S. Agugliaro: Teatro alla Scala e promozione culturale

Titel
Teatro alla Scala e promozione culturale nel lungo Sessantotto milanese.


Autor(en)
Agugliaro, Siel
Erschienen
Mailand 2015: Feltrinelli
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 4,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Toelle, Abteilung Musik, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik

Was für ein Bild! Im Juni 1975 fand in der Scala in Mailand ein sogenanntes „concerto antifascista“ statt, mit dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Dirigenten Claudio Abbado und einem sorgfältig ausgesuchtem Programm (Ludwig van Beethoven, 5. Klavierkonzert; Sergej Prokofiev, Alexander Newski-Kantate; Giuseppe Verdi, Va pensiero aus „Nabucco“). Draußen vor dem Theater bezogen militante Gruppen Stellung und begrüßten die Zuschauer, als sie nach der Vorstellung aus dem Haus strömten, mit dem faschistischen „saluto romano“; die in der Mehrzahl linken Zuschauer antworteten mit dem kommunistischen Gruß des „pugno alzato“, der erhobenen Faust. So standen sie einander auf dem Platz vor dem Opernhaus in zwei Gruppen feindselig gegenüber.

Alle Bücher über einzelne Opernhäuser, egal welchen Zuschnitts, sind reich an Anekdoten, und auch in dieser Studie, die als Dissertation 2015 den Preis „Together for Culture“ der Freunde des Mailänder Opernhauses „Amici della Scala“ gewann (und daraufhin sehr schnell gedruckt werden musste) finden sie sich zuhauf. Der italienische Kulturhistoriker und Musikwissenschaftler Siel Agugliaro berichtet aber vor allem von einer Geschichte des Scheiterns, konkret: des Scheiterns der „Demokratisierung“ eines Opernhauses. Auf 300 Seiten diskutiert der Autor, was ein solch „demokratisches“ Opernhaus sein könne und ob ein so repräsentatives Theater wie das Mailänder Opernhaus überhaupt in ein demokratisches Haus umfunktioniert werden könne; schließlich kommt er zu dem Schluss, dass alle Versuche seit dem späten 19. Jahrhundert, die Scala zu einem demokratischen Opernhaus umzubauen, gescheitert seien. Agugliaros Buch endet mit der Feststellung, dass sich auch fast 50 Jahre nach 1968, in Zeiten von GmbHs und privatrechtlichen Stiftungen, an der Exklusivität des Hauses eigentlich nichts geändert habe. Der Spruch „Ricchi, godete; sará l’ultima volta!“ („Ihr Reichen, genießt es! Es wird das letzte Mal sein!“) hat das gesamte 20. Jahrhundert hindurch Konjunktur gehabt und wird als Teil der Kontroversen um die öffentliche Finanzierung einer Dienstleistung, die vor allem von der Oberschicht genutzt wird, vermutlich nie verschwinden.

In den letzten Jahren sind eine Reihe von auf ausgedehnten Quellenrecherchen basierenden Arbeiten über europäische Opernhäuser in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen1, und auch die vorliegende Studie ist quellenintensiv und konzentriert sich auf diese Zeit, obwohl das Buch schon mit der Jahrhundertwende, der Wiedereröffnung des Hauses 1898 und dem Referendum von 1901, in dem die Stadtbevölkerung über städtische Subventionen abstimmte, einsetzt. Popularisierungsversuche hatte es an den großen städtischen italienischen Opernhäusern immer gegeben, und vielerorts waren sogenannte „spettacoli popolari“ zu niedrigen Preisen schon in den 1880er-Jahren eingeführt worden, doch wirklich drängend wurde die Frage nach der Legitimation des Hauses und der öffentlichen Subventionen dafür erst im demokratischen Nachkriegsitalien. Doch es ist eine Geschichte der immer neuen Strategien und der verpassten Chancen: Als in den späten 1940er-Jahren die Gedenkfeiern zu Verdis 50. Todestag 1951 geplant wurden, gab es zwar Gespräche mit dem Teatro del Popolo und der Società Umanitaria, doch das Komitee für die Feiern bestand schließlich aus Vertretern des Opernhauses und der Kommunen Mailand, Parma und Busseto.

Mit dem Aufkommen und der sehr schnellen Verbreitung des Fernsehens in den 1950er-Jahren nahm die Zahl der Theaterbesucher laut den Statistiken rapide ab; und die Arbeiter, die immer das Ziel aller Anstrengungen der democratizzazione waren, verloren zunehmend das Interesse an Oper. Als Politiker darangingen, die Finanzierung der Opernhäuser auf stabilere Beine zu stellen und das alte Finanzierungsgesetz von 1936 endlich zu ersetzen, wurde in die „Legge Corona“ ein Passus aufgenommen, der die Reservierung von 20% der Aufführungen für weniger wohlhabendes Publikum vorschrieb.

