N. Schweig: Suizid und Männlichkeit

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Titel
Suizid und Männlichkeit. Selbsttötungen von Männern auf See, in der Wehrmacht und im zivilen Bereich, 1893–ca. 1986


Autor(en)
Schweig, Nicole
Reihe
Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beihefte 57
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
126 S., 2 Tab.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ursula Baumann, Philosophisches Seminar, Universität Mannheim

Lag der Schwerpunkt der bisherigen historischen Forschung zum Suizid auf den Diskursen und „den gesellschaftlichen Wahrnehmungen von Selbsttötungen“, konzentriert sich Schweig auf konkrete individuelle Fälle. Deren Überlieferung wird „unter den „Aspekten der Männlichkeit und der Wahrnehmung von Männlichkeit“ analysiert (S. 10), wobei letzteres aufgrund der gewählten Fallgruppen – Seemänner im zivilen Bereich und (Wehrmachts-)Soldaten – naheliegend ist. Verwunderlich ist dagegen, dass Schweig die Disparatheiten und Inkommensurabilitäten ihres Samples nicht thematisiert. Den insgesamt 29 Selbsttötungen auf See, die zum Teil nur summarisch auf 43 Seiten dargestellt werden, stehen 110 Soldatensuizide gegenüber, die auf 34 Seiten ausgewertet werden. Chronologisch verteilen sich die detaillierter betrachteten Suizide auf See auf den Zeitraum von 1900 bis 1974, wobei sich die Mehrheit dieser Fälle auf die Jahre 1933 bis 1939 und 1968 bis 1974 beziehen. Dagegen stammen die im Literaturverzeichnis einzeln aufgeführten 43 Berichte aus den Akten der Wehrmacht aus den Jahren 1940 bis 1943. Hier fällt die Leerstelle 1944/45 auf, die aber nicht thematisiert wird. Zur schärferen Konturierung des genderspezifischen Aspekts hat die Autorin noch um die 20 Suizide von Berliner Männern herangezogen, die von der Polizei zwischen 1930 und 1947 erfasst wurden. Allerdings bringt die Auswertung dieser Fälle keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn.

In Anbetracht dieser Materiallage ist die systematische Gliederung der Studie naheliegend. Nach der Beschreibung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute an Bord folgt ein Kapitel über die Selbsttötungen auf See im Spiegel der Berichte der Seeämter. Nach der Auswertung der militärischen Überlieferung zum Suizid von Wehrmachtsangehörigen sind die beiden letzten Kapitel dem Vergleich gewidmet. Die verbindende Klammer soll durch das Interpretament „Männlichkeit“ geliefert werden. Heuristisch ergiebiger ist für diesen Quellenbestand aber das Faktum, dass die Existenz sowohl von Soldaten als auch von Seeleute durch totale Institutionen (Goffmann) bestimmt ist; ein Begriff, den Schweig selbst nicht explizit verwendet, aber der Sache nach in Anspruch nimmt. Zwar erfolgte die Arbeit auf einem Handelsschiff im Rahmen eines freiwillig eingegangenen Vertrags im Unterschied zur Wehrpflicht, aber der Mangel an Bewegungsfreiheit und Privatheit, die Trennung von der Familie, eine homosoziale Gemeinschaft mit einem strikten disziplinarischen Regime stellen signifikante Gemeinsamkeiten zwischen dem zivilen maritimen und dem militärischen Bereich dar. Darüber hinaus folgt die Überlieferung der Fälle einem gemeinsamen Muster. Die Untersuchung der Seeämter war ebenso wie die der Wehrmachtsbehörde an der Frage orientiert, ob der Suizid als beruflich bedingt zu betrachten war und dementsprechend einen Rentenanspruch für die Hinterbliebenen generierte.

