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Titel
Alfred Meusel. Soziologe und Historiker zwischen Bürgertum und Marxismus (1896–1960)


Autor(en)
Keßler, Mario
Erschienen
Anzahl Seiten
207 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mike Schmeitzner, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Untersuchungen zur (deutschen) Historiographie erfahren seit mehreren Jahren eine deutliche Konjunktur. Im Fokus stehen dabei vor allem Studien zur Gründergeneration der bundesrepublikanischen Historiographie, die partiell im „Dritten Reich“ geprägt worden ist (wie Theodor Schieder oder Werner Conze), und zur Etablierung der Historiographie der DDR. Seit Mitte der 1990er-Jahre haben insbesondere Ulrich Neuhäuser-Wespy, Ilko-Sascha Kowalczuk und Martin Sabrow umfängliche Untersuchungen zur Implementierung einer sozialistischen Geschichtsschreibung vorgelegt. Bei allen dabei sichtbar werdenden Differenzen mit Blick auf Methoden und Bewertungsmaßstäben haben diese letztgenannten Studien doch eines gemeinsam: denselben abgesteckten Zeithorizont der 1950er- und 1960er-Jahre, wobei die Zäsur von 1945 gleichsam eine „Stunde Null“ markiert. Hinsichtlich der zu untersuchenden Organisationsgeflechte und Anleitungssysteme (durch die SED) erscheint dieses Vorgehen durchaus nachvollziehbar und sinnvoll. Was bei einem solchen Vorgehen unterbelichtet bleibt, ist jedoch die lebensgeschichtliche und wissenschaftliche Entwicklung der betreffenden Gründergeneration der DDR-Historiker vor der entscheidenden Zäsur von 1945. Welche Ausbildungen, Erfahrungen und Einsichten kamen hier zur Geltung? Aus welchen sozialen und politischen Lagern stammten diese Historiker? In welchem Exil hatten sie überlebt?

Mit Mario Keßler, Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und häufiger Gastprofessor an nordamerikanischen Universitäten, hat sich nun ein Experte für Wissenschaftlerbiographien mit Exil-Hintergrund den genannten Fragen angenommen und auf Alfred Meusel fokussiert. Keßler, der schon in der Vergangenheit mit verdienstvollen biographischen Studien zu exilierten Wissenschaftlern wie Arthur Rosenberg und Ossip K. Flechtheim hervorgetreten ist, kann im Falle Meusel auch auf eigene Vorarbeiten aufbauen. Wie kein anderer Historiker hat sich Keßler mit Vertretern der ostdeutschen Gründergeneration biographisch beschäftigt, sodass die vorliegende Studie als Ausfluss einer mehrjährigen intensiven Untersuchung bezeichnet werden kann. Ungeachtet dessen hat Keßler keine komplexe, mehrhundertseitige Studie vorgelegt, sondern eine problemorientierte biographische Skizze, die mit 137 Seiten über die Entwicklung des Protagonisten Auskunft gibt, dabei Schwerpunkte setzt und mit acht abgedruckten Dokumenten (u.a. Aufsätze, Lebensläufe, Begrüßungsansprachen, Protokolle von Parteileitungssitzungen der SED) noch einmal ca. 45 Seiten Ego-Dokumente präsentiert, die Meusels Wendungen und Brüche (sämtlich zwischen 1932 und 1956) selbsterklärend beleuchten sollen.

