Titel
French Sociology.


Autor(en)
Heilbron, Johan
Erschienen
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 77,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tommy Stöckel, Humboldt-Universität zu Berlin

Als Johan Heilbron in den 1970er-Jahren sein Soziologiestudium aufnahm, befand sich die Disziplin in einer Krise – die Infragestellung des Strukturfunktionalismus ist u.a. als ihr Charakteristikum zu nennen. Diese Krise prägte den Weg des angehenden Sozialwissenschaftlers, wie er selbst in einem späteren Interview bekannte.1 Die nun vorgelegte Monographie stellt die Synthese der jahrzehntelangen Reflexion Heilbrons über die Soziologiegeschichte dar.2 Der Verfasser, der nach seinem Studium in Amsterdam einen Aufenthalt in Paris absolvierte (1979/80), ist als directeur de recherche am Centre de Sociologie Européenne tätig.

Die Untersuchung zeichnet die Entwicklung der französischen Soziologie im 19. und 20. Jahrhundert nach. Heilbron wendet sich aus zwei zentralen Gründen der Soziologietradition Frankreichs zu: zum einen, da die Disziplin französischen Ursprungs sei, in Frankreich also wichtige Pionierarbeiten geleistet worden sind und zum anderen um diese Traditionslinie dem anglo-amerikanischen Publikum näherzubringen. Er hat sich dabei für einen knapp 200 Jahre umfassenden Betrachtungszeitraum entschieden, der das vordisziplinäre und das disziplinäre Stadium der Soziologie behandelt. Obgleich sich die Philosophie oder die Moralwissenschaften schon immer mit menschlicher Soziabilität beschäftigten, erscheint es Heilbron sinnvoll, eine Soziologiegeschichte im frühen 19. Jahrhundert einsetzen zu lassen: Soziologie als Wissenschaft ist erst denkbar, als Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert zu einem wissenschaftlichen Objekt wurde.

Heilbron konzentriert sich in seiner Studie auf die Produzenten der Soziologie, ihre Netzwerke und Produktionsbedingungen. Stark von Bourdieu beeinflusst lehnt er sich methodisch-theoretisch eng an dessen Feldtheorie an, um intellectual history mit sozialgeschichtlichen Überlegungen zu kombinieren; damit einher geht die Überzeugung, soziologische Akteure und Institutionen nicht unabhängig von ihren Beziehungen zu anderen Akteuren und Institutionen im soziologischen Feld, aber auch im wissenschaftlichen Feld zu betrachten. Obwohl der Fokus explizit auf der französischen Soziologie liegt, soll mittels einer transnationalen Perspektive einerseits der Vorstellung einer autarken nationalen Entwicklung vorgebeugt, andererseits gerade durch den Vergleich mit anderen nationalen Traditionen die Spezifität der französischen Soziologie herausgearbeitet werden, indem parallel zur französischen Entwicklung auf die amerikanische, die deutsche oder die englische Soziologie verwiesen wird.

In den ersten zwei Kapiteln zeichnet Heilbron nach, wie sich die Sozialwissenschaften im modernen französischen Universitätssystem etablieren konnten, wobei er die nach 1870 entstandene, relativ stabile Dreiteilung zwischen den Politikwissenschaften, den Gesellschaftswissenschaften und den Wirtschaftswissenschaften hervorhebt. In diesem Spannungsfeld entstand die französische Soziologie als akademische Disziplin. Nachdem Heilbron den Beitrag Auguste Comtes für die vordisziplinäre Soziologie resümiert hat, wendet er sich im dritten Kapitel ihrem disziplinären Stadium zu.

Hier hebt er zunächst die zentrale Rolle der Revue philosophique hervor. Dieser gelang es in den 1880er-Jahren, die Soziologie von einem außeruniversitären Gegenstand zu einem Objekt universitärer Philosophie umzuwandeln. Das soziologische Feld selbst sieht Heilbron dabei durch drei zentrale Akteure und Gruppen charakterisiert: Gabriel Tarde, die durch René Worms ins Leben gerufenen, zumeist transnational ausgerichteten Organisationen (z.B. das Institut international de sociologie oder die Revue internationale de sociologie) und die um die Année sociologique gruppierte Durkheim-Soziologie.

Der Zwischenkriegszeit wendet sich Heilbron im vierten Kapitel zu. Er analysiert die zunehmende Desintegration der Durkheimianer, die sich in eine Gruppe von Forschern und Lehrenden aufspaltete, sowie die Nachwuchsprobleme der Soziologie. Gleichwohl betont er, dass die Durkheim-Soziologie in der Zwischenkriegszeit nicht allein als eine Geschichte des Niedergangs beschrieben werden kann, da Marcel Mauss, Maurice Halbwachs, aber auch die Annales-Historiographie deren Ansätze fruchtbar fortentwickelten.

Gleichwohl blieb das Erbe Durkheims ambivalent, da sich die französische Soziologie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von ihm distanzierte und sich unter dem Einfluss der amerikanischen Sozialwissenschaften empirisch orientierte; entgegengerichtete Versuche von Georges Gurvitch etwa konnten dem kaum begegnen.

Im sechsten Kapitel stellt Heilbron die sich in zwei Phasen vollziehende Expansion des französischen Hochschulsystems dar, in deren Folge die Soziologie zu einer vollwertigen universitären Disziplin wurde. In der ersten Phase, welche von Anfang der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre reichte, gelang es der Soziologie, eine eigene Infrastruktur mit Forschungsgruppen und Zeitschriften aufzubauen. Die zweite Expansionsphase setzte nach 1985 ein, blieb jedoch auf die Universitäten beschränkt, die sich weiter spezialisierten und den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes anpassen mussten.

