C. Escher: "Deutschland, Deutschland, Du mein Alles!"

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Titel
"Deutschland, Deutschland, Du mein Alles!". Die Deutschen auf der Suche nach ihrer Nationalhymne 1949–1952


Autor(en)
Escher, Clemens
Erschienen
Paderborn 2017: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
364 S., 32 SW-Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Buchner, Nürnberg

Symbole stehen im politischen Raum für eine kulturelle und interaktive Dimension. Sie sind nicht objektiv, ihre Bedeutung erschließt sich jeweils erst mit dem interpretierenden Bewusstsein des Betrachters. Symbole zielen auf die Sinne, auf das Sehen, Fühlen und – im Fall von Liedern und Hymnen – das Hören. Im wissenschaftlichen Rahmen waren die Symboliken von Organisationen, Parteien oder Nationen sowie das symbolische Handeln lange Zeit dem Vorurteil ausgesetzt, politische Botschaften lediglich mit bunten Bildern zu garnieren. Im Zuge des „Cultural Turn“ hat sich dies geändert.1 In Deutschland mit seiner komplexen, gebrochenen Nationalgeschichte waren staatliche Symbole seit jeher umstritten. Nach dem Propagandaüberfluss in der Zeit des Nationalsozialismus machte sich, so zumindest das langjährige Narrativ, in Westdeutschland eine „Symbolmüdigkeit“ breit.2 Diese habe sich erst mit der Wiedervereinigung und spätestens im Fußballsommer 2006 aufgelöst, als die Deutschen plötzlich ganz unbefangen die schwarz-rot-goldenen Fahnen geschwenkt hätten.

Diese Vorstellung ist natürlich ein Mythos. Forscher wie Peter Reichel in seinem Standardwerk zur nationalen Symbolik in Deutschland nach 19453 haben gezeigt, dass die öffentliche Beschäftigung mit dem Thema weit weniger von Befangenheiten geprägt war als angenommen. So lässt sich der Mythos weiter destruieren; in der hier zu besprechenden Buchfassung seiner Dissertation, betreut von Wolfgang Benz an der Technischen Universität Berlin, leistet Clemens Escher einen Beitrag dazu. Sein Thema ist die Diskussion um die westdeutsche Nationalhymne zwischen 1949 und 1952. Dabei ging es im Kern um die Frage, ob das „Lied der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie Haydns wieder in den Rang einer Staatshymne erhoben werden sollte. Erstmals war dies 1922 durch den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert erfolgt, schon damals unter Betonung der dritten Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Die Nationalsozialisten hatten später die seit jeher problematische erste Strophe „Deutschland, Deutschland über alles“ in Verbindung mit dem Horst-Wessel-Lied gesungen. Das klang in der frühen Bundesrepublik nach und sorgte für emotionale Debatten.

Diese entzündeten sich vor allem auch an einem Alternativvorschlag zum Deutschlandlied, den Bundespräsident Theodor Heuss unterbreitet hatte. In dessen Auftrag brachte der Lyriker Rudolf Alexander Schröder das Lied „Land des Glaubens“ zu Papier, für die Vertonung sorgte Hermann Reutter. Das Werk mit seinem christlichen Anstrich und in Verbindung mit der eher betulichen Choralmelodie, vom Präsidenten in einer Silvesteransprache vorgestellt, konnte sich jedoch nicht durchsetzen, wurde eher bespöttelt. Adenauer ging einen anderen Weg, er wollte das Fallersleben-Lied rehabilitieren und ließ die dritte Strophe im April 1950 bei einer später berühmt gewordenen Veranstaltung im Berliner Titania-Palast singen. Schon zu diesem Zeitpunkt war die Debatte im Grunde entschieden, doch erst zwei Jahre später erfolgte die offizielle Bestätigung: In einem Briefwechsel stellten Präsident und Kanzler fest, dass das Deutschlandlied – mit allen drei Strophen – Nationalhymne der Bundesrepublik sei; bei offiziellen Anlässen sollte die dritte Strophe gesungen werden.

