U. Krähnke u.a.: Im Dienst der Staatssicherheit

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Titel
Im Dienst der Staatssicherheit. Eine soziologische Studie über die hauptamtlichen Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes


Autor(en)
Krähnke, Uwe; Zschirpe, Anja; Finster, Matthias; Reimann, Philipp
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Abt. Bildung und Forschung, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU)

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der DDR, Schild und Schwert der führenden Partei, der SED, gehört zu den am intensivsten erforschten historischen Institutionen. Das wissenschaftliche Interesse reißt nicht ab. Das hängt mit dem einzigartigen Umstand zusammen, dass die schriftlichen Hinterlassenschaften dieser geheimdienstlichen und geheimpolizeilichen Einrichtung der Forschung zur Verfügung stehen, wenn auch unter eingeschränkten Bedingungen. Die Stasi kann so nicht nur als Herrschaftsinstrument der SED oder exemplarisch als kommunistische Geheimpolizei untersucht werden. Darüber hinaus bietet das MfS in seinen allgemeinen Techniken und Mustern Anschauungsunterricht für Geheimdienste generell in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor diesem breiten Hintergrund rücken auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des MfS in den wissenschaftlichen Fokus: Wer waren die Frauen und Männer, die hier arbeiteten? Was motivierte sie? Wie erfolgte ihre Rekrutierung? Wie sehen sie ihre Tätigkeit heute? Uwe Krähnke, Matthias Finster, Philipp Reimann und Anja Zschirpe haben in einem Forschungsprojekt solche Fragen in das Zentrum ihrer Untersuchung gerückt. Im offenkundigen, aber nicht erwähnten Anschluss an die NS-Forschung fragen sie, wie „ganz normale Menschen“ dazu kamen, „in den DDR-Geheimdienst einzutreten und dort langfristig mitzuarbeiten?“ (S. 19)

Die Autoren geben an, 1989 hätten etwa 78.000 hauptamtliche Mitarbeiter im MfS gearbeitet. Damit bleiben sie etwa um 13.000 unter der offiziell genannten Angabe (S. 17), weil sie zutreffend für ihre Untersuchung die zeitlich befristeten Angehörigen des Wachregiments ausklammern. Allerdings müssten konsequenterweise auch weitere Personengruppen aus dem MfS-Bestand der Hauptamtlichen herausgerechnet werden, weil sie keine originären MfS-Tätigkeiten ausübten.1 Zur Fragestellung schreiben die Autoren weiter: „Es geht um das Passungsverhältnis zwischen den Dispositionen der hauptamtlichen Mitarbeiter (insbesondere deren Habitus, Motivation, Wertvorstellung und Lebensführung) und den institutionellen Rahmenbedingungen des DDR-Geheimdienstes.“ (ebd.) Als Soziologen präferieren sie Fragestellungen, die auch Historiker stellen, sie arbeiten aber mit anderen Methoden. Sie erheben im Nachhinein subjektive Sichtweisen und Selbstdarstellungen, um darin sich manifestierende typische Struktur- und Prozessmerkmale historischer Vorgänge erkennen zu können. Methodisch bewegen sie sich im Rahmen der „Interpretativen Soziologie“. „Das Aufdecken der Bedeutungszuschreibungen handelnder Akteure und der dahinterliegenden typischen sozialen Muster ist das zentrale Anliegen der Interpretativen Soziologie.“ (S. 27)

Die Erhebung umfasst 72 Interviews sowie fünf Experteninterviews, acht Paar- und eine Gruppendiskussion sowie zehn zusätzliche Interviews in einer Pilotphase (S. 35f.) Der Aufwand ist erheblich, zumal etwa 700 frühere MfS-Mitarbeiter angesprochen worden waren. Der Ansatz geht davon aus, dass die Befragten auch Jahrzehnte später kontextuell so reden, dass ihre Ausführungen trotz Erinnerungslücken und -verzerrungen sowie etwaiger Täuschungen – die nicht von vornherein als Absicht unterstellt werden dürften (S. 29) – dennoch im Prinzip ihre Haltungen und Wahrnehmungen von „damals“, also zu den befragten historischen Zeiten, enthalten könnten. „Wir Forschende konnten deutlich sehen, dass die befragten MfS-Mitarbeiter selbst nicht sehen, dass sie nicht sehen, was sie nicht sehen.“ (ebd.) Die Autoren stellen in Rechnung, dass es bei einem so moralisch und emotional aufgeladenen Thema darauf ankäme, „sich reflexiv auf die Erzählungen der ehemaligen DDR-Geheimdienstmitarbeiter einzulassen“ (S. 30). Das geschehe in einer methodisch kontrollierten Weise analytisch, indem „auch unsere eigenen subjektiven Meinungen, Auffassungen und Deutungen zu einem genuinen Bestandteil der gemeinsamen Besprechungen wurden“ (ebd.).

Der letzte Punkt wird leider nicht ausgeführt, so dass unklar bleibt, wie die Interviewerhebung konkret ablief. Da die Interviews Dritten nicht zur Einsicht zur Verfügung gestellt werden, bleibt die empirische Basis etwas nebulös. Ein Basisprinzip historischer Wissenschaft, Vetomacht der Quellen und Verifizierbarkeit von Aussagen, ist daher ausgehebelt.