Im Zuge der politischen Kämpfe der 1960er-Jahre verwandelte sich die Scala „von einem Ort der mondänen Feste in eine politische Arena“ (S. 91). Bei der Saisoneröffnung 1965 regneten Flugblätter auf die Besucher herab – viele davon noch ganz traditionell im Auftrag von unzufriedenen Sängern, andere aber von den „sozialistischen Arbeitern der Baumwollfabriken Vallesusa und Fratelli Dell’Acqua“, welche den Besitzer der Fabriken beschuldigten, mehr an sein Vergnügen im Opernhaus als an seine 8.000 Arbeitnehmer zu denken.

Einer der Höhepunkte von Agugliaros Darstellung ist sicher der Gala-Abend zur Saisoneröffnung im Jahr 1968, als die Scala-Manager aus Angst vor Ausschreitungen in allerletzter Minute die Wörter „serata di gala“ auf den Ankündigungsplakaten durchstreichen ließen, um so die Wogen noch glätten zu können (S. 74f.). Zweitausend Polizisten sicherten schließlich an diesem umkämpften Abend den Platz vor dem Opernhaus, auf dem mehrere Hundert Studenten demonstrierten. Wie der Anführer der Demonstranten mehrere Jahre später in einem Interview erzählte, seien die Proteste nicht gegen die Aufführung gerichtet gewesen, sondern gegen die Institution Scala selbst und die durch sie verkörperten kulturellen Werte (S. 97).

Hier werden dann auch die Probleme des Buchs endgültig deutlich. Eine Anbindung an die politische Situation im Italien der Zeit findet kaum statt; stattdessen stützt sich der Autor auf sein konzentriertes Narrativ und bleibt im engen Rahmen der Kulturgeschichte der Stadt Mailand. Auch wenn er elegant schreibt und ganz generell den akademischen Traditionen des Landes treu bleibt, hat er sich doch von den faszinierenden Bildern und Anekdoten verleiten lassen. So bewegt er sich zwar immer innerhalb des italienischen Diskurses, vertut damit aber die Chancen auf ein größeres nicht-italienisches Publikum.

Eine große Aufwertung erfährt das Buch dagegen durch die ethnographischen Ansätze des Autors: Agugliaro hat sehr aufschlussreiche Interviews mit Zeitzeugen geführt, deren Auswertung in die Arbeit eingeflossen ist. In den 1970er-Jahren gab es mehrere „spettacoli in regione“, Konzerte, die in der Gegend um Mailand herum, meist in Fabriken, gespielt wurden. Über ein berühmtes dieser Konzerte (in der Fabrik Breda Termomeccanica in Sesto San Giovanni) im Jahre 1974 berichtete der Hornist des Scala-Orchesters 2013, dass „diese Sachen für die Scala – um sich zu öffnen – fundamental“ gewesen seien (S. 211). Und der Trompeter erinnert sich daran, dass sich im gesellschaftlichen Klima der 1970er- Jahre die Gewerkschaftsaktivitäten von Fabrikarbeitern und Theaterangestellten durchaus zu mischen schienen: „Ich spiele Trompete, der eine ist Angestellter, und der andere Arbeiter. […] Das war ganz normal.“ (S. 212) Es ist vielleicht nicht ganz richtig, aber doch verlockend, angesichts der Scala-Konzerte in den Fabriken außerhalb der Stadt Parallelen zu heutigen, meist nur punktuellen Musikvermittlungsprojekten zu ziehen, und danach zu fragen, was diese Aktionen der Scala gebracht haben mögen? Als „Ergebnis“ der „spettacoli in regione“ wird immerhin ein ehemaliger Gewerkschafter damit zitiert, dass mehrere Arbeiter nach den Scala-Konzerten begonnen hätten, Musik zu hören und dass die Nachfrage für Scala-Besuche etwas gestiegen sei (S. 227).

Das Buch, wenn auch nicht ganz zufriedenstellend, schließt also eine große Lücke, denn eine Nachkriegsgeschichte des wichtigsten italienischen Opernhauses gab es bislang noch nicht. Eine deutlichere Kontextualisierung im Rahmen der Nachkriegsgesellschaft und –politik Italiens wäre jedoch wünschenswert gewesen.

Anmerkung:
1 Fabian Bien, Oper im Schaufenster. Die Berliner Opernbühnen in den 1950er-Jahren als Orte nationaler kultureller Repräsentation, Wien 2011; Sarah Zalfen, Staats-Opern? Der Wandel von Staatlichkeit und die Opernkrisen in Berlin, London und Paris am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 2011; Paola Merli, Non solo Milano. Il Teatro alla Scala e l’industria operistica, in: Patrizia Landi (Hrsg.), Fare impresa con la cultura. Milano nel secondo dopoguerra (1945–1960), Bologna 2013.

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