T. Kirschberger: Erster Kreuzzug und Ethnogenese

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Titel
Erster Kreuzzug und Ethnogenese. In novam formam commutatus - Ethnogenetische Prozesse im Fürstentum Antiochia und im Königreich Jerusalem


Autor(en)
Kirschberger, Timo
Reihe
Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 13
Erschienen
Göttingen 2015: V&R unipress
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philippe Goridis

In dieser Göttinger Dissertation widmet sich Timo Kirschberger der Entstehungsphase der lateinischen Herrschaften, die im ausgehenden 11. Jahrhundert als Folge des 1. Kreuzzugs in Syrien und Palästina entstanden sind. Sein Ziel ist es, die Einwanderung westeuropäischer Christen ins Heilige Land – vom zeitgenössischen Chronisten Wilhelm von Tyrus als ‚introitus Latinorum‘ bezeichnet – zu untersuchen beziehungsweise die Prozesse, die „im Laufe dieses introitus die Einwanderer aus dem Westen im Orient zu neuen Gruppen zusammenwachsen ließen“ (S. 15). Es geht ihm also weniger um eine klassische Politikgeschichte der Kreuzfahrerherrschaften als vielmehr um eine ethnogenetische Analyse der dortigen Gesellschaften. Allfällige Bedenken bezüglich Redundanzen zur bisherigen Forschung zerstreut Kirschberger schnell. Tatsächlich wurde das Thema noch nicht umfassend aufgearbeitet. Vielmehr charakterisierte die Forschung die Kreuzfahrergesellschaften von Jerusalem, Antiochia, Edessa und Tripolis häufig als eine homogene Gruppe mit gemeinsamen Abstammungsvorstellungen. Dieser panlateinischen Ethnogenesethese stellt Kirschberger ein partikularistisches Modell gegenüber, das auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der einzelnen Kreuzfahrerherrschaften Rücksicht nimmt. Der Fokus muss dabei auf Antiochia und Jerusalem beschränkt bleiben, da die Quellenlage nur zu diesen beiden Reichen Aussagen erlaubt. Ganz neu ist diese Perspektive freilich nicht, wurden Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gruppen im Kreuzfahrerheer und in den frühen Kreuzfahrerherrschaften von der Forschung doch schon wiederholt diskutiert und auch auf ethnische Ursachen zurückgeführt. Doch ist es Kirschbergers Verdienst, diese Prozesse erstmals detailliert und über einen längeren Zeitraum nachzuverfolgen und in einer fundierten Studie zur Diskussion zu stellen.

Kirschberger orientiert sich an Erkenntnissen der frühmittelalterlichen Gentes-Forschung, die soziale Gruppen nicht als biologische Abstammungsgemeinschaften versteht, sondern als Abstammungsgemeinschaften aus Überlieferung. Der Konstruktionscharakter von Gruppenidentität rückt also in den Fokus der Analyse. Kirschberger plädiert dafür – und das erscheint sehr überzeugend –, die lateinischen Herrschaften des Heiligen Landes als eigenständige Gesellschaften wahrzunehmen, die über eine eigene Identität verfügten und die nicht als blosse Erweiterungen hauptsächlich des frankophonen Europa betrachtet werden sollten. Damit rückt für seine Untersuchung die lateinisch-orientalische Überlieferung in den Fokus, die er nach ethnogenetischen Spuren analog zu europäischen Origines Gentium-Erzählungen absucht.

Nach der Vorstellung der Quellen und ihrer Charakteristik geht Kirschberger auf die ethnische Terminologie ein, die er in seinen Texten findet. Hier stellt er überzeugend die Franci-Bezeichnung, die sich in westeuropäischen Quellen häufig findet, der (Selbst-)Benennung als Hierosolymitani und Antiocheni durch die lateinischen Autoren des Orients gegenüber. Hier bliebe anzumerken, dass es durchaus Hinweise gibt, dass die Europäer des 12. Jahrhunderts die Antiocheni und Hierosolymitani als separate Gruppen mit eigener Identität wahrnahmen. Darauf verweist der in den Quellen belegte Begriff poulains oder pulani als (pejorative) Fremdzuschreibung durch Westeuropäer. Diesen schlagenden Ausführungen zur ethnisch differenzierten Selbstwahrnehmung der Kreuzfahrerherrschaften folgt eine Beschreibung der in antiochenischen und hierosolymitanischen, wie man nun korrekterweise sagen müsste, Quellen transportierten Feindbilder. Wenig überraschend handelt es sich dabei um die muslimischen Nachbarn der Kreuzfahrer – und im Falle Antiochias um die Byzantiner. Auch dies ist eine wohlbekannte Tatsache, doch hat sie noch niemand im Zusammenhang mit ethnogenetischen Prozessen interpretiert. Über die Analyse ethnohistorischer Entwürfe in den Prologen der untersuchten Quellen, deren Ergebnisse zwiespältig ausfallen (dazu gleich mehr), schliesst die Studie mit Falluntersuchungen ethnogenetischer Prozesse im 1. Kreuzzug und in den beiden Kreuzfahrerreichen Antiochia und Jerusalem.

