A. Zajdband: German Rabbis in British Exile

Titel
German Rabbis in British Exile. From 'Heimat' into the Unknown


Autor(en)
Zajdband, Astrid
Erschienen
Boston 2016: de Gruyter
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Halbinger, Ludwig-Maximilians Universität München

In ihrer an der University of Sussex entstandenen Dissertation hat Astrid Zajdband das Schicksal deutscher Rabbiner untersucht, denen die Flucht vor dem Nationalsozialismus nach Großbritannien gelang. Gerade in Bezug auf die Emigration nach Großbritannien dominieren in der deutschen öffentlichen Erinnerung vor allem die Kindertransporte, die in den letzten Jahren mit Gedenkorten in den betreffenden Ausgangsbahnhöfen wie Berlin und Hamburg auch ins topographische städtische Gedächtnis Eingang fanden. Rabbiner hingegen wurden bislang in der Forschung noch nicht gesondert berücksichtigt, obgleich sie zur intellektuellen Elite des deutschen Judentums gehörten.

Zajdband kombiniert deutsche wie britische Primärquellen mit (auto-)biographischen Berichten, um so ein umfassendes Bild der Tätigkeit des deutschen Rabbinats in Großbritannien aufzuzeigen. Dadurch kann sie in ihrer Studie, die sich von den Novemberpogromen 1938 bis zum Tod Leo Baecks 1956 erstreckt, zwei Narrative in vier deskriptiv gehaltenen Hauptkapiteln vorstellen, nämlich die unterschiedlichen Erfahrungen in Deutschland sowie in Großbritannien, die den Kulturtransfer – insbesondere durch die rabbinischen Tätigkeiten – erst verständlich machen. Dabei verknüpft sie Forschungsfelder und Konzepte wie Holocaust-Studien, deutsch-jüdische Geschichte, Exilforschung, jüdische Identitätsforschung, Biographie- und Netzwerkgeschichte sowie Theorienansätze zu jüdischem Leadership und rabbinischer Autorität.

Zunächst erläutert Zajdband die Geschichte des Rabbinats in Deutschland. Im Zuge der Emanzipation wurde durch den politischen Druck von außen das Rabbinat in Deutschland seiner ursprünglichen Macht beraubt und musste sich neu definieren, was sich vor allem in der Hinwendung zu akademisch-säkularer Bildung und damit einhergehend mit dem Phänomen der sogenannten Doktorrabbiner widerspiegelte. Über einen kurzen geschichtlichen Abriss vom Ersten Weltkrieg bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 führt Zajdband aus, dass Rabbiner immer öfter als Verteidiger ihrer Gemeinden gegen einen steigenden Antisemitismus fungierten und gleichzeitig als Ratgeber und Seelsorger in den Gemeinden tätig waren, die durch den Ausschluss von Juden aus dem öffentlichen Leben – besonders nach 1933 –, enormen Zulauf fanden. Um die 184 Rabbiner lebten nach dem 10. November 1938 noch in Deutschland. Von diesen wurden 80 ermordet, allen anderen gelang die Flucht, einem Großteil davon nach Großbritannien.

Dort waren sie zunächst wie alle anderen Flüchtlinge mit enormen Problemen konfrontiert. Nicht allen gelang es, beruflich Fuß zu fassen, auch ausbildungsferne Beschäftigungen wie z.B. als Koch waren möglich. Zajdband stellt detailliert dar, dass es trotz dieser schwierigen Umstände den Rabbinern, die selbst in der Regel mittellos emigrierten, häufig möglich war – zumindest wenn sie der englischen Sprache mächtig waren und sich der neuen Umgebung anpassen konnten –, den Gemeinden seelsorgerische Unterstützung zuteilwerden zu lassen.

Zajdband zeigt netzwerkanalytisch auf, dass Flucht und die Weiterführung rabbinischer Karrieren in Großbritannien ohne bereits bestehende Verbindungen und die Hilfe des britischen Judentums nicht möglich gewesen wären. Der von orthodoxer Seite gegründete Chief Rabbis Religious Emergency Fund sowie das Engagement von Lily Montague, eine der Begründerinnen des liberalen Judentums in Großbritannien, wurden zentral für die Rettungsbemühungen und die Möglichkeit, zumindest teilweise wieder rabbinisch tätig zu werden.