Zentrale Quellengrundlage für Eschers Arbeit sind die Briefe, die Bürger zwischen der Gründung der Bundesrepublik 1949 und dem genannten Briefwechsel vom Frühjahr 1952 an Heuss, Adenauer und andere hohe Staatsinstitutionen schrieben. Darin finden sich Kommentare zu den damals vorliegenden Hymnenvorschlägen ebenso wie eine ganze Reihe von Um- und Neudichtungen sowie Kompositionen. Die Zahl der Schreiben wird nicht genau genannt; sie dürfte im niedrigen vierstelligen Bereich liegen. Der Autor begründet seine Quellenwahl wie folgt: „Mit dem inzwischen zur Geschichte gewordenen Einzug der Alltagshistorie in das Forschungsprofil der Historiker bekommt auch ganz allmählich die Quellengattung des Bürgerbriefes für die Geschichte der Bundesrepublik einen höheren Stellenwert.“ (S. 14) Escher gliedert den Stoff thematisch, was den Nachteil hat, dass zuweilen Unzusammenhängendes nebeneinander steht. Zudem führt dies dazu, dass nicht systematisch zwischen der Diskussion um die auf dem Tisch liegenden Vorschläge sowie den zahllosen Um- und Neudichtungen unterschieden wird. Escher verzichtet auch fast vollständig auf zeitgeschichtliche Hintergründe. So erwähnt er die Verwendung des Deutschlandliedes im Nationalsozialismus nur beiläufig. Das dient nicht gerade dem Verständnis und den Zusammenhängen der doch recht komplexen Thematik.

Zu Beginn schildert der Autor in knappen Zügen die „Genese des Hymnenstreits“ nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei die Duplizität der Entscheidungen von 1922 und 1952, die ja einem symbolischen Rückgriff auf die Weimarer Demokratie entsprach, unterbelichtet bleibt. Deutlich wird in der Schilderung, dass es wegen des Missbrauchs in der NS-Zeit bei allen politischen Richtungen Vorbehalte gegen das Deutschlandlied gab. Der damalige CSU-Generalsekretär Franz Josef Strauß mahnte zur Vorsicht, „da man noch immer das Gefühl habe, es müsse in unmittelbarer Folge das ‚Horst-Wessel-Lied‘ erklingen“ (S. 36). Ganz ähnlich schrieb eine SPD-Parteizeitung, wohl der „Vorwärts“: „Man kann das Deutschlandlied nicht singen, ohne in der peinlichen Erinnerung zusammenzuzucken und einen Schauder zu spüren.“ (S. 63) Bedenken wurden auch gegen die wie ein Kirchenlied anmutende Heuss-Hymne laut. In einer Zusendung an den Bundespräsidenten hieß es: „Wir sind weit davon entfernt, das Land des Glaubens und der Liebe zu sein. Es gab Konzentrationslager und Judenverfolgungen!“ (S. 46) Der Autor selbst greift diese Positionen und Diskussionen aber nicht systematisch auf, auch nicht im abschließenden Kapitel „Schuld und Verdrängung“.

Der Abschnitt „Adenauer- und Heussbilder“ veranschaulicht unter Bezug auf Max Webers Charismatheorie den Blick der Deutschen auf Kanzler und Präsident. Es fällt ins Auge, wie oft Adenauer als „Reichskanzler“ tituliert wurde und mit welcher Schärfe Heuss die Kompetenz abgesprochen wurde, in der Hymnenfrage überhaupt entscheiden zu dürfen. Das Kapitel „Generationenkluft und Erwartungsgemeinschaft“ beschreibt die unterschiedlichen Argumentationslinien der Generationen und konstatiert die „Schärfe, mit der die Generation der zwischen 1900 und 1920 Geborenen am Deutschlandlied festhielt“ (S. 106). Überraschend ist das nicht. Ebenso wenig, dass sich in den Briefen ein handfester Antikommunismus manifestiert sowie ein gewisser Neid, dass die DDR bereits 1949 eine neue Hymne vorzuweisen hatte. Missraten ist der Abschnitt zu den Geschlechterverhältnissen, in dem Escher den weiblichen Briefeschreibern ohne Beleg eine größere Unterwürfigkeit attestiert und schließlich ein bizarres Fazit zieht: „Dichten Frauen zumeist in einer ruhigen Nachmittagsstunde ihre private Nationalhymne – manchmal ist man an das Lösen eines Kreuzworträtsels oder an Stopfarbeiten erinnert –, machen Männer zuweilen geradezu eruptive seelische Erschütterungen dafür verantwortlich.“ (S. 143)

