Titel
Introduction et légendes par Bernard Noël. Postface par Jean-Claude Gautrand


Herausgeber
La Commune
Reihe
Photo Poche Histoire H 2
Erschienen
Anzahl Seiten
140 S., 76 Abb.
Preis
FF 57,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wirth, Dekanat FB III, Universität Trier Dekanat FB III 54286 Trier

Mit diesem in der Reihe Photo Poche Histoire erschienenen Bändchen liegt die erste rein fotografische Dokumentation zur Pariser Kommune von 1871 vor. Nachdem die Inventur der politischen Druckgraphik und besonders der Karikatur schon so lange zurückliegt, dass die entsprechenden Kataloge nur noch antiquarisch zu beschaffen sind, war dies ein längst überfälliger Schritt. 1 Photo Poche Histoire - das ist eine repräsentative Auswahl von Fotografien zu einem historischen Ereignis in einem handlichen Format zu einem erschwinglichen Preis: ein lobenswertes Unterfangen, aus dem sich naturgemäß eine Reihe von Ambivalenzen und Einschränkungen ergeben.

Repräsentieren 76 Abbildungen von 17 namentlich bekannten Fotografen, die anonymen nicht mitgerechnet, das Ereignis Kommune, wenn der Forschung "plusieurs centaines d'images différentes" von 68 Fotografen bekannt sind? 2 Reduziert man alle existierenden Aufnahmen auf die wenigen vorhandenen Sujets - die Portraits führender Kommunarden und der "no names", Barrikaden, Massaker und Ruinen -, kann man die Auswahl durchaus als ausgewogen bezeichnen und die Frage mit ja beantworten. "Repräsentativ" kann bedeuten, die Klassiker zeigen zu wollen, wobei man Gefahr läuft, lediglich die geläufige Ikonographie des untersuchten Gegenstandes zu erneuern. Diese Klippe hat die Bildredakteurin Fannÿ Fay-Sallois meisterlich umschifft: Gut zwei Drittel der exzellent reproduzierten Fotografien sind aus der illustrierten Forschungsliteratur bekannt. 3 Der Interessierte wird Eugène Apperts verleumderische Fotomontagen, Alphonse Liéberts und J. Andrieus Aufnahmen von den Trümmern des besiegten Paris und natürlich die André Disdéri zugeschriebenen toten Kommunarden wiederfinden. Das ist in etwa so, als wenn er in einem Van Gogh-Querschnitt weder die Sonnenblumen, noch den Sähmann, noch die Lilien vermissen müßte. Der Rest besteht aus weniger bekannten Aufnahmen und variiert wohltuend die Ikonographie bekannter Sujets.

Ein Mangel ist, dass zwei Drittel der Bilder jeweils über zwei Seiten reproduziert wurden, was dem Format 12,5 x 19 cm und dem Gesamtkonzept der Reihe anzulasten ist. Wer sich mehrmals den vollen Bildgenuß gönnt, wozu man die Buchseiten entsprechend aufbiegen muß, riskiert die sukzessive Auflösung des Büchleins.

Nur wenige Ungenauigkeiten haben sich eingeschlichen: Aus dem Pariser Fotografen Charles Emonts wurde ein gewisser P. Emonts. Schwerer wiegt, dass Francks "Membres de la Commune" nicht als Fotomontage gekennzeichnet wurde. Bei einigen Fotografien, z. B. den erwähnten Montagen Apperts, wird die zeitgenössische Bildlegende vorenthalten. Das ist für den Forschenden mißlich, denn oft ist es die Bildlegende, die der Fotografie eine spezifische Bedeutung zuweist und bei der Bildinterpretation stets mitzuberücksichtigen ist. 4

Die Abbildungen sind numeriert und von Bernard Noël knapp kommentiert. Der Text stellt die Verbindung zwischen der Ikonographie und den historischen Ereignissen her. Mit Noël, der sich als Herausgeber des "Dictionnaire de la Commune" einen Namen gemacht hat, konnte ein hervorragender Kenner für dieses Projekt gewonnen werden. 5