Mit Meusel hat sich Keßler einen Historiker ausgewählt, der allgemein zu den bedeutendsten und einflussreichsten Fachvertretern der DDR-Gründergeneration gezählt wird und der zweifellos auch zu den interessantesten und schillerndsten Persönlichkeiten dieser Kohorte zu rechnen ist. Im Gegensatz zu Walter Markov, Ernst Engelberg oder Albert Schreiner wurde Meusel nicht in der KPD sozialisiert; vielmehr entstammte er dem Bildungsbürgertum und hatte eine frühzeitige, durch die Revolution von 1918/19 bedingte Sozialisierung in der SPD erfahren. Anders als die Vorgenannten und weitere Gründerväter der DDR-Historiographie vermochte Meusel bereits auf eine veritable Wissenschaftskarriere in der Weimarer Republik verweisen. Er, der als junger Kriegsversehrter erstmals mit marxistischer Literatur in Verbindung kam und ab Sommer 1918 an der Kieler Universität studierte, konzentrierte sich bald auf die Fächer Soziologie, Nationalökonomie und Geschichte und ließ sich Ende 1918 von Kieler revolutionären Kräften zu einem eigenem politischen Engagement bewegen: Meusel wurde umgehend USPD-Mitglied und avancierte binnen weniger Wochen zum Vorsitzenden des Studentenrates und zum Gründungsvorsitzenden der Vereinigung sozialistischer Studenten an der Universität. In der Folge strebte der junge Intellektuelle eine Karriere allerdings nicht auf der politischen, sondern auf der wissenschaftlichen Ebene an. Meusels Wissenschaftskarriere darf als glänzend gelten: 1922 promovierte er an der Kieler Universität, 1923 erfolgte die Habilitation an der RWTH Aachen, die ihn 1930 auf einen Lehrstuhl berief.

Mit 34 Jahren zählte Meusel zu den jüngsten ordentlichen Professoren Deutschlands und galt als einer der brillantesten Soziologen. 1922 mit der Rest-USPD zur Mehrheitssozialdemokratie gewechselt, verließ er die Partei 1925, was zum damaligen Zeitpunkt freilich nicht der eigenen politischen Radikalisierung geschuldet war; er selbst bekundete, das „Vertrauen auf den gesellschaftlichen Fortschritt […] völlig verloren“ (S. 39) zu haben. Die erste Dekade der Weimarer Republik darf auch vor diesem Hintergrund als die fruchtbarste und produktivste seiner gesamten Wissenschaftskarriere gelten. Meusel veröffentlichte in den „Kölner Vierteljahresheften für Soziologie“ ebenso wie in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“, dem „Weltwirtschaftlichen Archiv“ oder auch im „Handwörterbuch der Soziologie“. In seiner Dissertation „Untersuchungen über das Erkenntnisobjekt bei Marx“ betrachtete der linke Demokrat den Marx´schen Gesellschaftsentwurf mit Skepsis und die vermeintliche Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion aufgrund der dort in Wahrheit herrschenden Partei- und Cliquen-Diktatur mit unverhohlener Ablehnung. Wie Meusel nach 1929 – quasi im Gefolge der Weltwirtschaftskrise – die bis dahin gewahrte Distanz und Ablehnung überwand, vermag Keßler eindrucksvoll nachzuzeichnen: Es war in erster Linie die „Enttäuschung über den […] Immobilismus der SPD-Führung“ (S. 48) und die scheinbaren Erfolge planwirtschaftlichen Agierens in der Sowjetunion, die eine schrittweise geistige Annäherung an den Kommunismus bewirkten. Ein im Anhang abgedruckter Aufsatz über den Wert der Planwirtschaft (1932) in Zeiten anarchisch-kapitalistischer Krisen verdeutlicht dieses Denken in nuce.

