E. Schönherr: Infrastrukturen des Glücks

Titel
Infrastrukturen des Glücks. Eine Bild-, Raum- und Infrastrukturgeschichte Mallorcas im 19. und 20. Jahrhundert unter Berücksichtigung des Tourismus


Autor(en)
Schönherr, Ekkehard
Anzahl Seiten
802 S.
Preis
ISBN
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Ebeling, Fachbereich Geschichte, Universität Trier

„Mallorca, so voll wie nie“1; so oder so ähnlich lauteten die Schlagzeilen im vergangenen Sommer (rund 12 Millionen Touristen 2016 bei ca. 870.000 Einwohnern). Bis zu 100 Starts und Landungen pro Stunde. Der Kreuzfahrttourismus hat dazu geführt, dass die Innenstadt von Palma in der Hochsaison von den Einheimischen gemieden wird, Fastfoodrestaurants und Klimbimläden machen sich breit. Nahezu jede Bucht ist inzwischen mit Hotels und Appartementbauten zubetoniert, die Strände bis in den Herbst hinein mit Plastikliegen belegt. Im Sommer belagern Jachten von See her die Buchten und lassen die all-inclusive-Touristen beim Baden ihre Dieselabgase einatmen. Immer neue Autobahnen fressen sich in die Landschaft, Palma breitet sich mit Wohnsiedlungen im Stil von Los Angeles, mit Shoppingcentern und neuen Ringautobahnen wie ein Moloch aus. Keine Stadt der Welt hat eine höhere Pro-Kopf-Rate an Autos.

Dass die in manchen Bereichen sogar führende Rolle Mallorcas in der spanischen Industrialisierung nur noch in Form von Outletgeschäften, deren Produkte irgendwo in der globalisierten Wirtschaft erzeugt werden, besteht, mag für das touristische Marketing eher förderlich sein. Korbflechter, die ihre Artikel auf den ländlichen (Touristen-)Märkten anbieten, passen besser in das gewollte Bild als Industriebrachen. Alte Arbeiterviertel von Palma sind heute chic, die Immobilienpreise dort besonders hoch, die Arbeiter längst verschwunden.

Die Tourismusindustrie und die Regierung verbreiten gleichwohl ein Bild von der Insel, das mit alldem nichts zu tun hat: Am Flughafen wird man von großflächigen Fotos einsamer Strände und pittoresker Orte im Inselinneren empfangen. Auch in den gängigen Führern findet man dieses Image. Man fragt sich, ob die Touristen, von denen nicht wenige regelmäßig auf die Insel kommen, nicht längst den Widerspruch zwischen Hochglanzversprechungen und Wirklichkeit erkannt und ebenso akzeptiert haben, wie dies für den Widerspruch zwischen Werbung und Realität bei anderen Konsumprodukten gilt.

Ekkehard Schönherrs von Lutz Niethammer angeregte Jenaer Dissertation2 geht den Anfängen und damit den Ursachen dieses Widerspruchs nach. Dass diese selektive Wahrnehmung schon früh bestand, führt Schönherr ausführlich an der mehr oder weniger bis heute einflussreichen Darstellung der Insel, wie sie bereits im 19. Jahrhundert verbreitet wurde, vor. „Fabriken ließen sich nicht mit einer glücklichen Insel verbinden, auf der die Zeit stehen geblieben war und deren ursprüngliche Bewohner in kindlicher Einfalt lebten. Fabriken waren gerade das, was die Reisenden auf ihrer vermeintlichen Südseeinsel nicht finden und also auch nicht sehen wollten.“ (S. 335) Für den Blick von außen steht das eindrucksvolle Werk des Erzherzogs Ludwig Salvator aus dem Hause Habsburg. Aber auch und gerade mallorquinische Autoren haben dieses Bild mit entworfen. Diese „inszenierte Rückständigkeit“ (S. 344) sei auf eine Haltung zurückzuführen, die sich aus der Fremdbestimmung in verschiedenen Phasen der Geschichte gespeist und eine Mentalität erzeugt habe, die die eigene Geschichte eher als Feind betrachte. Umgekehrt würde die kurze Phase der herrschaftlichen Selbständigkeit im Königreich Mallorca als goldenes Zeitalter verklärt. Die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich bildenden Institutionen des Tourismus haben dieses Bild vom Südseeparadies im Mittelmeer gepflegt und dazu beigetragen, dass Mallorca bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges das meistbesuchte Urlauberziel der Festlandsspanier wurde.

Schönherr, der nebenbei einen hervorragenden Überblick über die Geschichte Mallorcas und in dieser Hinsicht mehr als eine Ergänzung zu Thomas Frellers vor einigen Jahren vorgelegter „Geschichte Mallorcas“3 bietet, zeichnet die verschiedenen Entwicklungsstränge des Tourismus im 20. Jahrhundert nach. Bis zum Beginn des Massentourismus zeigen sich Parallelen zu anderen Regionen in Europa. Sommerhaussiedlungen des gehobenen Bürgertums findet man in der Nähe von Palma ebenso wie in der Umgebung anderer europäischer Großstädte. Gleiches gilt für den Bau repräsentativer Hotels: Das 1903 eingeweihte Grand Hotel in Palma konnte es in jeder Hinsicht mit Hotels in Madrid, Barcelona oder auch Paris aufnehmen.