Welche Informationen werden geboten? Der Name des Fotografen wird angegeben, sofern er bekannt oder - wie im Falle der berühmten, im wahrsten Sinne des Wortes "nature morte" zu nennenden Aufnahme, die ein Dutzend toter Kommunarden in offenen Särgen aufgebahrt zeigt - zumindest wahrscheinlich ist. Bei den Bildtiteln wird nicht immer deutlich, ob es sich um den Titel der Fotografie oder den Titel des Albums handelt, in dem sie veröffentlicht wurde, oder um eine objektive Beschreibung dessen, was das Bild zu zeigen vorgibt. Letztere Formulierung ist mit Blick auf die vielen Fotomontagen mit Bedacht gewählt. Eine vollständige Zitation der Bilder, die den Anforderungen der Quellenkritik genügte, z.B. mit Informationen zum Format, der fotografischen Technik usw., hätte sich zumindest der an Fotografie interessierte Betrachter gewünscht. Man hätte sie in einem gesonderten Anhang vornehmen können. Vielleicht wäre auch noch Platz für eine Bibliographie gewesen, die mehr als nur einen Titel nennt. Für eine Zeittafel fanden sich dort jedenfalls drei Seiten.

Die dargebotenen Aufnahmen illustrieren den Zeitraum vom 18. März 1871 bis zur Zeit nach dem Fall der Kommune am 28. Mai 1871, die Situation in den Bagnos in Neukaledonien miteingeschlossen. Drei Fotografien entstammen aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, eine Ansichtskarte zeigt die Kränze an der mur des Fédérés auf dem Friedhof von Père-Lachaise. Sie ist um 1905 aufgenommen worden, zu einer Zeit also, als die Kommune an politischer Sprengkraft eingebüßt hatte, aber keineswegs zu einem Stück französischer Vergangenheit geworden war. Die Anordnung der Fotografien orientiert sich nicht unbedingt am Datum ihrer Entstehung, sondern in erster Linie an der zeitlichen Abfolge der Ereignisse, die zu illustrieren sie herangezogen wurden. Zugleich verbirgt sich in dieser Anordnung das kompositorische Geheimnis des Bändchens.

Dies ist symptomatisch für die Kommune-Fotografie, denn die meisten Aufnahmen sind entweder vor oder nach, nicht aber während der Kommune entstanden. Bei den vor dem 18. März 1871 entstandenen Aufnahmen handelt es sich zumeist um Portraits von Persönlichkeiten, die, wie beispielsweise Gustave Courbet und Charles Delescluze, bereits Akteure des öffentlichen Lebens der Kaiserzeit gewesen waren. Während der 72 Tage der Kommune waren sie zu Amt und Würde gekommen waren, was sie in den Augen der nach Versailles geflohenen Regierung Thiers diskreditierte und zu Verbrechern machte. Entsprechend willkommen waren diese älteren Aufnahmen den Behörden, die danach ab April 1871 Steckbriefe anfertigen ließen.

