Th. Hertfelder: Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft

Titel
Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft. Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik (1910-1945)


Autor(en)
Hertfelder, Thomas
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 60
Erschienen
Goettingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
835 S.
Preis
€ 96,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Conrad, Arbeitsstelle fuer Vergleichende Gesellschaftsgeschichte

Mit steter Regelmaessigkeit faellt der Name Franz Schnabels, wenn in der deutschen Geschichtsschreibung von den Aussenseitern die Rede ist, deren Werk eine methodische und politische Alternative zum lange Zeit vorherrschenden Historismus darstellte. Seine vierbaendige "Deutsche Geschichte" (1929-37) gilt als innovativer Versuch einer Synthese deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert, die nicht nur bisherige Randbereiche wie die Religions- oder auch die Technikgeschichte mit einbezog, sondern auch die Grenzen einer engen Politik- und Ereignisgeschichte ueberschritt. Nach der "Deutschen Katastrophe" von 1945 erschien Schnabel ueberdies einer Reihe von Historikern als liberaler Hoffnungstraeger, der der Historiographie den Weg aus der Sackgasse des borussophilen Nationalismus weisen wuerde.

Ungeachtet dieser generellen Wertschaetzung ist das Werk Schnabels bislang noch nicht Gegenstand einer eingehenden Untersuchung geworden. Lediglich eine handvoll Aufsaetze aus der Feder seiner Schueler, die allerdings der hagiographischen Versuchung nicht immer widerstanden haben, sind dem Werk Schnabels gewidmet. Hier schliesst nun die Muenchner Dissertation von Thomas Hertfelder eine Luecke. Seine detaillierte Werkbiographie beleuchtet nicht nur die Ursachen der disziplinaeren Marginalisierung, die Schnabel als Verfasser von Schulbuechern, als Katholik und schliesslich als Demokrat zeit seines Lebens erfuhr; daneben ordnet Hertfelder das Schnabelsche Werk in den Kontext der deutschen Geschichtsschreibung ein und rekonstruiert vor allem den spezifischen Deutungsansatz, mit dem der Karlsruher Historiker die moderne deutsche Geschichte, und mehr noch: die Geschichte der Moderne in Deutschland, interpretierte. Hertfelders kenntnisreiche und trotz des Umfangs sehr gut lesbare Studie beruht auf umfaenglichen Archivrecherchen, einer genauen Kenntnis des Schnabel-Nachlasses und des gesamten veroeffentlichten Textkorpus. Eine ueber 500 Titel umfassende Werkbibliographie ist der Arbeit als Anhang angefuegt.

Die Analyse von Schnabels opus magnum, der "Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert", bildet den Schwerpunkt der Studie. Umfangreiche Abschnitte ueber Schnabels akademischen Werdegang, seinen methodologischen Ansatz oder sein Frankreichbild stellen den intellektuellen und politischen Kontext bereit, der zum Verstaendnis des Hauptwerks noetig erscheint. Die grundlegenden Argumentationsmuster der "Deutschen Geschichte" setzt Hertfelder schliesslich auch in Beziehung zu der politischen Haltung Schnabels in der Weimarer Republik und im Dritten Reich.

Das zentrale Thema des Schnabelschen Werkes war die Diagnose einer allgemeinen Kulturkrise der Moderne, die Frage nach ihrer Entstehung und das Streben nach ihrer Ueberwindung. Den historiographischen Kontext dieser Gegenwartsanalyse bildete die allgemeine Krise des Historismus der Jahrhundertwende; als Katholik war Schnabel ueberdies fuer die gesellschaftlichen Spannungen im wilhelminischen Deutschland besonders sensibilisiert. Seine Sorge galt dem zunehmenden Auseinanderfallen von Gesellschaft und Staat, von Volk und Regierung. Hertfelder weist nach, dass Schnabel bei seiner Analyse nicht nur die Topoi des kulturpessimistischen Diskurses der Zeit uebernahm, sondern auch von der Lebensphilosophie der 20er Jahre (etwa Max Schelers) massgeblich beeinflusst war. Er sieht Schnabel somit nicht nur vom Historismus gepraegt, sondern auch von der auf Nietzsche oder Schopenhauer zurueckgehenden Tradition der Kulturkritik. Aus dieser Polaritaet, so eine der Thesen Hertfelders, erklaeren sich auch einige der Ambivalenzen in Schnabels Werk.

