C.Th. Müller: Tausend Tage bei der "Asche"

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Titel
Tausend Tage bei der "Asche". Unteroffiziere in der NVA


Autor(en)
Müller, Christian Th.
Reihe
Militärgeschichte der DDR
Erschienen
Anzahl Seiten
428 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Leonhard, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg

Mit der Gruppe der Unteroffiziere hat man sich im Gegensatz zu den militärischen Eliten seitens der Militärhistoriographie wie auch in der Militärsoziologie bislang nur selten beschäftigt, obwohl die Unteroffiziere als Verbindungsglied zwischen den Soldaten und dem Offizierkorps die Hauptlast der Ausbildung und Erziehung der Masse der Armeeangehörigen tragen. Während für die Bundeswehr zumindest einige Untersuchungen aus den 1980er Jahren vorliegen 1, gibt es über das Unteroffizierkorps der Nationalen Volksarmee (NVA) so gut wie keine Erkenntnisse. Dieses Forschungsdesiderat hat Christian Th. Müller nun für seine Auseinandersetzung mit der Geschichte der NVA aufgegriffen. Die Ergebnisse seiner an der Universität Potsdam eingereichten Dissertation sind im März diesen Jahres in der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) herausgegebenen Reihe „Militärgeschichte der DDR“ erschienen.

Müller hat seine Untersuchung speziell den Unteroffizieren auf Zeit (UaZ) der NVA gewidmet. Damit sind Zeitsoldaten gemeint, „die sich zwischen 1962 und 1990 zu einer Dienstzeit von in der Regel drei, in den Flottenverwendungen der Volksmarine vier Jahre verpflichtet hatten und als Führer kleiner Einheiten oder militärische Spezialisten im Unteroffizierrang eingesetzt wurden“ (S. 2). Müllers Entscheidung für diesen speziellen Fokus ergibt sich aus der ambivalenten Stellung der UaZ in der NVA: Einerseits fungierten die Unteroffiziere auf Zeit gegenüber den Soldaten im Grundwehrdienst als direkte Vorgesetzte mit Führungs-, Überwachungs- und Disziplinierungsaufgaben, andererseits waren sie wie diese den Zwängen der „kasernierten Vergesellschaftung“ 2 unterworfen (ibid.). Angesichts dieser Zwitterrolle scheinen die UaZ in der Tat ein besonders geeigneter Ausgangspunkt zu sein, um die Binnenstruktur, den Alltag der Armeeangehörigen sowie insbesondere das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit in der NVA als „sozialistischen Armee“ zu untersuchen (S. 1).

Müller folgt bei seiner Analyse, deren Schwerpunkt auf den 1980er Jahren liegt, der „Ontogenese des Unteroffiziers auf Zeit von seiner Primär- und Sekundärsozialisation über die Phasen des Wehrdienstes bis hin zur Rückkehr in das Zivilleben und zur retrospektiven Bewertung dieses Lebensabschnittes“ (S. 3): Nach einer einführenden Überblicksdarstellung über die Rolle und Entwicklung des Unteroffizierkorps der NVA im Allgemeinen behandelt er zunächst mit Blick auf die Sozialisation in Elternhaus und Schule die Zeit vor dem Eintritt der Zeitsoldaten in die NVA. Er untersucht danach die Ausbildung zum Unteroffizier sowie die formale Hierarchie und Praxis der „sozialistischen Beziehungen“, bevor er auf die Erfahrungen der Unteroffiziere auf Zeit in den Truppenteilen der NVA und auf das Ausmaß und die Formen der politisch-ideologischen Indoktrination und Überwachung eingeht. Im siebten und letzten Abschnitt erfolgt schließlich eine zusammenfassende Bewertung des Selbstverständnisses der UaZ und der biographischen Relevanz des Wehrdienstes.

Müllers Versuch, „die in der SBZ/DDR-Forschung bislang weitverbreitete Fixierung auf die formalen Herrschaftsstrukturen zu überwinden und den offiziellen Anspruch einer ‚sozialistischen Armee’ mit der Wirklichkeit, wie sie sich anhand von Archivalien und Zeitzeugenberichte darstellt, zu vergleichen“ (S. 380), ist insgesamt geglückt: So weist er beispielsweise hinsichtlich der Verpflichtungsmotive nach, dass die dreijährige Verpflichtung zum Unteroffizier auf Zeit höchstens bei Mitgliedern der SED als Zeichen einer besonders ausgeprägten „sozialistischen Wehrmotivation“ gelten kann. Zumeist jedoch war sie eher das Ergebnis der Abwägung beruflicher und materieller Interessen, wobei die insbesondere in der Schule erfolgte politisch-moralische Nötigung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte.

