M. Gabowitsch u.a. (Hrsg.): Kriegsgedenken als Event

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Titel
Kriegsgedenken als Event. Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa


Herausgeber
Gabowitsch, Mischa; Gdaniec, Cordula; Makhotina, Ekaterina
Erschienen
Paderborn 2017: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
345 S., 20 Karten, 38 SW-Abb., 2 Tabellen
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

2012 rief eine nicht-staatliche Gruppe russischer Journalisten eine lokale Gedenkinitiative ins Leben, die sich in den nachfolgenden Jahren rasch verbreitete und seither unter der Bezeichnung „Unsterbliches Regiment“ bereits in mehr als 15 Ländern realisiert wurde. Die Idee ist ebenso schlicht wie wirkungsvoll: Die Teilnehmer/innen eines Gedenkmarsches halten Porträts ihrer Verwandten hoch, die aktiv am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben. Am 9. Mai 2015, zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, nahm in Moskau nach offiziellen Angaben eine halbe Million Menschen an einem solchen Marsch teil, unter ihnen Präsident Wladimir Putin mit dem Porträt seines Vaters. Drei staatliche Fernsehsender übertrugen live. Das „Unsterbliche Regiment“ gehört zu denjenigen Gedenkpraktiken, die sich in den letzten Jahren im postsozialistischen Europa entwickelten und an denen sich dezidiert zeigen lässt, wie staatliche, zivilgesellschaftliche, familiäre und individuelle Formen des Erinnerns gegenwärtig ineinandergreifen – wenn auch nicht immer in der ursprünglich intendierten Weise.

Mischa Gabowitsch, Cordula Gdaniec, Ekaterina Makhotina und zahlreiche weitere Forscher/innen haben am 9. Mai 2015 die Feierlichkeiten, Erinnerungshandlungen und Gedenkpraktiken zum 70. Jahrestag des Kriegsendes beobachtet, dokumentiert und in einem nun vorliegenden Sammelband mit dem Titel „Kriegsgedenken als Event“ analysiert. Die insgesamt sieben Beiträge des Buches werden durch Fotomaterial und zahlreiche Karten zur Topographie der unterschiedlichen nationalen Erinnerungsorte ergänzt. Verbunden sind die Einzelstudien zum einen durch die immense Bedeutung dieses Kriegsgedenktages in Russland, in den ehemaligen Sowjetrepubliken sowie in Ländern mit großer russischsprachiger Bevölkerung, zum anderen aber auch durch eine bis 1991 relativ homogene staatlich-triumphale Gedenkarchitektur mit Militärparaden, Festumzügen, heroischen Liedern und Ansprachen.

Der rituelle Wandel, die kulturelle Ausdifferenzierung sowie die kreative Umdeutung des überlieferten sowjetischen Gedenkrepertoires werden in einer beeindruckenden Momentaufnahme sichtbar. Dabei nimmt der Veränderungs- und Überschreibungsprozess in den insgesamt fünf Untersuchungsländern (Belarus, Deutschland, Estland, Russland, Ukraine) sehr unterschiedliche Formen an: In der Ukraine beispielsweise stand der „Tag des Sieges“ im Jahr 2015 vollständig unter dem Einfluss des aktuellen Kriegsgeschehens. Nur an wenigen Orten lässt sich momentan wohl eindrücklicher nachvollziehen, wie in politisch zerrissenen Gesellschaften geschichtliche Ereignisse von allen Beteiligten für aktuell strittige Zugehörigkeitsfragen vereinnahmt werden. Der Beitrag von Jochen Hellbeck, Tetiana Pastushenko und Dmytro Tytarenko dokumentiert präzise die lokale Vielfältigkeit des in Kiew, Odesa und Doneck praktizierten Gedenkens, macht aber auch die tiefe Spaltung der ukrainischen Gesellschaft greifbar. Während die einen den Zweiten Weltkrieg als einen Kampf um die staatliche Souveränität der Ukraine verstehen, meinen die anderen ihre Heimat erneut gegen „faschistische Besatzer“ verteidigen zu müssen. Die extremen und oftmals extrem gegensätzlichen Instrumentalisierungen des historischen Bezugsereignisses zeigt auch der Beitrag von Aleksej Popov und Julija Mingaleva über das Weltkriegsgedenken auf der Krim. Die offizielle Feier zum 9. Mai 1945 diente 2015 als willkommener Anlass, um zu demonstrieren, dass der Anschluss an Russland nicht nur politisch richtig, sondern auch „Volkes Wille“ gewesen sei. Die legitimatorische Verklammerung von Gegenwart und Vergangenheit konkretisierte sich in Simferopol pointiert auf dem Plakat einer Schülerin mit dem Slogan: „Danke Opa für den Sieg, danke Putin für die Krim“.