Die kulturkritische Komponente strukturierte auch die Argumentation in Schnabels "Deutscher Geschichte", die Hertfelder sehr plastisch nachzeichnet. Das Werk nahm eine Reihe von vorsichtigen Korrekturen am herrschenden Paradigma des Historismus vor; insbesondere setzte es sich von der ueblichen Erzaehlung von den 'grossen Maechten' ab, ebenso von der traditionellen Erfolgsgeschichte des deutschen Nationalstaates. Schnabels Fragestellung zielte tiefer, er fragte nach den Entstehungsbedingungen der modernen Gesellschaft; ungeachtet dieses 'gesellschaftsgeschichtlichen' Interesses blieben Sozial- und Wirtschaftsgeschichte allerdings noch weitgehend unberuecksichtigt. Die leitende Vorstellung bei der Interpretation der Moderne war eine Vorstellung von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", also des Weiterlebens von Elementen der Tradition in der Moderne. Schnabel griff dabei auf das idealisierte Bild einer "societas perfecta" im Mittelalter zurueck, in der er die Einheit und Zusammengehoerigkeit der europaeischen Voelker noch gewaehrleistet sah (auch hier zeigte sich der Einfluss Max Schelers). Diese Sicht des Mittelalters, das dem Leviathan der fruehen Neuzeit gegenuebergestellt wurde, diente fortan als Modell, an dem die Entwicklung der Moderne gemessen wurde.

Als Negativfolie dienten hingegen der Rationalismus Descartes, aber auch spaeter die Staatsmetaphysik Hegels, in denen Schnabel bereits die Vorlaeufer des modernen Totalitarismus erkennt. Die Moeglichkeit der Ueberwindung dieser Tendenzen der Moderne durch den "deutschen Geist" (zu dessen Vertretern zaehlt er Leibniz, Herder und Goethe) basierte bei Schnabel auf einer spezifischen Verlaufsform der Geschichte, der Figur der "revolutio". Mit diesem Begriff uebernahm Schnabel Elemente eines zyklischen Geschichtsbildes: er erhoffte sich die Ueberbrueckung des Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft durch ein dezidiertes Anknuepfen an die politischen Ordnungsvorstellungen der vorabsolutistischen Zeit. Der Begriff der "revolutio" implizierte fuer Schnabel das subkutane Fortwirken der Tradition in der modernen Gesellschaft, und dieses kulturelle Erbe erschien ihm als ein Reservoir zur Ueberwindung der Erstarrung der Moderne. Insbesondere die Religion galt ihm als Palliativ gegenueber dem Prozess der Saekularisierung und gleichzeitig als Basis einer Wiederaufnahme mittelalterlicher Traditionen.

Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund wird auch der spezifische Charakter von Schnabels Republikanismus deutlich. Schnabel gehoerte bekanntlich waehrend der Weimarer Republik zu den wenigen deutschen Historikern, die sich eindeutig auf die Seite der Demokratie schlugen. Sein Republikanismus war jedoch kein Verfassungsspatriotismus, sondern war eng mit seinen kulturkritischen Ueberzeugungen verbunden. So erkannte er etwa im Heimat-Konzept (der "Sehnsucht nach der Mutter Erde") einen Ausweg aus der Anonymitaet der Moderne und einen Ansatzpunkt zur Restaurierung von "Gemeinschaft". Dieser konservative Zug seines Kommunalismus war fuer Schnabel dennoch mit einer demokratischen Grundhaltung vereinbar, weil er die Demokratie nicht als Produkt der westeuropaeischen Naturrechtslehre begriff, sondern vielmehr als spezifischen Ausfluss der deutschen Geschichte: "Die moderne Demokratie" blicke auf eine "vornehmlich germanische Herkunft" zurueck; Schnabel lokalisierte die Wurzel des Weimarer Systems somit in den besonderen Traditionen des deutschen Genossenschaftswesens. Diese konservative Komponente hinderte ihn jedoch nicht, etwa nach dem Preussenputsch im Jahre 1932 dezidiert und oeffentlich Partei fuer die Republik zu ergreifen - anders als die Mehrheit seiner Fachkollegen, bei denen die Sehnsucht nach einer 'Vertrauensdiktatur' weit verbreitet war.

Schnabel galt fortan, und gilt auch heute noch, als einer der wenigen aufrechten Demokraten und dezidierten Gegner des Nationalsozialismus unter den deutschen Historikern. Dies war auch der Grund dafuer, dass er im 'Dritten Reich' von seinem Karlsruher Lehrstuhl entbunden wurde (1936); auch seine vierbaendige "Deutsche Geschichte" wurde (voruebergehend) verboten (1938). Bis Kriegsende war Schnabel nur noch als Privatgelehrter in Heidelberg taetig.

Auf der Grundlage der Recherche von Schnabels Nachlass fuegt Hertfelder diesem Bild vom liberalen Dissidenten jedoch einige vorsichtige Korrekturen an. So weist er nach, dass Schnabel die 'Machtergreifung' der Nazis zunaechst durchaus positiv bewertete und sich von ihrer "Revolution" eine Erfuellung seiner antimarxistischen und korporativistischen Ideen versprach. Hitler schien ihm dabei das geistige Erbe des Freiherrn vom Stein anzutreten, wie er in mehreren oeffentlichen Vortraegen hervorhob. Hertfelders Urteil ist eindeutig: "Die Vortraege und Notizen aus der Zeit um 1933 lassen keinen Zweifel daran, dass der Karlsruher Historiker sich nun dem breiten, in sich sehr heterogenen Lager des Antiliberalismus angeschlossen hat."(656/7)

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die ausfuehrliche Interpretation, die Hertfelder dem unveroeffentlichten fuenften Band von Schnabels "Deutscher Geschichte" zukommen laesst. Er macht damit erstmals das nur im Nachlass vorliegende Manuskript der Oeffentlichkeit zugaenglich. Das Buch wurde 1940 vom Verlag mit dem Titel "Das Erwachen des deutschen Volkstums" angekuendigt. Hertfelder rekonstruiert nun, wie in einem komplexen Wechselspiel von Zensur und entgegenkommender Selbstzensur das Manuskript den ideologischen Vorgaben der nationalsozialistischen Behoerden angepasst wird. Das Volkstum uebernimmt bei Schnabel nun die Funktion als leitendes Paradigma der historischen Rekonstruktion: das deutsche Volk erscheint als vorgaengiges Subjekt der Geschichte und beansprucht Primat gegenueber dem Staat. Auch wenn er rassenbiologische Formulierungen scheut, rueckt Schnabel das Volk dennoch in die Naehe einer naturhaft gegebenen Substanz und betont die fundamentalen Gegensaetze zu den Voelkern Westeuropas. In seiner Bewertung der Geschichte Osteuropas schliesst Schnabel ueberdies an die expansionistische Rhetorik des Nationalsozialismus an.

