M. Ijäs: Res publica Redefined?

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Titel
"Res publica" Redefined?. The Polish-Lithuanian Transition Period of the 1560s and 1570s in the Context of European State Formation Processes


Autor(en)
Ijäs, Miia
Reihe
Eastern and Central European Studies 5
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Behrisch, Universiteit Utrecht / Humboldt-Universität zu Berlin

Die finnische Historikerin Miia Ijäs legt mit ihrer Dissertation eine gründliche Untersuchung einer kritischen Phase der frühneuzeitlichen polnischen Geschichte vor. Mit dem Aussterben der ursprünglich litauischen Jagiellonen 1572 war die Fortexistenz der litauisch-polnischen Union existentiell gefährdet, zumal weder (anders als in England) eine weibliche Thronfolge in Betracht kam noch (anders als in Frankreich) eine Nebenlinie als Reserve bereitstand. In diesem kritischen Moment gelang es dem in den beiden Kammern des Reichtags (sejm) organisierten Adel, trotz starker regionaler, innen- wie außenpolitischer und konfessioneller Antagonismen, die Union zu festigen (Lubliner ‚Real‘-Union 1569), seine eigene ständische Identität nach innen und außen zu behaupten (Warschauer Konföderation 1573) und das Wahlkönigtum fest zu etablieren (Königswahlen 1573 und 1575).

Da die Wahl der letzten beiden Jagiellonenherrscher (Sigismund I. ‚der Alte‘ und Sigismund II. August) unstrittig gewesen war, blieb zunächst unklar, wie die Wahl eines neuen Dynasten – und idealerweise einer neuen Dynastie – erfolgen sollte: durch den Senat, also die von den geistlichen und weltlichen Würdenträgern des Reichs besetzte höhere Kammer des Sejm, durch den ganzen Reichstag oder durch die Gesamtheit des Adels (szlachta), der allerdings Hunderttausende wahlberechtigter Mitglieder zählte. In der Tat fand die letztere Variante der persönlichen Abstimmung (viritim) als am meisten der Tradition entsprechend den Zuschlag, so dass sich im Mai 1573 bis zu 50.000 Männer bei Warschau versammelten. Die Wahl Warschaus war umstritten – da Masowien ganz überwiegend katholisch geblieben war, bedeutete die erwartungsgemäß stark überdurchschnittliche Präsenz des regionalen Adels auch einen überproportionalen Anteil katholischer Stimmen.

Unterschiedliche Kandidaturen wurden den versammelten Wahlmännern präsentiert, darunter diejenige Ivans IV. von Russland, der von einem Teil des litauischen Adels favorisiert wurde, Johanns III. von Schweden (aus dessen Ehe mit Katharina, der Schwester des verstorbenen Sigismund II., der nachmalige Sigismund III. hervorging) sowie des Habsburgers Erzherzog Ernst. Die Wahl, bei der regional und/oder klientelär organisierte Gruppen von Adligen ihre Stimme kollektiv abgaben, fiel aber schließlich auf Henri de Valois, Bruder Karls IX. von Frankreich. Er war erst 22 Jahre alt, hatte sich aber – abgesehen von seinen dynastischen, finanziellen und diplomatischen Qualitäten – in den Religionskriegen bereits militärisch ausgezeichnet. Seine anti-protestantische Haltung und insbesondere seine Rolle in der Bartholomäusnacht im Jahr zuvor waren ein ernstzunehmendes, aber letztlich überwindliches Hindernis, da er – wenn auch widerstrebend – einer umfangreichen Wahlkapitulation (Pacta conventa/Articuli Henriciani) zustimmte, die die Rechte des polnischen Adels und seine freie Religionswahl verbriefte.

Unglücklicherweise reiste Henryk Walezy, wie er in Polen hieß, nach seiner Ankunft und Krönung im Februar 1574 bereits nach vier Monaten wieder ab, da er – als Heinrich III. – die Nachfolge seines plötzlich verstorbenen Bruders in Frankreich anzutreten hatte. Da man ihn an der Abreise hindern wollte, musste er das Krakauer Schloss nachts heimlich verlassen. Auf seine Königswürde wollte er gleichwohl nicht verzichten (und tat dies zumindest formal auch bis zu seiner Ermordung im Jahr 1589 nicht). Nicht nur deshalb stellte sich die Frage der Nachfolge nun in nochmals verschärfter Form; die Wahl des Jahres 1575 wurde auch vom größten Teil des litauischen Adels boykottiert, da er das Übergewicht Polens missbilligte, und es fand sich kein ähnlich akzeptabler Kompromisskandidat wie zwei Jahre zuvor. Daraus resultierte die Doppelwahl des Fürsten von Siebenbürgen, Stephan Báthory, und Kaiser Maximilians II., der allerdings im Jahr darauf starb.