Im letzten Kapitel schließlich zeigt Heilbron zentrale Tendenzen der französischen Soziologie seit den 1960er-Jahren anhand von Alain Touraines und Michel Croziers Arbeits- und Organisationssoziologie, Raymond Boudons methodischem Individualismus sowie Pierre Bourdieus reflexiver Soziologie auf.

Zweifelsohne ist Heilbron eine souveräne Gesamtdarstellung der französischen Soziologie über annähernd 200 Jahre gelungen. Positiv ist dabei, dass er die Analyse nicht nur auf soziologische Klassiker und deren Ideen beschränkt, sondern diese auf Zeitschriften, Institute und Organisationen ausgeweitet sowie marginale Gruppen wie die Le-Playisten integriert hat. So entsteht ein überzeugendes Panorama – auch im Vergleich zu bisherigen Soziologiegeschichten, welche durch zwei Merkmale charakterisiert sind: Diese Arbeiten beschränken sich zumeist auf die Jahre bis 1914 und folgen dabei dem Narrativ Terry N. Clarks, der den Höhepunkt der französischen Soziologie mit den Lebzeiten Durkheims (1858–1917) gleichsetzt, wodurch die Soziologie in den Folgejahren als eine Geschichte der Niedergangs dargestellt wird.3 Heilbron kann diesem Narrativ des Scheiterns die Vielfältigkeit der soziologischen Ansätze und deren disziplinübergreifende Rezeption in den 1920er- und 1930er-Jahren entgegensetzen.

Da es sich bei der vorliegenden Studie um eine Synthese handelt, lädt das Buch dazu ein, grundsätzlich über Forschungslücken und neue Fragestellungen nachzudenken. Zu problematisieren ist zunächst, ob das Eintreten der Soziologie in ihr disziplinäres Stadium ab den 1880er-Jahren mit einem Fokus auf das universitäre Feld adäquat beschrieben werden kann. So geraten außeruniversitäre Akteure (Dick May), private Lehranstalten (wie die École libre des hautes études sociales) oder das Verlagswesen komplett aus dem Blick, die jedoch die Disziplinierung der Soziologie wesentlich mitprägten.4 Auch in der deutschen Soziologiegeschichte lässt sich übrigens diese Konzentration auf akademische Kreise feststellen.

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Behandlung des Transnationalen. Zu begrüßen ist zwar die Intention Heilbrons, Transferprozesse zu berücksichtigen. So kann er aufzeigen, dass die amerikanische Soziologie in Frankreich bereits in den 1930er-Jahren (S. 119f.) und besonders nach 1945 adaptiert wurde (S. 139). Doch wie verhält es sich mit Elementen der deutschen Soziologie vor 1914, aber auch in der Zwischenkriegszeit? Ferner stellt sich die Frage, ob das Urteil über den begrenzten Einfluss der transnationalen Organisationen von Worms so haltbar ist (S. 71), würde man eben diese als Ausgangspunkt für eine umfassende transnationale Analyse nehmen. Hat Worms nicht gerade durch sein Institut international de sociologie, das regelmäßig Kongresse veranstaltete, einen transnationalen Kommunikationsraum geschaffen, der für die Institutionalisierung der Soziologie eine wichtige Rolle gespielt hat? Ist in diesem Sinne eine nationale Untersuchungsperspektive überhaupt die angebrachte? Dies wäre in weitergehenden Studien zu überprüfen, insbesondere um den nationalen Disziplingeschichten eine transnationale Soziologiegeschichte entgegenzusetzen.

Trotz der angeführten Kritikpunkte bietet das Buch einen gelungenen Überblick zur Geschichte der französischen Soziologie. Dabei eignet sich die Studie besonders für Studierende zum Zwecke der Einführung5, ist aber für jeden Soziologiehistoriker ein wichtiges, unhintergehbares Referenzwerk.

Anmerkungen:
1 Johan Heilbron, Comment penser la genèse des sciences sociales? Un entretien avec Johan Heilbron, sociologue, in: Revue d’histoire des sciences humaines 15 (2006), 2, S. 103–116, hier S. 103.
2 Zentrale Arbeiten Heilbrons dazu sind: Ders., Les métamorphoses du durkheimisme, 1920–1940, in: Revue française de sociologie 26 (1985), 2, S. 203–237; Ders., The Rise of Social Theory, Oxford 1995; Ders., Sociologie et positivisme en France au XIXe siècle. Les vicissitudes de la Société de sociologie (1872–1874), in: Revue française de sociologie 48 (2007), 2, S. 307–331.
3 Vgl. Roger L. Geiger, The Development of French Sociology, 1871–1905, phil. Diss. University of Michigan 1972; Terry N. Clark, Prophets and Patrons. The French University and the Emergence of the Social Sciences, Cambridge (Massachusetts) 1973; Laurent Mucchielli, La découverte du social. Naissance de la sociologie en France, Paris 1998.
4 Dafür plädiert: Sébastien Mosbah-Natanson: La sociologie comme „mode“? Usages éditoriaux du label „sociologie“ en France à la fin du XIXe siècle, in: Revue française de sociologie 52 (2011), 1, S. 103–132, hier S. 129.
5 Wünschenswert wäre daher noch eine abschließende Bibliographie gewesen.