Welche Ergebnisse ergibt die vergleichende Betrachtung? Gefragt wird nach der Tötungsmethode, den Motiven und Auslösern und den Wahrnehmungen und Bewertungen des jeweiligen Suizids. Dass fast alle Seeleute den Tod im Wasser suchten, dürfte nicht überraschen. Obwohl Schweig selbst explizit erwähnt, „ dass die Seeleute das ihnen offenbar nächstliegende, zur Verfügung stehende Mittel wählten, um ihr Leben zu beenden“ (S. 99), führt sie die Sichtweise an, nach der das Ertrinken als weibliche, weil eher weiche Methode gilt. Ihre zweifellos zutreffende Feststellung, dass die Vorgesetzten der Seeleute wie auch der Soldaten zur Erklärung der Selbsttötungen oft körperliche und psychische Krankheiten anführten, interpretiert die Autorin ebenfalls als Beleg dafür, dass die Suizidenten mit Merkmalen beschrieben wurden, die „vor allem als weiblich gelten“ (S. 107). Möglicherweise waren aber die zeitgenössischen Beobachter da schon weiter als heutige Gendertheoretiker/innen und gingen ganz selbstverständlich davon aus, dass es auch schwache, für harte Jobs wenig taugliche Vertreter des starken Geschlechts gibt. Tatsächlich war und wird die Selbsttötung überwiegend von Männern praktiziert, Schweig weist selbst darauf hin, dass das Verhältnis von Männern und Frauen bei 3:1 liegt. Dass der Suizid in der europäischen Tradition oft mit Schwäche und Feigheit konnotiert ist, könnte der starken christlichen Ablehnung geschuldet sein. Hier wären interkulturelle Vergleiche über die Wahrnehmung von Selbsttötungen im militärischen Bereich und in der zivilen Schifffahrt sehr sinnvoll.

Bemerkenswert ist, dass in den Untersuchungen im seemännischen Bereich die „Bewertungen der charakterlichen Eigenschaften“ weniger ausgeprägt sind als beim Militär. Schweig erklärt dies damit, dass es an Bord eines Schiffes in erster Linie um die Arbeitsleistung ging, während die Kameradschaft der Soldaten diffizile normative Anforderungen stellte. Das ist sicher richtig, lässt aber einen wesentlichen Punkt unerwähnt: Im Kampfeinsatz geht es um Leben und Tod, auf See dagegen gehören potentiell tödliche Situationen nicht zum Alltag der Schiffsbesatzung. Die Zuverlässigkeit und Opferbereitschaft eines Soldaten entscheidet nicht nur über die Erfolgschancen des Unternehmens, sondern auch über das Wohl und Wehe seiner Kameraden.

Bei den Suizid-Motiven sticht in der Wehrmacht die Furcht vor Bestrafung heraus, dagegen spielten auf See bis in die 1930er-Jahre Misshandlungen am Arbeitsplatz eine erhebliche Rolle, gleichrangig mit Familien- und Beziehungsproblemen. Letzteres wurde in ähnlicher Größenordnung auch in den Berichten der Militärbehörden genannt. Dass in beiden Lebensbereichen wirtschaftliche Schwierigkeiten als Motiv kaum genannt wurden, ist nicht erstaunlich, dagegen war es bei den von der Berliner Polizei berichteten Selbsttötungen dominant.

In ihrem „Fazit“ relativiert Schweig die Aussagekraft der berichteten Einzelfälle: „Je ausführlicher die Akten der Institutionen waren, desto deutlicher wurde, dass jedem einzelnen Suizid individuelle Ereignisse vorausgegangen waren, die einzigartig für diese eine Tat waren“(S. 116). Dies ist sicher richtig. Weil die Subjektivität des Individuums von außen, aus der Perspektive der dritten Person nicht vollständig fassbar ist, trifft auch zu, dass es sicheres Wissen nur über das gibt, „was über einen Suizid gesagt wurde und wie dieser bewertet und eingeordnet wurde“ (S. 116). Der unhintergehbaren Individualität steht aber das Typische gegenüber, das Selbsttötungen verbindet. Der Entschluss, seinem Leben ein Ende zu setzen, setzt abstrakt betrachtet voraus, dass das Weiterleben als unerträglich empfunden wird. So individuell verschieden die Gründe dafür sind, so machen die zahlreichen Fallbeispielen in eindrücklicher Monotonie deutlich, welche Faktoren den Lebenswillen einzelner unterminieren: Krankheiten, einschließlich Alkoholabusus, tatsächliche oder gefühlte Subsistenznöte, der Verlust der Arbeitsfähigkeit und Beziehungsprobleme der unterschiedlichsten Art.

Die Präsentation vieler solide recherchierter Selbsttötungen ist eine Stärke von Schweigs Studie, die zugleich aber auch ihre Schwäche ist, fällt doch die analytische Ausbeute eher mager aus. Die Quellenbasis lässt einen diachronen Zugriff kaum zu und das heuristische Instrument „Männlichkeit“ trägt wenig zur Erhellung bei. Genau das könnte man aber – dann durchaus positiv – als nicht unwichtiges Ergebnis der Untersuchung festhalten.

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