Hertfelder geht in seiner Einordnung dieses fuenften Bandes sehr behutsam vor, schreckt aber auch vor sehr kritischen Worten nicht zurueck. In der Summe kommt er zu der Ueberzeugung, dass zwischen den ersten vier Baenden der "Deutschen Geschichte" und der Verabsolutierung eines essentialistischen Volksbegriffs im fuenften Band eine "entscheidende Bruchlinie" verlaufe (717). Diese Differenzierung ist sicherlich nicht unplausibel; dennoch bleiben Zweifel an der tiefen Zaesur, die hier zwischen der Lebensphase des rechtschaffenen Demokraten und einer Zeit der Verfuehrung gezogen wird. Vielmehr faellt auf, dass zentrale Elemente der spaeteren Interpretation in Schnabels Geschichtsmodell bereits in den 20er Jahren angelegt waren. Dies gilt nicht nur fuer die Kategorie des "Volkstums" und der voelkischen "Gemeinschaft", sondern auch etwa fuer die Hoffnung auf eine revolutionaere Fuehrergestalt, die Apotheose des "deutschen Geistes" oder die vage Beschwoerung des Irrationalen als Faktor historischer Entwicklung.

Die ersten vier Baende der "Deutschen Geschichte" fanden ein weites oeffentliches Echo, wenn auch die Resonanz unter den Fachkollegen hinter den Erwartungen des Autors zurueckblieb. In den 60er Jahren wurden sie wiederaufgelegt und zeugen von der ungebrochenen Wertschaetzung, die Schnabels Werk nach wie vor geniesst (und einem auch aus den Nachrufen und biographischen Skizzen entgegentritt). Vor diesem Hintergrund besitzt Hertfelders sorgfaeltige Analyse von Schnabels Wirken im Nationalsozialismus besondere Brisanz. Auch im Zusammenhang mit den hitzigen Kontroversen, die gegenwaertig ueber die deutschen Historiker und ihre 'Verstrickungen' im Nationalsozialismus gefuehrt werden, ist dieser Befund von grossem Interesse; galt Schnabel doch bislang als unmissverstaendlicher Demokrat und als einer der entschiedensten Gegner des 'Dritten Reiches'.

Es gehoert zu den Verdiensten Hertfelders, diesem Bild des Karlsruher Historikers entscheidende Korrekturen hinzugefuegt zu haben. Darueber hinaus leistet er eine schluessige Analyse von Schnabels Werk, das kenntnisreich in den intellektuellen Kontext der Zeit eingeordnet wird. Einige Passagen sind dabei allerdings auch etwas ausfuehrlich geraten: etwa der Abschnitt ueber die Kontroverse mit Gerhard Ritter ueber die Deutung des Freiherrn vom Stein, die allein ueber 50 Seiten einnimmt. Auch wird einiges bereits bekannte wiederaufgenommen, etwa ueber den Historismus oder die Kulturkrise der Jahrhundertwende, die beide nicht gerade zur historiographischen terra incognita zu zaehlen sind. Diese Ausfuehrlichkeit resultiert in zwei grossen Baenden mit ueber 750 Textseiten - und war vermutlich auch der Grund fuer die Entscheidung, Schnabels Wirken nach 1945 nicht mehr mit einzubeziehen. Diese zeitliche Beschraenkung ist umso bedauerlicher, als Schnabel ja auch in den Bestrebungen um eine Revision des Geschichtsbildes nach der Katastrophe des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle gespielt hat. Schliesslich liesse sich einwenden, dass Hertfelder mitunter der Brisanz des ausgebreiteten Materials nicht ausreichend Rechnung traegt. So waren die Landesgeschichte des Elsass oder auch die Mitteleuropaidee, jeweils von Schnabel in den 20er und 30er Jahren propagiert, im Kontext der Zeit keine politisch neutralen Konzepte, sondern standen zumeist im Zeichen einer irredentistischen und expansionistischen Aussenpolitik.

Insgesamt jedoch ist Hertfelder ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung gelungen; seine sorgfaeltig argumentierte und sehr gut geschriebene Studie ist eine willkommene Erschliessung eines Bereiches, der bislang der Mythenbildung noch breiten Spielraum gelassen hatte.

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