Darüber hinaus arbeitet Müller sehr anschaulich die Probleme heraus, mit denen die Unteroffiziere auf Zeit bei der Durchsetzung ihrer Vorgesetztenautorität konfrontiert waren. Wie er anhand der einzelnen Ausbildungsschritte und unter Berücksichtigung der offiziellen Vorgaben zeigt, wurden die UaZ insbesondere im Hinblick auf die Dienstgepflogenheiten und in „Führungsfragen“ nur äußerst unzureichend auf den Truppendienst vorbereitet. Deshalb, und weil sie von den Berufsoffizieren kaum anders als die Wehrpflichtigen, die ihnen unterstellt waren, behandelt wurden, hatten sie es schwer, ihre Rolle als Vorgesetzte und Sozialisationsagenten wahrzunehmen. Noch verschärft wurde dies durch den Altersunterschied zwischen den 18 bis 21jährigen Zeitsoldaten und den zumeist deutlich älteren Wehrpflichtigen. Die UaZ konnten daher, so Müllers Fazit, „ihre Führungs- und Erziehungsaufgaben in der Regel erst nach einer Einarbeitungszeit von ein bis zwei Diensthalbjahren [...] erfüllen“ (S. 381).

Neben dem Aufzeigen der Diskrepanz zwischen traditionaler Amts- und funktionaler Sachautorität, die insbesondere „im Innendienst mit seinen funktional nicht gerechtfertigten Forderungen“ (S. 385) deutlich zu Tage trat, belegt Müller ferner auf eindringliche Weise die Formen „sekundärer Anpassung“, durch welche die formalen Strukturen unterlaufen wurden, so dass die Durchsetzung der Befehle und Dienstvorschriften „nur noch zum Teil gewährleistet werden konnte“ (S. 385). Deutlich erkennbar wird hier die „passive Stärke“ der Unterstellten, die „eine Mischform von Kommando- und Aushandlungsstrukturen“ konstituierte, welche wiederum beispielhaft für die DDR-Gesellschaft insgesamt waren (S. 284 u. 385).

Gleichfalls erhebt Müller den Anspruch, nicht nur neben Wolfram Wettes Forderung nach einer Militärgeschichte „von unten“ 3 Fragestellungen und Ergebnissen der Alltags- und Sozial- sowie der Zeitgeschichtsforschung, sondern auch Erkenntnisse der „Militärsoziologie, aber auch der soziologischen Theorie, der Jugendforschung sowie der Anthropologie und der Sozialpsychologie“ zu berücksichtigen (S. 4). Müllers Bestreben, „die Erkenntnismöglichkeiten verschiedener Wissenschaftsdisziplinen“ zu nutzen und seine „historiographische Analyse [...] durch soziologische Instrumentarien“ zu unterstützen (ibid.), ist ohne Zweifel zu begrüßen, lässt sich doch die Frage nach den inneren Verhältnissen in der NVA in Theorie und Praxis nicht allein auf der Grundlage des Aktenstudiums beantworten.

Vor allem der Rückgriff auf Erving Goffmans Theorem der „totalen Institution“ sowie auf Michel Foucaults Machtbegriff 4 erweist sich als besonders geeignet, um die bereits angedeutete prekäre Stellung der Unteroffiziere auf Zeit zwischen den Wehrpflichtigen auf der einen und den Berufssoldaten auf der anderen Seite sowie – nicht zuletzt am Beispiel der „EK-Bewegung“ 5 – das Verhältnis von formalen und informalen Machtstrukturen zu erfassen. Soziologisch-hermeneutische Ansätze scheinen bei der Auswertung der Interviews – über die man allerdings nichts weiter erfährt (siehe unten) – jedoch kaum eine Rolle gespielt zu haben, werden doch die Aussagen der Befragten in erster Linie komplementär zu den aus den Akten herausgelesenen Informationen angeführt. Dies ist um so bedauerlicher, als Müller dadurch mitunter die Chance vergibt, das von ihm immer wieder angeführte, bereits in der Schule ausgebildete und in der NVA verstärkt zum Tragen kommende „Als-ob-Verhalten“, das seiner Ansicht nach einen der wesentlichen Grundzüge der Mentalität der Unteroffiziere auf Zeit ausmacht, empirisch im Einzelnen herauszuarbeiten.

Vor allem deshalb bleibt die Analyse der politischen Haltung der Unteroffiziere auf Zeit und ihr Umgang mit der politisch-ideologischen Indoktrination etwas blass. Die Feststellung, dass die „politisch-ideologischen Erziehungsbemühungen in den Streitkräften zwar in der Lage waren, die zum Zeitpunkt der Einberufung bereits ausgeprägten politischen Auffassungen zu festigen oder zu relativieren, es jedoch nicht vermochten, sie grundsätzlich zu verändern“ (S. 351), klingt somit plausibel, bleibt aber letztlich abstrakt. Auch die Bewertung der Folgen der „gebetsmühlenartigen Wiederholung identischer oder zumindest ähnlicher Thesen“, die „in erster Linie Lethargie bei den Betroffenen“ erzeugt und „die Diskussion abweichender Standpunkte in der Regel vermieden“ hätten, leuchtet ein (ibid.).