Nach seiner politisch motivierten Entlassung aus dem Lehramt 1933, dem britischen Exil und seinem dort vollzogenen Beitritt zur KPD stand es für ihn 1946 außer Frage, dass er in den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands übersiedelte. Angebotene Lehrstühle in Aachen (RWTH) und an der im britischen Sektor gelegenen TU Berlin schlug er aus. An der im Ostteil beheimateten Humboldt-Universität zu Berlin übernahm er zum Wintersemester 1946 einen „Lehrstuhl für politische und soziale Probleme der Gegenwart“ und ein Jahr später den Lehrstuhl für Neue Geschichte, was für den Soziologen ein neues, und nicht eben leicht zu bearbeitendes Feld darstellte. Meusels eigene Verpflichtung auf den Marxismus-Leninismus und seine große Reputation vor 1933 machten den Seiteneinsteiger-Historiker für die bald allmächtige Staatspartei SED so interessant, dass er ab Anfang der 1950er-Jahre wichtige Ämter (wie das des ersten Direktors des neu geschaffenen Museums für Deutsche Geschichte) übernehmen konnte. Wie problematisch sich Meusels Neuorientierung als Historiker und seine Festlegung auf den Marxismus-Leninismus ausnahmen, vermag Keßler anhand der wenigen in diesem Zeitraum entstandenen Arbeiten zu zeigen: Meusels Müntzer-Buch von 1952 etwa kam gänzlich ohne empirische Untersuchungen aus, propagierte dafür den Begriff der „frühbürgerlichen Revolution“ und musste sich wegen des von Heinz Kamnitzer besorgten Dokumententeils den (berechtigten) Vorwurf des Plagiates gefallen lassen (S. 92ff.). Nur noch wenige Arbeiten (wie der Beitrag „Woran starb die Weimarer Republik?“, S. 159–163) ließen das Handwerkszeug und die Brillanz des vormaligen Soziologen erahnen.

Keßler kommt in seiner gut lesbaren und differenziert bewertenden Studie – ähnlich wie Martin Sabrow oder Stefan Ebenfeld – zu dem Schluss, dass Meusel trotz aller Anpassungsleistungen kein „dogmatischer“ Parteihistoriker der SED gewesen sei (S. 133). Meusel habe zudem versucht, die Autonomie des Gelehrten nach Möglichkeit zu bewahren. Auch kann Keßler die bisherige Erkenntnis weiter stützen, dass Meusel Ende der 1950er-Jahre sogar der einzige DDR-Historiker von Format gewesen sei, der sich einer Spaltung der deutschen Geschichtswissenschaft (erfolglos) in den Weg gestellt habe. Wenn Keßler in Meusels Fall von „einem Element von Tragik“ (S. 137) spricht, weil dieser – wie Meusel in einem Brief an die Familie eines früheren sozialdemokratischen Freundes schrieb – etwa „wesentliche Prinzipien seiner früheren sozialistischen Gesinnung […] opfern“ (S. 135) musste, so ist dies zweifellos richtig. Doch hätte Meusel auch einen anderen Weg einschlagen können, der ihm 1946 offen stand – dies hätte freilich bedeutet: ohne den dann beherrschenden Einfluss in der Historiker-„Zunft“ der SBZ/DDR und ohne die materiellen Privilegien, die Keßler ebenfalls nennt (S. 135). Für „vom Nazismus Verfolgte“ (S. 136) gab es auch in den Westzonen und in der Bundesrepublik mehr Möglichkeiten, als Keßler annimmt und als Argument für Meusels Weg so stark macht: Die Beispiele Eugen Kogon, Ernst Fraenkel oder Richard Löwenthal mögen dies belegen.

Letztendlich wäre es sehr zu wünschen, wenn sich Keßler diesem „äußerlich erfolgreichen Bildungs- und Karriereweg eines deutschen Intellektuellen“ (S. 9) weiter widmet und in einer zweiten, etwas umfänglicheren Buchausgabe auch mehrere jener Beiträge im Dokumententeil berücksichtigt, die Meusels vorzüglichen Soziologenruf in den Jahren zwischen 1922 und 1932 erst begründet haben. Meusels wichtiger und heute noch sehr lesenswerter Beitrag „Zur Problematik der politischen und sozialen Demokratie“ (1928) sollte dann jedenfalls nicht fehlen. Der hier vorliegende Band zeigt ungeachtet dessen, wie erhellend biographische Annäherungen an die Gründergeneration der DDR-Historiographie im Einzelfall sein können.

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