Dass die Wahl in allen drei Fällen auf auswärtige Dynasten fiel, hatte mit deren politischer, finanzieller und militärischer Potenz zu tun, doch wurde auch auf dynastische Kontinuität größter Wert gelegt: Anna, die letzte böhmische Jagiellonin, war die Mutter Maximilians II.; Stephan Báthory heiratete ihre gleichnamige Cousine, die letzte polnische Jagiellonin und seine Mitherrscherin (so hatte man es auch für Henri de Valois vorgesehen). Abgesehen davon handelte es sich jedoch um eine prekäre Gratwanderung zwischen der Suche nach einem potenten auswärtigen Dynasten einerseits, der die Bedrohung aus dem Osten (Russland) und Südosten (Osmanisches Reich) auch aus eigenen Mitteln abzuwehren bereit war, und der Begrenzung königlicher Macht andererseits. Der Adel vermied so auf doppelte Weise eine weitergehende staatliche Zentralisierung und damit eine Einschränkung seiner eigenen, quasi-autonomen Stellung: Der König sollte keine allzu starken Rechtstitel erhalten, sehr wohl aber potent genug sein, um die auswärtigen Feinde in Schach zu halten und so eine Steigerung staatlicher Ausgaben vermeiden zu helfen. Diese Gratwanderung war kurz- und mittelfristig erfolgreich, langfristig bekanntlich nicht.

Die Autorin zeichnet überzeugend die historischen Kontinuitäten des 16. Jahrhunderts nach, in die sie die von ihr betrachtete ‚Übergangsperiode‘ einbettet. Auch die heute oft vereinfachend als ‚Real‘-Union bezeichneten Dokumente des Jahres 1569 fügen sich dabei in einen lang andauernden Prozess der schrittweisen, keineswegs unumstrittenen Amalgamierung der verschiedenen Landesteile (auch jenseits der polnisch-litauischen Dualität) ein. Zugleich vermeidet Ijäs – im Einklang mit der jüngeren Forschung – die früher übliche, fatalistische Sichtweise auf die polnische Geschichte, die das 16. Jahrhundert mit dem Blick auf spätere staatliche Dysfunktionalität, Fremdherrschaft und Teilung interpretierte. Vielmehr werden Ereignis- und Entscheidungsprozesse aus den innen- und außenpolitischen, konfessionellen und dynastischen Konstellationen und ihrer Wahrnehmung durch die Zeitgenossen heraus erschlossen – wozu die unterschiedlichen Vorstellungen davon gehörten, was die Republik (rzeczpospolita) ausmachte und ausmachen sollte.

Dank ihrer Sprachenkenntnisse hat Ijäs nicht nur die polnische, sondern auch die weitere europäische Literatur umfassend rezipiert (allerdings vermisst man schmerzhaft die wichtige Studie von Gottfried Schramm zum polnischen Adel im 16. Jahrhundert1). Die Einbettung der polnischen Entwicklung in andere europäische Staatsbildungsprozesse bleibt allerdings ein wenig oberflächlich und schematisch (an dieser Stelle vermisst man auch eine Erwähnung des systematisch vergleichenden Ansatzes von Thomas Ertman2). Auch die Begrifflichkeiten der politischen Theorie bleiben etwas unscharf und vage, während der Nutzen der (funktions-)soziologischen Metaebene zur Interpretation der Befunde nicht hinreichend evident wird. Gleichwohl unterstreicht die Arbeit, dass die polnische Entwicklung eine wichtige und allzu oft vernachlässigte Komponente im Gesamtpanorama des frühneuzeitlichen Europas war.

Anmerkungen:
1 Gottfried Schramm, Der polnische Adel und die Reformation 1548–1607, Wiesbaden 1965.
2 Thomas Ertman, Birth of the Leviathan: Building States and Regimes in Medieval and Early Modern Europe, Cambridge 1997.

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