M. Espagne u.a. (Hrsg.): Asie centrale

Titel
Asie centrale - Transferts culturels le long de la Route de la soie.


Herausgeber
Espagne, Michel; Gorshenina, Svetlana; Grenet, Frantz; Mustfayev, Shahin; Rapin, Claude
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 26,83
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Matthias Middell, Global and European Studies Institute, Universität Leipzig

Noch immer hält sich das Gerücht hartnäckig, der Kulturtransfersansatz sei auf das deutsch-französische Verhältnis beschränkt und habe diesen Entstehungskontext, aus dem Romanistik und Germanistik gleichermaßen wie die Geschichtswissenschaft unbestreitbar großen Gewinn gezogen haben, eigentlich nie verlassen. Schon zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte sich der empirisch erschlossene Kreis deutlich geweitet und sowohl das östlich, das südliche und das nördliche Europa einbezogen, wie einschlägige Bände zu kulturellen Transfers zwischen Frankreich, Russland, Italien, Skandinavien belegen.1 Seit der Gründung des Pariser Laboratoire d’excellence TransferS belegen in rascher Folge erscheinende Bände das weiter ausgreifende Interesse an der wechselseitigen Wahrnehmung und Aneignung europäischer Gesellschaften und solcher in Afrika und vor allem Asien. Der vorliegende Sammelband ist die Frucht einer Tagung in Samarkand und ergänzt eine entsprechende Exploration der französisch-vietnamesischen Beziehungsgeschichte.2

Angesichts des wieder erwachten Interesses an der Seidenstraße, die chinesische Geopolitik als die Route der Zukunft ansieht, liegt es nahe, dieses Symbol eines über viele räumliche und zeitliche Stationen verlaufenden Austausches zwischen Ostasien und der Mittelmeerwelt an den Anfang der Betrachtungen asiatisch-europäischer Kulturtransfers zu rücken. Dies gibt Gelegenheit, die doppelte Historizität kultureller Transfers theoretisch zu entwickeln, wie dies die Herausgeber in einer einleitenden Notiz tun: die „Erfindung“ historischer Referenzen, wie sie auch die konstruktivistische Nationalismusforschung betont und untersucht hat, prägt viele kulturelle Transfers. Dies macht das 19. und teilweise das frühe 20. Jahrhundert zu einer Hochzeit solcher Transfers, die die Aneignung kultureller Inspirationen entsprechend historisch legitimieren. Doch die Geschichte kultureller Transfers reicht weit über diesen Zeitraum zurück, auch wenn dann nicht primär die Erfindung konkurrenzfähiger Nationen/ Nationalkulturen zum Blick auf das Andere motivierte. Die Kulturtransferforschung hat zweifellos eine starke Beziehung zur transnationalen Betrachtung von Nationalisierungsprozessen entwickelt und hat diese ihrerseits enorm vorangetrieben. Aber gleichzeitig inspirierte sie auch Transkulturalitätsanalysen, die deutlich hinter das 18. Jahrhundert verweisen.

Die über 30 Beiträge dieses Bandes, die hier aus Platzgründen nicht alle aufgezählt, geschwiege denn im Detail gewürdigt werden können, bieten reiches Anschauungsmaterial. Sie belegen die Langzeitwirkung des Austausches zwischen Zentralasien und Zentraleuropa anhand von archäologischen Artefakten, die lange vor unserer Zeitrechnung entstanden sind und die Materialität des Austausches belegen. Zugleich schlagen sie einen Bogen zur Etablierung eines wissenschaftlichen Bildes von Zentralasien durch die Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts und damit die Verflechtung von historisch weit zurückliegender Begegnung mit der deutlich rezenteren Ordnung des Wissens um diesen Austausch, die wiederum neue Begegnungen präfiguriert.

Ein zweiter wichtiger Schwerpunkt des Bandes liegt bei der Mittlerrolle Russlands, russischer Händler, Wissenschaftler, Köche, Architekten usw. für den Transfer, der oft gar nicht direkt, sondern über mehrere Stationen vermittelt erfolgte. Dass Transferkonstellationen eher einem Mehreck als einer Linie zwischen zwei Punkten gleichen, ist schon verschiedentlich nachgewiesen worden, aber hier kommt die koloniale Rolle Russlands in Bezug auf Mittelasien hinzu. Die daraus resultierende Machtasymmetrie kann wirksam werden in einer Transferasymmetrie, aber sie kann gerade durch die Transfers auch unterlaufen werden. Für eine Geschichte des Orientalismus bietet sich hier eine reiche Fundgrube zur weiteren Differenzierung der schon länger kritisch betrachteten Eindeutigkeit des Ost-West-Verhältnisses verschiedener Imperien.

Die Konferenzbeiträge gleichen einem Kaleidoskop, durch das man viele Facetten der kulturellen Beziehungen und der wechselseitigen Deutungen von Mittelasien und Europa erkennen kann. Die Ausweitung auf die Archäologie liegt bei dieser Untersuchungsregion selbstverständlich nahe und sie bringt reiche Erträge. Zugleich wird bemerkbar, dass die Aneignung des Kulturtransferansatzes noch immer ihre Grenzen hat – disziplinäre ebenso wie geografische. Der vordem meist unwidersprochen obwaltende Diffusionismus ist uns erhalten geblieben, ihn zu überwinden fällt erkennbar nicht leicht. Wohl vor allem, weil er sich so gut in Narrative der Rückständigkeit (oder der Überlegenheit) fügt, weil er in den eurozentrischen Sozialwissenschaften bis zur Gegenwart die dominierende Sichtweise geblieben ist und diese ungebrochene Autorität genießen.

Es ist den Herausgebern zuzurechnen, dass sie zwar Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Ansätzen gezogen haben, aber die Beiträge nicht in einer Weise eingeebnet haben, dass die Unterschiede in der Herangehensweise zwischen den beteiligten Wissenschaftskulturen nicht mehr erkennbar gewesen wären. So ist der Band zugleich Dokument eines produktiven Austausches über unterschiedliche Perspektiven auf die kulturellen Transfers, die durch Mittelasien verlaufen sind und die Mittelasien zum Topos der Aneignung im eurasischen Raum gemacht haben. Er demonstriert die globalhistorische Fruchtbarkeit eines Ansatzes, der danach fragt, wie sich Gesellschaften und Kulturen durch ihre Bezüge aufeinander konstituieren.

Anmerkungen:
1 Eine ausführlichere bibliografische Bestandsaufnahme findet sich im Netz leicht zugänglich u.a. bei Matthias Middell, Kulturtransfer, Transferts culturels, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 28.01.2016 http://docupedia.de/zg/middell_kulturtransfer_v1_de_2016.
2 Hoai-Huong Aubert-Nguyen/Michel Espagne (Hrsg.), Le Vietnam, une histoire de transferts culturels, Paris 2015.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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