Instruktiv sind dagegen die Kapitel zur Religion („Gotteslob und Nationalismus“) sowie mit Abstrichen zu „Raum und Identität“. Dort wie in allen anderen Kapiteln wird deutlich, wie stark die Briefeschreiber den mentalen, gesellschaftlichen und (geo)politischen Denkweisen des NS-Staates verhaftet waren. Dies gilt selbstverständlich und vor allem für die Frage der Schuld an den Menschheitsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges. Irritierenderweise zeigt sich Escher verwundert darüber, dass der reichsdeutsche Nationalismus so stark nachwirkte (S. 278), und stellt fest, dass die „Verdrängung von Schuld“ das Leitmotiv in den Hymnenbriefen gewesen sei (S. 247). Die Diskussion um die Kollektivschuld der Deutschen wiederum, resümiert der Autor, sei von diesen „als Popanz selbst hochgezogen worden, um sich als Opfer zu stilisieren“ (S. 265).

Die Grundthese, die Escher seiner Arbeit mitgibt, ist allerdings nicht, wie in den Briefen relativ unmissverständlich zu Tage tritt, ein Weiterwirken nationalistischer und nationalsozialistischer Haltungen in die junge Bundesrepublik hinein. Zumindest spricht er das nicht klar aus, sondern führt den eher abstrakten Begriff der „Epochenverschleppung“ ein, den er von dem Schriftsteller Gregor von Rezzori übernommen hat. Dieser beschreibt in seinen Bukowina-Romanen eine alte, längst untergegangene Welt, die die Menschen mental in die neue Zeit mitgenommen haben. Welche Epoche bei der Hymnendiskussion 1949 bis 1952 wohin „verschleppt“ worden ist, macht Escher allerdings nicht recht deutlich. Bemerkungen zur politischen Romantik bleiben sehr lakonisch. Besser trifft es da Eschers Bonmot: „Nach dem Weltkrieg kam der Weltschmerz.“ (S. 272) Und er zitiert einen sehr instruktiven Gedanken aus Helmuth Plessners berühmtem Buch „Die verspätete Nation“ von 1935 (bzw. unter diesem Titel erstmals 1959), die Deutschen seien „von vorgestern und übermorgen und haben kein Heute“ (S. 274). In den Bürgerbriefen zur Nationalhymne kommt dieses Weltflüchtige am ehesten zum Ausdruck.

Das Buch weist leider eine Reihe von Schwächen auf. An zwei Stellen erweckt Escher den Eindruck, Heuss und Adenauer hätten lediglich die dritte Strophe des Deutschlandliedes zur Nationalhymne gemacht (S. 208, S. 270). Das ist definitiv falsch. Störend wirken die vielen unnötigen Wertungen des Autors sowie seine gelegentlich etwas sehr umgangssprachliche Ausdrucksweise. Zudem überschätzt er sein eigenes Thema, wenn er darauf beharrt, die „erste Protestbewegung des Landes“ habe sich nicht in der Kritik an der Wiederbewaffnung einige Jahre später manifestiert, sondern in den Bürgerbriefen zugunsten des Deutschlandliedes (S. 52). Gleichwohl bieten die Hymnenbriefe in Clemens Eschers Aufbereitung ein beeindruckendes, durchaus lesenswertes Sittengemälde der frühen Bundesrepublik, wenn man den etwas bemühten theoretischen Überbau wegdenkt. Dass Geschichte oft für die Gegenwart relevant ist, zeigt sich etwa an den Europakonstruktionen, die in den Schreiben durchscheinen, oder an der Bemerkung von Heuss, keine Nachricht habe ihn so „beelendet“ wie jene, dass ein Verein von Einheimischen gegen Flüchtlinge gegründet worden sei (S. 224).

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, 5. Aufl. 2014; dies., Cultural Turns, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.03.2010, http://docupedia.de/zg/Cultural_Turns (14.08.2017).
2 Arnold Rabbow, Symbole der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Niedersachsen, hrsg. von der [niedersächsischen] Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1980, S. 7.
3 Peter Reichel, Schwarz, Rot, Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945, München 2005; siehe dazu meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 09.02.2006, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-6736 (14.08.2017).

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