Aufnahmen aus der Zeit während der Kommune sind selten, worauf Jean-Claude Gautrand in seinem mit zwei Seiten viel zu knapp gewordenen Nachwort zurecht hinweist. Ein Beispiel stellt der Fotograf Bruno Braquehais dar, dessen Arbeiten das Musée d'Orsay zur Zeit in einer Sonderausstellung zeigt. Vor allem aus dessen Album "Paris pendant la Commune, 1871" bietet das Bändchen neun Aufnahmen. Im Gegensatz zu seinen - in Gautrands Diktion - "bourgeoisen" Kollegen wie Etienne Carjat, André Disdéri, François Franck oder Charles Reutlinger hatte sich Braquehais nicht vor den Kommunarden in die Provinz abgesetzt, sondern war in Paris geblieben. Von März bis Mai 1871 hatte er des öfteren sein Atelier verlassen und war mit seinem technischen Gerät in der Stadt unterwegs gewesen. Zu seinen bevorzugten Sujets zählten die Kombattanten: Nationalgardisten, die sich vor der Barrikade ihres Verteidigungsabschnitts gruppiert hatten. 6 Hinzu kommen die Aufnahmen rund um den Sturz der Vendôme-Säule sowie von den infolge des Kriegs und des Bürgerkriegs zerstörten Gebäuden. Für Gautrand macht ihn die Authentizität der Aufnahmen zum "premier véritable photojournaliste français", ein interessanter Gedanke, für den einiges spricht. Gautrand erklärt Braquehais Motive mit dessen "complicité", was vielleicht mit "insgeheimen Einverständnis" mit den Machtverhältnissen der Kapitale zu übersetzen wäre. 7 Die Sympathie für die Sache der Kommunarden unterscheide Braquehais von seinen Berufsgenossen, allen voran Appert. Das ist eine populär gewordene Vermutung, nicht mehr. 8 Zu fragen wäre vielmehr, ob man Braquehais nicht stärker als Unternehmer betrachten sollte, der sich die neue Käuferschicht, die sich mit der Insurrektion etabliert hatte, fotografisch erschloß. Noch während der Kommune sollen Aufnahmen, wie Braquehais sie anfertigte, recht zahlreich in den Auslagen der Schreibwarenhändler zu sehen gewesen sein. Das berichtet Maxime DuCamp, einer seiner Kollegen. 9 Das ließe die Schlußfolgerung zu, dass diese Aufnahmen nicht nur als Souvenir für die Abgebildeten oder die unmittelbar an einem Spektakel wie der Zerstörung der Colonne Vendôme Beteiligten produziert wurden, sondern immer auch für die Allgemeinheit. Man begeht mit Sicherheit keinen Fehler, wenn man Braquehais auch pekuniäre Interessen als Motiv für sein Tun unterstellt. Braquehais war nicht weniger Geschäftsmann als Appert, den Gautrand wie schon in seinem Aufsatz von 1972 zu dessen Gegenspieler aufbaut.

Mit Appert schließen Gautrands Bemerkungen zu Fotografie und Kommune. Dem Kriegsgewinnler Eugène Appert wurde bisher noch keine Retrospektive ausgerichtet. Er gehört zu denjenigen, die ausschließlich nach dem Fall der Kommune fotografiert hatten. Seine Aufnahmen, bei denen es sich in Wahrheit um Fotomontagen handelte, gab er aber als authentische Dokumente aus. Die Exekution der Generäle Lecomte und Clément-Thomas, die massakrierten Dominikaner von Arceuil, die Geiselerschießung im Gefängnis von Roquette - alles nachgestellt mit Schauspielern und Statisten. Damit habe Appert die "curiosité morbide" der aus der Provinz in die befreite Kapitale zurückkehrenden Leute befriedigt, so Gautrand.

Nicht nur die hier gezeigten Fakes und die der Romantik verpflichteten Ruinenfotos, sondern auch Portraits der in den Versailler Gefängnissen inhaftierten Kommunarden fertigte Appert zwischen 1871 und 1872 an. Die Militärjustiz muß seine Tätigkeit unterstützt bzw. genehmigt haben, wenn er nicht sogar auf deren Geheiß gehandelt hat. Ein entsprechendes Mandat fehlt zwar, die Auftragserteilung liegt aber insofern nahe, als Appert der "expert près le Tribunal de la Seine" war, als der er sich auf der Rückseite seiner Fotografien selbst anpries. Als "photographe de la magistrature", worauf es Gautrand besonders ankommt, wird er in Verwaltungsabläufe integriert gewesen sein. 10 Zwar war die Fotografie 1871 schon fast ein Jahrzehnt gängige Praxis bei der erkennungsdienstlichen Behandlung, doch verfügte die Pariser Polizei nicht über ein eigenes Atelier, so dass sie die Fotografen eigens kommen lassen mußte.

Appert verstand sich darauf, aus seinen offiziellen Aufträgen Kapital zu schlagen. Zum einen soll ihm die Unterstützung der neuen Machthaber für mehrere Jahre eine Reihe von Folgeaufträgen eingebracht haben. 11 Zum andern vertrieb er die für die Behörden hergestellten Portraits der Gefängnisinsassen auch in Form von Einzelabzügen, in Serien und in Alben. Sie dienten ihm als Material, aus dem er seine Fotomontagen bastelte. Seine Fotos fungierten als Vorlage für Holzstiche, mit denen die Pariser Presse ihre Berichte von den Gerichtsverhandlungen schmückte.