Der Weg vom Inlands- und Edeltourismus zum Massentourismus hat vielerlei Ursachen, die nicht ausschließlich innerhalb Mallorcas zu verorten sind. Steigende Einkommen und mehr Urlaubstage machten für breite Bevölkerungsschichten ab den 1960er Jahren zunächst die Reise mit dem Auto über den Brenner, dann mit dem Flugzeug nach Mallorca möglich. Weshalb gerade Mallorca zur Trauminsel insbesondere der Deutschen wurde, hat neben dem Paradiesbild auch mit der Bereitschaft der Mallorquiner zu tun, ihre Insel dem Massentourismus zu öffnen. Nicht alle, aber sehr viele Mallorquiner haben in unterschiedlicher Weise davon profitiert. Das neue Prekariat setzt sich demgegenüber eher aus zugewanderten Lateinamerikanern und Rumänen, die im Zuge des Booms vor der Finanzkrise auf die Insel kamen, zusammen. Allerdings hat der Geldregen einen Preis. Dieser besteht nicht nur darin, dass die Mallorquiner zahlenmäßig eine Minderheit bilden und darauf mit Abschottung reagieren. Auch die Tatsache, dass sie sich Straßen, Strände etc. mit den Touristen teilen müssen, ist eher zweitrangig. Gravierender ist, dass der Tourismus den Arbeitsmarkt monopolartig beherrscht und zu einer Dequalifizierung geführt hat.

Schönherrs Arbeit, die rund 700 Seiten umfasst, gliedert sich in vier Hauptteile: Teil I (Einleitung) legt Methodik, Begrifflichkeit und Quellengrundlage Grundzüge der Geographie und Geschichte dar. Teil II stellt zunächst die verschiedenen Aspekte der Industrialisierung im 19. Jahrhundert vor. Ausführlich wird in diesem Zusammenhang die zweite Urbanisierung Palmas mit der Entstehung von Arbeitervierteln und Landhaussiedlungen des Stadtbürgertums „extra muros“ behandelt. Kritisch konfrontiert wird dies als ein Kernstück der Arbeit mit den Darstellungen der Insel in Literatur, Volkskunde, Malerei und den ersten Touristenführern mallorquinischer wie nicht-mallorquinischer Provenienz in derselben Zeit. Teil III widmet sich der Entstehung und Entwicklung des Massentourismus im 20. Jahrhundert. Neben dem Ausbau der Infrastruktur und der Gründung des einflussreichen Tourismusverbandes werden wieder literarische und künstlerische Quellen sowie ‚neue‘ Medien wie Fotographie und Film genutzt, um das vermittelte Bild einer ‚Insel der Ruhe‘ zu skizzieren. Teil IV schließlich setzt sich u.a. mit dem spezifischen Blick der Deutschen auf ihre Lieblingsinsel auseinander. Die Erkenntnis ist nicht neu: Weder die Strandtouristen (sooft sie auch auf die Insel kommen) noch die Residenten in ihren teilweise ummauerten Wohngettos sind an einem Mallorca der Realität interessiert. Sie sind Konsumenten des Klimas und eines von den Alltagsproblemen der Einheimischen weit entfernten angenehmen Lebens. Dies macht es ihnen und der Tourismusindustrie leicht, das Bild des authentischen Mallorca weiterhin zu pflegen.

Schönherrs Arbeit hätte eine Druckfassung verdient, zumal er sie nicht mit den üblichen Abbildungen illustriert hat. Hoffentlich findet sich noch ein Verlag und hoffentlich finden seine intelligenten Analysen auch den Weg in das Feuilleton.

Anm. der Red., 13.01.2020:
Inzwischen ist die Studie in einer Verlagsausgabe erschienen: Ekkehard Schönherr, Modernes Mallorca. Von der „Insel mit Industrie“ zum „Touristenparadies“, Berlin 2019; siehe https://www.logos-verlag.de/cgi-bin/engbuchmid?isbn=4989&lng=eng&id=&id=

Anmerkungen:
1 Tagesschau, 18.07. 2016.
2 Die Dissertation kann heruntergeladen werden unter: urn:nbn:de:gbv:547-201600417 bzw. https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00030107 (05.01.2017).
3 Thomas Freller, Die Geschichte Mallorcas, Ostfildern 2013; siehe die Rezension von Dietrich Ebeling zu: Freller, Thomas: Die Geschichte Mallorcas. Ostfildern 2013 , in: H-Soz-Kult, 28.05.2014, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22609 (05.01.2017).

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