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Titel
Europe after Empire. Decolonization, Society, and Culture


Autor(en)
Buettner, Elizabeth
Reihe
New Approaches to European History
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 551 S.
Preis
$ 34.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Rempe, Universität Konstanz

„Decolonization in Europe: A Never Ending Story“ – so hätte Elizabeth Buettners Studie zu den Rückwirkungen des Kolonialismus auf Politik und Gesellschaft der europäischen Metropolen seit den 1950er-Jahren auch heißen können. Dies ist jedenfalls die zentrale Botschaft des 500 Seiten starken Buches. Buettner stellt sich darin die Aufgabe, gegen das Vergessen und Verschweigen der Kolonialvergangenheit in gleich fünf europäischen Ländern anzuschreiben – neben den üblichen Verdächtigen Großbritannien und Frankreich nimmt sie auch die Niederlande, Belgien und Portugal ins Visier. Bei diesem Unterfangen kann die in Amsterdam lehrende Historikerin auf breite Literaturbestände zurückgreifen, die in den vergangenen Jahren zur Geschichte der Dekolonisierung in Europa entstanden sind. Daher versteht sie ihr Werk auch als Synthese zu diesem Thema und plädiert für einen „continental turn“, das heißt für eine genuin europäische Geschichtsschreibung zwischen nationalem Containerdenken und globaleren Ambitionen.

Der Begriff des „continental turn“ ist etwas unglücklich gewählt, nimmt doch Großbritannien große Teile ihrer Studie ein. Er vermag allerdings aus einem anderen, gewichtigeren Grund nicht gänzlich zu überzeugen: Es ist die Struktur der Studie, die einer europäischen Perspektive entgegensteht. Das gliedernde Element bleibt ganz überwiegend der einzelne Nationalstaat. Teil I behandelt so in fünf Kapiteln die politischen Prozesse der Dekolonisierung in den jeweiligen Kolonialreichen und -metropolen. Teil II geht in drei Kapiteln Repatriierungs- und Migrationsprozessen nach und beleuchtet neue Identitätsbildungen und -verschiebungen postkolonialer Gruppen bis in die Gegenwart hinein. Auch diese Abschnitte deklinieren nacheinander die fünf Länder durch. Lediglich Teil III, der aus einem einzigen Kapitel zum kolonialen Gedenken und Vergessen besteht, bricht etwas aus dieser nationalstaatlich-additiven Struktur aus und geht stärker systematisch vor; dies hätte auch den anderen Teilen gut getan. Viele politische und soziokulturelle Phänomene der Dekolonisierung waren, wie Buettner am Ende ihrer Studie ganz zurecht betont, in allen untersuchten europäischen Ländern zu beobachten. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen, haben sich etwa die Regeln der Zuwanderung im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre im postkolonialen Europa verschärft (und nicht nur dort, sondern auch in weiteren westeuropäischen Ländern wie Deutschland oder der Schweiz).

Buettners länderweises Vorgehen mag auch damit zu tun haben, dass sie mit einem systematischen Zugriff ihr beeindruckendes Wissen und vielfältiges empirisches Material nicht in der Fülle und Detailliertheit hätte ausbreiten können, die nahezu jedes Kapitel zieren. Besonders ausladend mit fast 200 Seiten ist der erste Teil zu den politischen Prozessen der Dekolonisation geraten. Darin geht Buettner über ihr eigentliches Erkenntnisinteresse der Rückwirkungen des Kolonialismus weit hinaus. Im Vergleich mit vorliegenden Studien zu diesem Thema1 unterscheidet sich ihre souveräne, zugleich urteilsfreudige Darstellung zum einen dadurch, dass sie immer wieder populärkulturelle Phänomene in ihr Narrativ einbindet. So wird etwa der Dekolonisationsprozess der britischen Karibikinseln durch die Analyse des James Bond Romans (und ersten Films) „Doctor No“ von Ian Fleming erhellt oder Belgiens Kolonialregime im Kongo an dem erstmals 1930 aufgelegten Comic-Band „Tintin au Congo“ von Hergé aufgehängt. Zum anderen betont Buettner mit gutem Grund immer wieder (und nicht nur in diesem Teil des Buches) den europäischen Integrationsprozess als bedeutsamen Flucht- bzw. Bezugspunkt für den Rückzug der europäischen Kolonialreiche. In der Positionierung dazu identifiziert sie letztlich auch den wesentlichen Unterschied zwischen Kontinentaleuropa und Großbritannien: Die Briten hätten den Verlust des Empire nie wirklich verwunden und hegten daher bis heute noch imperiale Ambitionen, während Frankreich über ein geeintes Europa unter seiner Führung zu alter Größe zurückfinden habe wollen. Die kleineren Länder hätten sich früher oder später mit ihrer neuen europäischen Rolle angefreundet, auch weil ihre ehemaligen Kolonien an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft assoziiert und dadurch die kolonialen Beziehungen in europäisierter Form ins postkoloniale Zeitalter hinübergerettet wurden.

