J. Osterhammel: Die Flughöhe der Adler

Cover
Titel
Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart


Autor(en)
Osterhammel, Jürgen
Erschienen
München 2017: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für Soziopolis und H-Soz-Kult von:
Isabella Löhr, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europas (GWZO)

Eine große Ahnengalerie begleitet dieses jüngste Buch von Jürgen Osterhammel, das bislang unveröffentlichte Vorträge und Reden versammelt, ergänzt um wenige, bereits andernorts erschienene, vom Autor für diesen Band überarbeitete Aufsätze. Friedrich Hölderlin, Sigmund Freud, Georg Forster dienen als Namenspatronen für Preise oder Jahresvorlesungen, für die Osterhammel dankte oder die er bestritt. Das Genre des historischen Essays, wie es das Buchcover ankündigt und das im Klappentext als besondere, selten praktizierte Kunstform herausgehoben wird, als deren Meister sich der Autor erweise, zeichnet sich durch einen freien Tonfall aus, der kommentiert, wertet oder unterhaltsame Bögen schlägt. Es stehen große Themen zur Diskussion wie die Weltöffentlichkeit im 20. Jahrhundert, Grenzen und Möglichkeiten einer globalhistorischen Zeitgeschichte, der „Aufstieg Asiens“ oder die Begriffsgeschichte „des Westens“, die Osterhammel in einem Gestus des Grundsätzlichen bearbeitet, indem er große Linien skizziert oder Themen erkundet. Inhaltlich deckt der Band ein breites Spektrum ab, das in vier Teile gegliedert ist. „Konzepte von Globalität“ versammelt zwei in einem orthodoxen Sinn ‚wissenschaftliche‘ Texte, die sich konzeptionell mit Globalisierung und dem Globalen in der Geschichtswissenschaft beschäftigen. Die beiden anderen Texte, der Aufsatz zur Weltöffentlichkeit im 20. Jahrhundert und ein ursprünglich in der FAZ abgedruckter Artikel zur imperialen Prägung des europäischen Kosmopolitismus, behandeln dagegen eher thematische als konzeptionelle Fragen. Sie würden gut in den dritten Abschnitt passen, der sich unter der Überschrift „Historische Stichworte“ mit so verschiedenen Themen wie der Trias von Bürgerkrieg, Revolution und Krieg, mit Schutz, Protektion und Intervention als historischer Kategorien, mit dem Verhältnis von Zeitlichkeit und Kausalitäten in der Geschichte sowie mit den Umrissen einer globalen Zeitgeschichte befasst. Der zweite Abschnitt „Orte und Räume“ kreist um geografische Problemstellungen. Hier finden sich die bereits erwähnten Aufsätze zum Westen und zu historischen Aufstiegs-, Verfalls- oder Rückschrittsgeschichten für den asiatischen Raum sowie schließlich ein sehr lesenswerter Text über Brücken als Metapher und Praxis des Verbindens. Unter der Überschrift „Ausklänge“ beschließen drei eher spielerische Texte das Buch, die den Eindruck von wohl gehüteten wissenschaftlichen Augäpfeln erwecken: eine kurze Rede über die Sprache und das Schreiben von Büchern, eine schön zu lesende, dem Buch seinen Titel gebende Reflexion über den globalen Wissenshorizont Friedrich Hölderlins sowie ein zoologisch inspirierter Aufsatz zum Tiger.

Die Globalgeschichte, diesen Eindruck gewinnt man beim Lesen, ist für Osterhammel Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil viele Publikationen, die mit Ausdrücken wie global, Welt, Globalgeschichte oder Globalisierung hantieren, begrifflich oftmals unpräzise bleiben und so den Blick auf das Empirische eher verstellen, als dass sie Verstehen fördern. Segen, weil sich Osterhammel angesichts der quantitativen Expansion des Feldes bei aller Kritik und mahnenden Hinweisen, wie schnell eine globalgeschichtliche Arbeit handwerklich missraten kann, eindeutig über die wachsende Zahl guter empirischer Studien sowie an den Möglichkeiten freut, die die genaue Kenntnis von Spezialstudien für das Schreiben von Synthesen eröffnet. Seine eigene Vorstellung von Weltgeschichtsschreibung reflektiert und expliziert Osterhammel immer wieder. Für ihn braucht Globalgeschichte die räumliche Distanz, die von den Dingen oder den historischen Akteuren überwunden wird, und es ist dieser Akt des Überwindens und Verbindens, der für ihn analytisch im Zentrum steht. Nirgendwo wird dies deutlicher als in dem brillanten Aufsatz „Grenzen und Brücken“. Aber, auch das macht Osterhammel am Ende des Textes deutlich, verbunden werden kann nur, was vorher getrennt war mit der Folge, dass jedes „Brückendenken“ nicht umhinkomme, Wert zu legen „auf die freundliche Diskretion des Unterschieds“ (S. 100). Der historische Vergleich bleibt das methodische Kernstück seines Werkzeugkastens, auch wenn es an anderer Stelle lapidar heißt, man solle den Vergleich einfach bleiben lassen, wenn er nicht funktioniert.