Neben solchen eklatanten Gegenwartsbezügen, durch die im Falle Belarus gleichsam die staatliche Unabhängigkeit mit gedenkpolitischem Führungsanspruch unter Beweis gestellt wurde, wie Taccjana Kasataja und Scjapan Sturejka in ihrem Beitrag verdeutlichen, verweisen vor allem die Texte zu Russland darauf, dass sich staatliche und zivilgesellschaftliche Formen nicht nur zunehmend regional differenzieren, sondern sich manchmal auch ergänzen und wechselseitig beeinflussen, gelegentlich aber auch miteinander konkurrieren oder Impulse dafür liefern, dass wiederum neue Formen des Erinnerns entstehen, die offenbar als angemessener empfunden werden. In diesen überaus dynamischen Aneignungsprozessen verwischen bisherige Unterschiede und Abgrenzungen mitunter nahezu vollständig; ein „von oben“ verordnetes Gedenken steht den Initiativen „von unten“ nicht mehr unbedingt diametral entgegen. Konsequenterweise geht es daher in den meisten Beiträgen des Bandes vor allem um kulturelle Aushandlungsprozesse. Es lässt sich allerdings kaum gegen den Eindruck anlesen, dass sich hier nicht nur Erinnerungspraktiken mit rasanter Geschwindigkeit pluralisieren, sondern sich auch eine gewisse Beliebigkeit breit macht.

Während einige Autorinnen und Autoren vor allem die Ausdifferenzierung von Gedenkpraktiken in den Vordergrund rücken, geht es in anderen Kontexten stärker um die gewünschte oder aber auch in Frage gestellte Identitätsstiftung. So zeigt der Aufsatz von Mārtiņš Kaprāns und Elo-Hanna Seljamaa über den 8./9. Mai 2015 in Estland wie auch der Beitrag von Mischa Gabowitsch über die Gedenkveranstaltungen in Berlin und Wittenberg sowohl die europäische Inanspruchnahme des historischen Bezugsereignisses, unter anderem durch die Verlegung der offiziellen Feierlichkeiten in Estland auf den von den Vereinten Nationen empfohlenen und in der Europäischen Union üblichen 8. Mai, als auch die manchmal irritierend sorglose Suche einer sich selbst als ethnisch russisch verstehenden Minderheit nach angemessener Selbstdarstellung. Weltkriegsgedenken will hier zum einen dem Selbstverständnis als homogene, sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzende und lokal orientierte Gemeinschaft Rechnung tragen, zum anderen die solidarische Verbundenheit mit Russland als externe, gleichwohl emotional dominierende Identitätsgröße gewährleisten. In Tallinn, Narva und Berlin-Treptow verwiesen die am 9. Mai 2015 praktizierten Gedenkformen auf nationale oder ethnische Gegenidentifikationen, wobei es interessant wäre, empirisch vergleichend zu untersuchen, ob diese kollektive Selbstvergewisserung der gefühlten Gemeinschaften rigider ausfällt, je stärker sie sich von der Mehrheitsgesellschaft in Frage gestellt sehen.

Ob in Smolensk, Narva oder Wittenberg: Die Eventisierung und Kommerzialisierung von Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen gehört zu den – schon im Buchtitel anklingenden – zentralen Thesen des Sammelbandes. Die Suche nach historischem Sinn scheint sich aktuell immer stärker auf Formen des Geschichtskonsums zu verlagern. Geschichte soll – trotz erheblicher Deutungskonflikte in den postsozialistischen Gesellschaften – eben auch Spaß machen. Das ist zweifellos ein globales Phänomen. Historische Ereignisse werden seit geraumer Zeit auf eine noch nicht endgültig verstandene und auch empirisch noch nicht hinreichend untersuchte Art und Weise zu einer öffentlichen Ressource, mit der – um es zugespitzt zu formulieren – anscheinend jeder machen kann, was er will. Jenseits der allseits bekannten politischen Inanspruchnahmen ist zu beobachten, dass sich soziale Gruppen, Vereine und Familien, aber auch Freundeskreise und Einzelpersonen je nach Anlass und Gelegenheit ihr spezifisches Geschichtserlebnis kreieren. Das hat manchmal emotional anrührende, manchmal karnevaleske und manchmal auch groteske Züge, wenn man beispielsweise die an Reenactments erinnernden Stern- und Pilgerfahrten von Moskau nach Berlin betrachtet oder aber öffentliche Verkleidungsaktionen anschaut, bei denen sich Menschen als Rotarmisten kostümieren. An den zunehmend touristisch und kommerziell gestalteten, aber weiterhin als „authentisch“ ausgegebenen historischen Orten wollen die Akteure Geschichte offenbar weniger erlernen, kritisch reflektieren oder verstehen, sondern vor allem erleben und fühlen. Die Auswirkungen dieser gravierenden erinnerungskulturellen Veränderungen sind heute noch nicht wirklich absehbar. Für ihre gerade erst beginnende wissenschaftliche Analyse bietet die Studie „Kriegsgedenken als Event“ reichhaltiges Material, kritische Selbstreflexionen und viele interpretatorische Anregungen.