Besonders gelungen sind die Kapitel zur ethnischen Terminologie (III) und den ethnohistorischen Entwürfen in den Prologen ausgesuchter Historiografen des Heiligen Landes (V). In diesen Abschnitten liefert der Autor überzeugende Argumente für seinen ethnischen Partikularismus und kann mit einer innovativen Neuinterpretation von Fulchers von Chartres Kapitel III.37 als einer ethnogenetischen Klammer zum Prolog des Werks (S. 151–156) aufwarten. Allerdings deutet sich in Kapitel V auch ein methodisches Problem an, das meiner Ansicht nach zu wenig reflektiert wird – hier wäre ein ausführlicherer Theorieteil wünschenswert gewesen. Kirschberger zeigt nämlich, dass in den frühen Texten bis ca. 1120, die alle aus Antiochia stammen, kaum eine ethnogenetische Reflexion stattfindet. In diesen Quellen beschränken sich ethnische Identitätsmarker weitgehend auf die ethnische Terminologie (Antiocheni) und die Abgrenzung gegenüber Muslimen und Byzantinern als Feinden der lateinisch-christlichen Sache, was aber wenig spezifisch und gerade im Zusammenhang einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Lateinern und Orientalen wenig überraschend ist. Ganz anders verhält es sich mit den hierosolymitanischen Quellen, die durchwegs nach 1120 in ihrer überlieferten Form entstanden sind und damit mehr Zeit hatten, ihre origo zu verarbeiten und ein ethnohistorisches Bewusstsein zu entwickeln. Das bedeutet, dass sich gerade die frühen Kreuzzugsquellen eigentlich nicht dazu eignen, als Origines Gentium verstanden zu werden, da sie einem solchen Anspruch weder gerecht werden wollten noch konnten. Der Gedanke ist zwar reizvoll, doch besteht die Gefahr der Überinterpretation. So dürften gerade die frühen antiochenischen Texte mit ihrer eindeutig pronormannischen bzw. proantiochenischen Geschichtsschreibung zunächst einfach einmal genau das sein, nämlich normannische Geschichtswerke. Gleiches gilt für den Tancredus des Radulph von Caen, der in erster Linie das ist, was er zu sein vorgibt, nämlich eine Panegyrik auf Tankred und weniger ein Werk mit dezidiert ethnohistorischer Motivation. Dass zudem Werke, die in Antiochia entstanden sind, eher auf Antiochia fokussieren, und solche aus Jerusalem eher auf die Heilige Stadt, ist ebenfalls nicht weiter überraschend und muss nicht zwingend Ausdruck einer ethnischen Diversifizierung sein.

Eine andere Quellengattung, die den Anforderungen der ethnohistorischen Identitätsbildung wohl ausgezeichnet gerecht werden würde und bereits im 12. Jahrhundert im Heiligen Land zirkulierte, wird von Kirschberger leider nur marginal behandelt, nämlich die Chansons de Geste. Die damals sehr populäre sog. epische Hofdichtung passt mit Blick auf ihre narrativen Strukturen und Zielsetzungen ausgezeichnet in das von Kirschberger verwendete Quellenschema und zu seiner Suche nach ethnischen Entstehungsgeschichten – sowohl für Antiochia als auch für Jerusalem. Über die Erforschung von Chansons de Geste und vergleichbaren Quellentypen liesse sich zweifellos noch viel mehr zum Thema beitragen.

Diese Anmerkungen sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das vorliegende Buch ein wichtiger Beitrag zur Outremer-Forschung darstellt. Es ist Kirschberger gelungen, ein wichtiges, häufig viel zu oberflächlich behandeltes Thema detailliert aufzuarbeiten und zur Diskussion zu stellen. Das Abrücken von der Vorstellung der Existenz eines panlateinischen Heiligen Landes war längst überfällig.

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