Auch wenn die meisten Texte durch ihre analytische Präzision und eine sorgfältige historische Kontextualisierung bestechen, stellt sich trotzdem die Frage, ob das Beharren auf dem Vergleich (jenseits aller Betonung von Zirkulation, Austausch und dem Grenzüberschreitendem) methodisch am Ende weiterführt. Diese Frage drängt sich etwa bei der Lektüre von „Der Aufstieg Asiens“ auf. Osterhammel nähert sich dem Thema zwar ideengeschichtlich, doch bleiben die Erklärungen einer bilateralen Logik verhaftet. Diese orientiert sich an politischen Grenzen und räumt der langen Geschichte der Interaktionen zwischen Asien, Europa und Nordamerika zu wenig Platz ein, als dass der transformative Einfluss dieser globalen Vernetzungen auf die beteiligten Gesellschaften und die damit einhergehende Herausbildung regionaler übergreifender Muster oder Strukturen erkennbar würde. Man muss den Ansatz des border thinking eines Walter Mignolo, den Osterhammel exemplarisch für ein allzu sehr auf kategoriale Auflösung fixiertes Denken zitiert, nicht teilen, um an dieser Stelle zu bemerken, dass seine Emphase für die überzeugenden Einzelstudien einer jüngeren Generation zu wenig anerkennt, dass gerade diese Studien immer mehr Argumente dafür vorlegen, die eigenständige Qualität grenzüberschreitender Beziehungen zu betonen, anstatt globale Verbindungen nur räumlich und instrumentell zu denken.

Als unbestrittener Doyen der Welt- oder Globalgeschichte nimmt Osterhammel sich die Freiheit, das Feld durch einen bisweilen launischen Zugriff und einen großzügigen Pinselstrich immer wieder infrage zu stellen, aber eben nicht ohne immer die Notwendigkeit globaler Perspektiven zu unterstreichen. Osterhammel übt hier eine produktive Verunsicherung. In diesem Sinne geht die im Vorwort geäußerte Hoffnung, der Band inspiriere die jüngere Generation, durchaus in Erfüllung. Das gilt zum Beispiel für seine Überlegungen zum Bürgerkrieg als einer neben Revolution und Krieg bisher wenig beachteten und untertheoretisierten Kategorie, oder für seine Vorschläge, welche Themen eine globalgeschichtlich inspirierte Zeitgeschichte abdecken müsste – auch wenn Migration und globaler Kalter Krieg keine frisch geschöpften Themen mehr sind.