Die eigentlichen Rückwirkungen untersucht Buettner entlang der Themen Rückkehr, Arbeitsmigration samt ihrer langfristigen Folgen sowie Erinnerungspolitik. Sie macht deutlich, dass von einer gemeinsamen europäischen Erfahrung re-migrierter Gruppen keine Rede sein kann. Wie leicht oder schwer sie sich in Europa wieder einlebten und zurechtfanden, hing stattdessen stark davon ab, wie sie aussahen, welche Aufgaben sie in der Kolonialzeit erfüllt hatten, und wie die einzelnen Staaten mit ihnen umgingen. Auch bei Neuankömmlingen aus den früheren Kolonien bildeten Hautfarbe sowie zunehmend die Religionszugehörigkeit zentrale Faktoren im gesellschaftlichen Umgang mit ihnen. Sie sahen sich so regelmäßig Rassismus und sonstiger Diskriminierung ausgesetzt, obwohl die erste Generation vielfach noch de jure britische oder französische Staatsbürger waren.

Beide Gruppen, Rückkehrer und Neuankömmlinge, mit ihren Kindern und Kindeskindern, beteiligten sich schließlich mit meist diametral entgegengesetzten Positionen an den öffentlichen Deutungskämpfen um die Kolonialgeschichte, die verstärkt seit den späten 1990er-Jahren ausgetragen werden. Auch in diesem Kapitel vermisst die Autorin eindrucksvoll die Debatten in allen fünf Ländern bis ins Detail. Sie bilanziert, dass neben einem kritischen Bewusstsein für die europäische Kolonialvergangenheit auch Kolonialstolz und Nostalgie noch weit verbreitet seien, wenn dieser Teil der Geschichte nicht gar gänzlich in Vergessenheit geraten sei. Eben deshalb gelte es, so Buettners implizites Plädoyer, mit einer kritischen Geschichtsschreibung weiter aufzuklären, um die Dekolonisierung der europäischen Gesellschaften endlich zu vollenden. Als vergangenheitspolitisches Statement ist dies zweifelsohne zu begrüßen. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht drängt sich allerdings die Frage auf, was damit gewonnen ist, Kolonialismus und Dekolonisierung als ausschließliches oder auch nur dominantes Interpretament einer Europäischen Zeitgeschichte aufzurufen. Es verstellt nicht nur den Blick für genuin neue Ursachen sozialer Ungleichheit und Diskriminierung in Europa selbst. Es hält auch davon ab, sich genauer mit den postkolonialen Beziehungen Europas zur restlichen Welt zu befassen. Die gegenwärtige Lage in Europa lässt sich nicht allein und nicht zuvörderst mit der europäischen Kolonialvergangenheit oder einer unvollendeten Dekolonisierung erklären.

Wann die Dekolonisierung in Europa genau zu Ende ging (und woran sich dies festmachen ließe), bleibt demnach weiterhin eine offene historiographische Frage. Wie sie sich in den europäischen Gesellschaften ausgestaltete, lässt sich jetzt nirgendwo detaillierter nachlesen als in Buettners beeindruckender Studie.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Martin Shipway, Decolonization and its Impact: A Comparative Approach to the End of the Colonial Empires, Malden, MA 2008; Martin Thomas / Bob Moore / Larry J. Butler, Crises of Empire: Decolonization and Europe’s Imperial States, 1918–1975, London 2008; zuletzt Jan C. Jansen / Jürgen Osterhammel, Decolonization: A Short History, Princeton 2017.