Genau über diese „Lethargie“, die, wie Müller ausführt, systemstabilisierend wirkte und durch die „die Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten als Teil der Bevölkerung über längere Zeit neutralisiert“ werden konnten, der aber andererseits ein mitunter hohes Maß an „Pflichtbewusstsein, Leistungsbereitschaft und Loyalität gegenüber der durchaus als Heimat betrachteten DDR“ (S. 387) gegenüberstand, hätte man gerne mehr erfahren, betrifft dies doch ein grundsätzliches Wesensmerkmal der Herrschaftsstrukturen in der DDR, das, wie Müller selbst richtig feststellt, in der NVA genauso wie in anderen Bereichen der Gesellschaft wirkte.

Ein Grund für manche solcher Unschärfen liegt in der mangelnden Erläuterung des methodischen Vorgehens. Die in der Einleitung genannte Zahl von 52 Befragten bezieht sich offenbar auf die schriftliche Befragung, da im Anhang nur 36 Personen als Interviewpartner aufgeführt werden. Geht daraus zumindest die Anzahl der mündlich befragten Wehrpflichtigen, Zeitsoldaten und Berufssoldaten hervor, bleibt die Zusammensetzung des schriftlich befragten Samples im Dunkeln. Dies ist insofern von Bedeutung, als die Auswertung der schriftlichen Befragung eine wesentliche Rolle bei der Gegenüberstellung von Anspruch und Realität des NVA-Alltags darstellt. Angesichts der kleinen Fallzahlen ist außerdem zu fragen, ob man die Ergebnisse anstatt in Prozent nicht besser in absoluten Zahlen hätte angegeben sollen. Bedauerlich ist ferner das Fehlen jeglicher Informationen über die Durchführung der Interviews und die Art der Auswertung. Zwar weist Müller im Anhang darauf hin, dass die Fragebögen, Interviewleitfäden und transkribierten Interviews beim MGFA einzusehen sind (S. 397). Für mehr Transparenz und eine unmittelbar größere Nachvollziehbarkeit bei der Lektüre hätte man allerdings erwarten können, dass die wichtigsten Informationen über die Erhebung und Auswertung der Interviews in einem gesonderten Abschnitt kurz zusammengefasst werden.

Trotz dieser Einschränkung stellt das Buch von Müller in jedem Fall eine lesenswerte, informative und gut strukturierte Arbeit über die inneren Verhältnisse in der NVA dar, die für militärgeschichtlich wie militärsoziologisch, aber auch generell an der DDR interessierte Leser von Interesse sein dürfte. Zu hoffen bleibt, dass weitere Forscherinnen und Forscher dem Beispiel Müllers folgen werden: Zum einen ist es wichtig, dass in zukünftigen Studien die vergleichende Perspektive gestärkt wirkt. Denn nur so können spezifische Eigenheiten der NVA (oder einer anderen Armee) gegenüber allgemeinen Besonderheiten im Militär identifiziert werden, wie es Müller – sofern es die magere Datenlage erlaubt hat – ansatzweise mit Blick auf das Unteroffizierkorps der Bundeswehr versucht hat. Zum anderen ist dieses Buch das beste Beispiel dafür, wie fruchtbar es ist, über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszublicken und andere wissenschaftliche Ansätze zu berücksichtigen.

Anmerkungen:
1 Siehe z.B. Klein, Paul (Hg.), Das strapazierte Rückgrat. Unteroffiziere der Bundeswehr, Baden-Baden 1983; Grodzki, Manfred; Klein, Paul; Rohde, Horst (Hgg.), Soldat – ein Berufsbild im Wandel, Bd. 1: Unteroffiziere, Bonn 1989.
2 Treiber, Hubert, Wie man Soldaten macht. Sozialisation in „kasernierter Vergesellschaftung“, Düsseldorf 1973.
3 Vgl. Wette, Wolfram, Militärgeschichte von unten, in: ders. (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, S. 9-47.
4 Vgl. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973; Foucault, Michel, Dispositive der Macht, Berlin 1978; ders., Mikrophysik der Macht, Berlin 1976.
5 EK steht für Entlassungskandidat; mit „EK-Bewegung“ wird eine NVA-spezifische Ausprägung einer informalen Hierarchie unter Wehrpflichtigen bzw. Zeitsoldaten bezeichnet, die sich an der Zahl der noch in der Armee zu dienenden Tage orientiert.

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