1989 bis 2001 in 630 Folgen wöchentlich auf ARTE ausgestrahlt wurde.

Alles in allem macht der Reader – abstrakt-theoretisch wie auch deskriptiv-exemplarisch – deutlich, was die Herausgeber in Anlehnung an Maurice Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann in ihrer Hinführung programmatisch skizzieren. Nämlich, dass Medienarchive mehr sind als „Speicher“. Sie sind – oder könnten zumindest – „nicht nur Gedächtnis-, sondern Erinnerungsorte [sein, M.B.], die Historisches in die Gegenwart bringen und damit das kulturelle Erinnern maßgeblich prägen“ (S. 9). Wie manche Medien mit den in Archiven verfügbaren Erinnerungen umgehen, auch dafür finden sich hier einige gute Beispiele. Zu hoffen ist, dass der inspirierende Tagungsband wahrgenommen wird und einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, dass die hohe Bedeutung von Medienarchiven auch in Medienunternehmen höher geschätzt wird und sich die teils sehr missliche Archivierungssituation (etwa im Bereich des privaten Rundfunks) unter dem Primat ökonomischer Erwägungen zumindest nicht noch weiter verschlechtert.