Beim Thema „jüdische Führung“ arbeitet Zajdband gewinnbringend mit dem in der jüdischen Tradition begründeten Konzept der drei Ketarim (Kronen)1 und kann so Macht- und Kompetenzverschiebungen in der Institution des Rabbinats aufzeigen. Jüdische Führung weist demnach eine dreigeteilte Struktur auf: Während Keter Torah die jüdische Gelehrsamkeit betrifft, agieren Rabbiner im Keter Kehunah als Mittler zwischen Gott und der Gemeinde. Der dritte Teil ist Keter Malkhut, der administrative, säkulare Bereiche wie zum Beispiel Wohltätigkeit umfasst und traditionell nicht mit dem Rabbinat verknüpft ist. Im Zuge der Emanzipation, aber auch mit dem steigenden Verfolgungsdruck von außen, verlor Keter Torah als zentraler Aspekt des Rabbinats an Bedeutung, wohingegen die Seelsorge deutlich an Gewicht gewann. Keter Malkhut wurde zudem Teil des Rabbinats, was mit der Ausdünnung des administrativen Personals innerhalb der Gemeinden zusammenhing. Unter der nationalsozialistischen Verfolgung nach 1933 begannen allmählich alle drei Ketarim in der Rolle und Person des Rabbiners zu verschmelzen, was sich auch in der Person Leo Baecks manifestierte. Diese Konstellation setzte sich, so Zajdband, auch im britischen Exil fort. Keter Torah wurde wieder gestärkt und auch Keter Kehunah gewann an Bedeutung, als die Flüchtlinge dringend der Hilfe und des moralischen Beistands vor dem Hintergrund der identitätserschütternden Erfahrungen des Exils bedurften. Dank dieser umfassenden Kompetenzen trugen die Rabbiner zur Stabilisierung des jüdischen Selbstverständnisses bei und schufen mit ihren Predigten und Schriften ein Bewusstsein für die kulturellen und religiösen Traditionen. Zentral waren dafür die Gottesdienste in deutscher Sprache sowie die Erinnerungs- und Trauerarbeit, die die Rabbiner in den Gemeinden leisteten, wie z.B. in Erinnerungsprojekten für die zerstörten Synagogen in Deutschland und Österreich. Die steigenden Besucherzahlen in Synagogen und Gemeinden bedeuteten laut Zajdband allerdings keine gesteigerte Observanz oder neue Frömmigkeit, sondern waren ein Zeichen des durch das rabbinische Engagement gestärkten Zusammenhalts der Exilgemeinschaft. Die Gemeinden fungierten so als geschützte, soziale Räume, in denen Religion als identitätsstiftendes Merkmal relevant war. Auch Keter Malkhut wurde nun verstärkt zur Aufgabe der geflüchteten Rabbiner, gerade was die organisatorische Unterstützung anderer Flüchtlinge betraf, z.B. der Jugendlichen, die mit den Kindertransporten nach Großbritannien gekommen waren. Als mit Beginn des Zweiten Weltkriegs die Klassifizierung als Enemy Alien zur Internierung der vormals Geflüchteten führte, setzten die Rabbiner auch in den Internierungslagern ihre Arbeit fort.

Die Autorin legt dar, wie mit Ende des Krieges das deutsche Rabbinat in Großbritannien allmählich in eine moderne anglo-jüdische Institution mit deutschen Wurzeln überging und das Erbe des deutschen Judentums mit dem britischen verschmolz. Bis 1956 waren Leo Baeck, Bruno Italiener, Caesar Seligmann, Max Dienemann, Benno Jacob, Malwin Warschauer und rund zwei Dutzend weitere Rabbiner verstorben. Im Zuge der Normalisierung des Alltagslebens wurden von ihren jüngeren Nachfolgern die administrativen Aufgaben der Gemeinde, also Keter Malkhut, Personen übertragen, die schon in ihren früheren Gemeinden in diesem Bereich tätig waren. Keter Torah, die frühere Essenz des Rabbinats, ging auf akademische Institutionen wie die Monday Morning seminaries, die Society for Jewish Study und das Leo Baeck College über. Keter Kehunah war die einzig verbleibendende Säule des Rabbinats mit dem zentralen Aspekt der Seelsorge.

Die vorliegende Arbeit führt deutlich das Potential von Forschung, welche gerade auch das religiöse Leben bzw. dessen Bedeutung für den Einzelnen in den Blick nimmt, vor Augen. Die bisherige Vernachlässigung dieser Fragen hat sicherlich damit zu tun, dass das deutsche Judentum als weitgehend assimiliert und fernab der religiösen Praxis vorgestellt wird. Dies hängt u.a. mit einem latenten Bedürfnis zusammen – von dem sich auch die Forschung nicht immer frei machen kann –, Judentum dem eigenen Verständnis nach als „modern“ zu konstruieren. Religiöse Bezüge, soweit sie nicht der eigenen mehrheitsgesellschaftlichen Tradition entstammen, werden eher als rückständig und hinderlich in einer positiven Wahrnehmung der Minorität verstanden. Durch die Einbeziehung des religiösen Aspekts kann Zajdband zeigen, dass die Religion eben nicht – wie lange angenommen – nur eine untergeordnete, zu vernachlässigende Rolle in den Exilgemeinden spielte. Wie konkret religiöse Werte in den Flüchtlingsgemeinden alltagspraktisch gelebt wurden, müsste noch eruiert werden. Generell sieht Zajdband ihre Arbeit als Grundlage für eine Fülle weiterer Arbeiten in verschiedensten Bereichen, beispielsweise auch zum Thema der jüdischen Führung, die für die Zeit der Shoah bislang meist kritisiert bzw. diffamiert wurde, im Kontext der vorliegenden Arbeit aber eine Rehabilitation erfährt.

Auch wenn es wünschenswert gewesen wäre, die theoretischen Grundlagen stärker in die deskriptiven Kapitel der Arbeit zu integrieren und nicht nur im Einleitungs- und Schlussteil eingehend darzulegen, bleibt abschließend festzustellen, dass Zajdbands Studie durchaus überzeugt. Mit der Verknüpfung unterschiedlichster, sich sinnvoll ergänzender Konzepte wählt sie einen originellen Forschungsansatz, der ein bislang bestehendes Forschungsdesiderat ausfüllt. Die Auflistung biographischer Daten über die geflüchteten und ermordeten deutschen Rabbiner sowie eine Reihe von Illustrationen und Tabellen ergänzen sinnvoll die gelungene, angenehm lesbare Studie.

Anmerkung:
1 Stuart A. Cohen, The Concept of the Three Ketarim. Its Place in Jewish Political Thought and its implications for a study of Jewish constitutional history, Ramat Gan 1982.