Nach der Darlegung der Methode und der Fragestellungen folgen sieben Kapitel, in denen die Untersuchungsergebnisse systematisch ausgebreitet werden. Zunächst werden zehn prototypische Lebensverläufe von hauptamtlichen Mitarbeitern vorgestellt. Alles erfolgt anonymisiert. Diese zehn Biographien decken ein breites Spektrum der das MfS prägenden Erwerbsbiographien ab. In den nachfolgenden Kapiteln geht es systematisch zum Beispiel um Dienstlaufbahnen und Karrierewege, Aufstiegschancen und Karrierestaus, Privilegien und Rekrutierungsbedingungen, um den Dienstalltag und das Privatleben. Thematisiert werden ferner Mitarbeiterkontrolle, Disziplinierung und Selbstdisziplinierung, „tschekistischer Habitus“, Altersunterschiede und Generationsprägungen, Frauen im Männerministerium und schließlich die Auflösung der Stasi, den Verlust des Arbeitsplatzes 1989/90 sowie die Integration im vereinigten Deutschland.

Die Autoren entfalten ein sehr anschauliches und breites, analytisch nachvollziehbares und theoretisch eingeordnetes Spektrum von hauptamtlichen Mitarbeitern, die die Geheimpolizeibürokratie prägten. Die Verfasser waren gut beraten, ihr Augenmerk auf die mittlere und untere Hierarchieebene zu lenken, um so etwa die Arbeitsabläufe, die hohe ideologische Beanspruchung, die intensive Durchdringung des Privaten erfassen und analysieren zu können. Sie entwerfen das Bild einer hochgradig ideologisierten und den politischen Zielen des Parteiapparates unterstellten Bürokratie, dessen einzelne Mitarbeiter sich zum Teil bis heute nicht darüber im Klaren sind, was für einer Sache sie mit ihren Verwaltungstätigkeiten dienten. Zwar zeigen sich alle als überzeugte Parteigänger, aber nicht alle scheinen erfassen zu können, was diese Partei für Ziele abseits von Parolen verfolgte.

Trotz der eingangs gemachten kritischen Anmerkungen zur intransparenten Methode der Autoren besticht das Buch durch seine Erzähl- und Erklärdichte zum Alltag und Habitus hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter, was auch deren Leben seit 1990 einschließt. Die Studie stellt eine hervorragende Ergänzung zu Jens Giesekes Standardwerk über die Hauptamtlichen dar, da es genau jene Fragen behandelt, die Gieseke seinerzeit aufgrund anderer Fragestellungen und Methoden weitgehend ausgeblendet lassen musste.2

Zugleich gibt das Buch der Forschung eine Reihe weiterer Fragen mit auf den Weg: Waren die MfS-Mitarbeiter chronisch überlastet und stellte die Überlastung der Institution ein endogen erzeugtes Problem dar? (S. 137) Gab es eine größere Verfälschung der IM-Statistik aufgrund der Planvorgaben, als bislang angenommen wird? (S. 145) Inwiefern sind parteiliche Disziplinierungen im MfS atypisch für die SED? (S. 164) Angemerkt sei, dass das angebotene Beispiel, das die Besonderheit des MfS in Fragen der Parteidisziplinierung illustrieren soll, nicht überzeugend ist: Es handelt davon, dass ein Mitarbeiter in der SED-Gruppe gemaßregelt wird, weil er sein privates Konto geringfügig überzogen hatte. Die Autoren meinen, dies sei seine Privatangelegenheit und daher ein Beispiel für das Besondere im MfS. Das ist nicht korrekt, da in der DDR eine Kontoüberziehung generell nicht gestattet war.3 Da die Stasi über eine eigene Sparkasse verfügte, war sie demzufolge auch befugt, Verstößen gegen die geltenden Bestimmungen nachzugehen. Insofern haben wir es hier mit einer „normalen“ Parteidisziplinierung zu tun, die innerhalb der SED allerorten zu einem immer wiederkehrenden Disziplinierungsritual gehörte. Andere Fragen erscheinen demgegenüber weiterführender: War das MfS eine multiple und keine totale Institution, wie die Autoren vorschlagen? (S. 216–218, 235) War es typisch, dass nur die Mitarbeiter im MfS keine Arbeitsverträge erhielten? (S. 229)4 „Was passiert, wenn Personen, die als gesellschaftlich Etablierte und Arrivierte über einen kollektiven Habitus verfügten, innerhalb kürzester Zeit zu Außenseitern werden?“ (S. 267)

Solche und viele weitere Fragen, auch zu den familiären und privaten Konstellationen, wirft das Buch auf, gibt auch Antworten, die es aber alle lohnen, weiter verfolgt zu werden. Damit sticht diese Studie aus der Masse der kaum noch überschaubaren Stasi-Literatur deutlich hervor.

Anmerkungen:
1 Das hängt damit zusammen, dass der Verwaltungsapparat des MfS durch die Existenz eines eigenständigen Ministeriums erheblich aufgeblähter war als etwa in Polen, der CSSR, Rumänien oder Ungarn, wo die Stasi einen Teil des Innenministeriums bildete, vgl. dazu: Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013, S. 188–189. So wie die Zahlen der hauptamtlichen Mitarbeiter bis heute meist dekontextualisiert dargestellt und aufgebläht werden, so geschieht es mit den Zahlen der Inoffiziellen Mitarbeiter in einem noch stärkeren Maße ebenso, vgl. ebenda, S. 214–237.
2 Vgl. Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin 2000.
3 Gesetzblatt der DDR Teil I Nr. 43 vom 20.11.1975.
4 Das geschah auch im Partei- und Militärapparat zum Beispiel, interessant daran wäre die Frage, wie die Betroffenen mit dieser rechtlich unwägbaren Situation umgingen und inwiefern daraus Rückschlüsse auf habituelle Fragen zu ziehen wären.

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