Appert hat abkassiert, und das gleich mehrfach. Aus diesem Vorwurf, der bei Gautrand angedeutet ist, geht die ökonomische Seite des anti-kommunardischen Bilddiskurses hervor. Schade nur, dass auch in dieser Publikation die ökonomische Seite des pro-kommunardischen bzw. neutralen Diskurses offenbleibt. 12

Anmerkungen
1 Vgl. z. B. Michel Lhospice: La Guerre de 70 et la Commune en 1000 images. Paris 1965, Charles Feld und François Hincker: Paris au front d'insurgé. La Commune en images. Paris 1971, Neue Gesellschaft für bildende Kunst: Pariser Kommune 1871. Eine Bilddokumentation. Berlin 1971, Paul Ducatel: Histoire de la Commune et du siège de Paris. Vue à travers l'imagerie populaire. Paris 1973 und Die Arbeitsgruppe: Die politische Lithographie im Kampf um die Pariser Kommune 1871. Köln 1976.
2 Vgl. Joël Petitjean: Recherches sur la photographie et la Commune. Thèse de Doctorat (masch.). Paris IV 1995, S. 3.
3 Vgl. etwa Armand Dayot: L'Invasion - le siège 1870 - la Commune 1871. Paris o. J. [1901], Georges Soria: Grand histoire de la Commune. 5 Bde. Paris 1970 und Georges Bourgin: La Guerre de 1870-1871 et la Commune. Paris 1971.
4 Roland Barthes nannte dies die "Verankerung" einer Bildaussage durch den Text. Vgl. Roland Barthes: Rhétorique de l'image. In: Communications 4 (1964), S. 40-51.
5 Bernard Noël: Dictionnaire de la Commune. Iconographie et légendes de Marie-José Villotte. Paris 1971.
6 Nach der "Blutwoche" wurden gerade solche Gruppenaufnahmen ihrer eigentlichen Verwendungsweise zweckentfremdet. Polizei und Militär instrumentalisierten die Fotografien als Beweismittel. Sie wurden verwendet, um die Fahndung nach den abgebildeten Personen einzuleiten. Vgl. Elizabeth Anne McCauley: Industrial Madness. Commercial Photography in Paris, 1848-1871. New Haven und London 1994, S. 187.
7 Diese Meinung hatte Gautrand bereits in seinem 1972 erschienenen Aufsatz vertreten: Jean-Claude Gautrand: Les Photographes et la Commune. In: Photo-Ciné Revue 2 (1972), S. 53-63.
8 Innerhalb der Forschungsliteratur wird dieser Aspekt vernachlässigt, ein diffuser politischer Standpunkt Braquehais' hingegen betont. McCauley sieht in Braquehais einen Outlaw, der während des Empire mit den Behörden in Konflikt geraten war, weil er Aktfotografien hergestellt hatte. Aufgrund dieser Erfahrung habe Braquehais mit der Kommune sympathisiert. Für Nori hat Braquehais entschieden für die Kommunarden Partei ergriffen, was ihn (für Nori zumindest und auch für Gautrand) zu einer Art Gegenspieler von Appert macht. Vgl. McCauley, S. 191 und Claude Nori: French Photography from ist Origins to the Present. London 1979, S. 21.
9 Vgl. Maxime Du Camp: Le Convulsions de Paris. Bd. 2: Episodes de la Commune. 2. Aufl. Paris 1879, S. 328.
10 Vgl. Gautrand, S. 58.
11 So Gautrand auch schon 1972, vgl. ebd.
12 Zur Einbettung des Diskurses in den größeren Zusammenhang von Ökonomie, künstlerischem Selbstverständnis, öffentlicher Meinung, Pressepolitik und Zensur vgl. Ulrich Wirth: "C'est une folie furieuse...": Die Pariser Kommune in der politischen Bildpublizistik der französischen Dritten Republik (1871-1873). Zur satirischen Formung ideologischer Diskurse. Magisterarbeit (masch.). Universität Trier 1999.

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