Was bringt die Lektüre den Lesern? Das Buch funktioniert auf mehreren Ebenen. Es ist ein unterhaltsames Buch, geeignet für alle, die einen gut geschriebenen, kenntnisreichen und trotzdem impressionistischen Eindruck von den Themen, Zugriffen und Möglichkeiten bekommen möchten, die die Globalgeschichte bietet. Fachleute finden lesenswerte Überlegungen zu aktuellen Entwicklungen und theoretischen Untiefen sowie historiografische Reflexionen, mit denen sich gut arbeiten lässt. Oder es bietet sich ein thematischer Zugang an über die Texte in den Rubriken „Orte und Räume“ sowie „Historische Stichworte“. Mit der thematischen Breite, dem selektiven Zugriff auf die Globalgeschichte und dem enormen Wissensfundus Osterhammels, der in allen Texten aufscheint, ist dies ein historischer Essayband im besten Sinne. Der Autor hat aber auch ein Buch vorgelegt, das zwischen konzeptionellen Überlegungen, Synthesen und guter Wissenschaftsprosa Blicke hinter die Kulissen gewährt und die Person Osterhammel in verschiedenen Facetten sichtbar werden lässt. Da trifft der Leser auf den Geschichtspolitiker Osterhammel, der Angela Merkel anlässlich ihres 60. Geburtstages zu vermitteln versucht, dass nationale Interessen heute nicht mehr ohne globales Wissen konzipiert werden können und dass dies Konsequenzen haben müsse für die Lehrpläne in den Schulen wie für die strukturellen Rahmenbedingungen, die den Ausbildungsweg des wissenschaftlichen Nachwuchses vorgeben. Gleichzeitig taucht der politische Mensch auf, der seine weltgeschichtliche Praxis als politisch beschreibt (S. 204) und der Bundeskanzlerin eine Unterrichtsstunde ersten Ranges über Zeithorizonte, die Verkettung von Ursachen und Geschichtsbilder erteilt – was man von dieser Art der politischen Interventionen auch halten mag. Es wird der Tierfreund Osterhammel sichtbar, den Zoobesuche zu einer sehr lesenswerten kultur-, politik- und kolonialgeschichtlichen Beschäftigung mit dem Tiger animierten. Wir begegnen einem Autor, den bestimmte Themen wie die Rede vom „Westen“ oder die These, mit dem Aufstieg Asiens werde eine europäisch und westlich geprägte Moderne abgelöst, offenbar nerven, der sie aber aufgreift, um aktuellen wie historischen Verfalls- oder Aufstiegsklischees den Garaus zu machen. Wir entdecken den Bildungsbürger, der bei einen Vortrag vor der Friedrich Hölderlin-Gesellschaft unter Beweis stellt, dass er Hölderlin gelesen hat, dessen Lyrik und Prosa (global-)historisch präzise kontextualisieren kann und sich unter den Zeitgenossen und im Bildungskanon von Klassik und Romantik bestens auskennt. Der Leser lernt einen ‚aufrichtigen‘ Autor kennen, der die ganz unterschiedlichen Anlässe für das Schreiben der Vorträge ernst nimmt, sich gut vorbereitet in die Themen begibt, sie sich einverleibt und sich nicht wiederholt. Der Leser lernt den kritisch kommentierenden Zeitgenossen kennen, der einen Teil seiner Aufsätze zu humanitären Interventionen, globalen Öffentlichkeiten oder zu Brücken mit genauen und lesenswerten Beobachtungen seiner Gegenwart versieht. Schließlich entdecken wir den interdisziplinär interessierten Wissenschaftler, der sich ab einem gewissen Punkt allerdings immer wieder auf seine historische Praxis zurückzieht und der alle Spielarten, die ihm nicht sinnvoll erscheinen, wie die big history, rigoros vom Tisch fegt. Osterhammel spart auch nicht mit verdeckten Selbstbeschreibungen, wenn er etwa den Historiker August Ludwig Schlözer als Alter Ego vorschickt, den „Neugier und Gelehrsamkeit, Furchtlosigkeit gegenüber seinen Fachgenossen und gegenwartsdiagnostischer Urteilswillen“ ausgezeichnet hätten, Eigenschaften, mit denen er heute eine globale Zeitgeschichte schreiben könnte (S. 214).

Vielleicht erklärt dieser vielseitige Einblick in eine geschäftige, weiträumige Werkstatt die Auswahl der Texte besser als alle Versuche der Leser, einen roten Faden zu legen. Osterhammel schlägt den Adler als Leitmotiv vor. In dem titelgebenden Aufsatz „Die Flughöhe der Adler“ schlüpft auf den letzten Seiten Friedrich Hölderlin mit seiner „stratosphärischen Phantasie“ in die Rolle des Alter Ego: „Vogelperspektive, Fernsicht, schnelle und freie Bewegungen im Flug: Von einem solchen hohen und mobilen Blickpunkt aus entwirft Hölderlin gern seine Räume, die dadurch kraftvoll dynamisiert werden.“ (S. 243). Was Osterhammel Hölderlin hier unterstellt, beschreibt seine eigene historische Praxis, die er an anderer Stelle auch den „Satellitenblick des Historikers“ nennt (S. 99). Das Bild des Adlers ist perfekt gewählt, denn kein anderer Greifvogel vereint in sich diesen außerordentlich scharfen Blick aus großer Höhe, das Schweben über den Dingen und die Symbolkraft des Erhabenen und Königlichen. Und es ist Goethe, den Osterhammel eingangs sagen lässt, dass es den Adler nicht interessiere, „ob der Hase, auf den er hinabschießt, in Preußen oder Sachsen läuft“ (S. 7). Aber vielleicht liegt genau hier, in der Flughöhe und der Distanz zwischen ihm und dem Beobachteten, das Problem des Adlers. Es mag den Adler nicht interessieren, ob der Hase in Preußen oder Sachsen läuft, aber es macht einen Unterschied, wo und wie der Hase läuft, und zwar für den Hasen wie für den Adler.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit Soziopolis. http://www.soziopolis.de
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