M. Bloch: Carnets inédits (1917–1943)

Cover
Titel
Carnets inédits (1917–1943). Herausgegeben von Massimo Mastrogregori


Autor(en)
Bloch, Marc
Erschienen
Turin 2016: Nino Aragno
Anzahl Seiten
VIII, 392 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Schöttler, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Wie viele Historiker hat der französische Mediävist Marc Bloch (1886–1944) nicht nur Bücher und Aufsätze verfasst, sondern sich auch fleißig Notizen gemacht. Auf tausenden von Zetteln oder Karteikarten schrieb er Buchtitel, Zitate oder Gedanken auf, die ihm bei seinen Lektüren gekommen waren. All das sammelte er in systematisch geordneten Mappen, die aufgrund glücklicher Umstände erhalten sind – Lucien Febvre rettete sie aus dem besetzten Paris – und heute im französischen Nationalarchiv in Pierrefitte-sur-Seine (bei Paris) aufbewahrt werden. Das Findbuch steht mittlerweile im Internet.1 Daneben hat Bloch kleine Notizbücher geführt, von denen viele verloren, andere jedoch erhalten sind und sich im Besitz der Familie befinden. Zwei davon hat jetzt der Bloch-Spezialist Massimo Mastrogregori unter dem Titel „Carnets inédits (1917–1943)“ ediert, und dieses in einem kleinen italienischen Verlag auf Französisch erschienene Buch soll hier nachdrücklich empfohlen werden, denn es bereichert und korrigiert unser Wissen über die Gedankenwelt des bedeutenden Historikers Marc Bloch.

Das eine Notizheft mit grünem Umschlag beginnt 1917 und endet etwa 1939/40. Das zweite mit dem Titel „MEA“ (d.h. „Meins“) und rotem Umschlag beginnt 1940 und endet mit der Verhaftung des Autors durch die Gestapo im März 1944. Beide Hefte haben gemeinsam, dass sie überwiegend (beim ersten) oder ausschließlich (beim zweiten) Zitate enthalten, also kurze oder auch längere Textauszüge, die Bloch besonders wichtig oder interessant erschienen. Warum? Das ist natürlich eine Frage, die sich unwillkürlich stellt, aber erst durch genaue Lektüre und Kontextualisierung zu beantworten ist. Denn nur in wenigen Fällen hat Bloch den Zitaten selbst etwas hinzugefügt. Meist beschränkt er sich darauf, seine Quelle anzugeben und eine Überschrift zu formulieren, und selbst die fehlt gelegentlich. Daher ist nicht immer auf den ersten Blick klar, ob er sich mit dem Zitat „identifiziert“ oder es distanziert betrachtet und möglicherweise bei Gelegenheit kritisch verwenden will.

Insgesamt hat der Herausgeber 244 solcher Einträge transkribiert – 86 aus dem ersten Heft, 158 aus dem zweiten. Da Teile des ersten Heftes im Zusammenhang mit einer Edition von Blochs Schriften aus und zum Ersten Weltkrieg bereits 1997 publiziert wurden, sind 33 Notate aus dieser Zeit bereits bekannt,2 der Rest jedoch dürfte für alle Nichtspezialisten eine Entdeckung sein. Zumal Bloch hier nicht etwa typische Historiker-Zitate festhält, sondern ein Lektürespektrum vorführt, das ungewöhnlich ist. Während manches Buch, vor allem in den Kriegsjahren, wohl zufällig in seine Hände gefallen sein dürfte, stammen andere Bücher, wie etwa die Autobiographie von John Stuart Mill, ganz explizit aus einer Leseliste, die Bloch selbst vorher aufgestellt hatte. So haben viele Einträge eine Vorgeschichte, manche allerdings auch eine Nachgeschichte, also eine Rezeptionsgeschichte. Der bekannteste Fall dürfte ein Aphorismus von 1917 sein, den Mastrogregori als Nr. 3 zählt und der eine der wenigen Notizen darstellt, die ganz von Bloch formuliert wurden. Der Eintrag lautet: „Es gibt zwei Kategorien von Menschen, die nie die Geschichte Frankreichs begreifen werden: die, die sich nicht von der Königsweihe in Reims ‚anrühren‘ lassen – und die, die sich nicht von der Bewegung der Föderationen [1790] ‚anrühren‘ lassen.“ Etwas abgewandelt hat Bloch diesen Satz dann in sein postum publiziertes Buch über die „seltsame Niederlage“ von 1940 aufgenommen,3 und ausgerechnet diese Formulierung diente in den letzten Jahren einigen französischen Politikern wie Nicolas Sarkozy oder dem rechtsextremen Jean-Marie Le Pen zur Legitimation ihrer identitären Politik. Auch manche konservativen Historiker haben sich darauf bezogen, um Bloch als vermeintlichen Nationalisten zu interpretieren. Hier trägt die Edition der Notizhefte entscheidend zur Aufklärung bei. Denn Bloch hat seinem Gedanken damals ausdrücklich eine Überschrift gegeben, die lautet: „Über die französische Geschichte und warum ich kein Konservativer bin“.

So könnte man weiter verfahren und fast jedem Eintrag eine interessante Pointe abgewinnen: welche Autoren Bloch las und zu welchem Zeitpunkt, welche Denker ihm besonders vertraut waren und offenbar als Vorbilder dienten (etwa Spinoza, Mill oder Renan), während er andere besonders kritisch sah (etwa Bergson). Häufig finden sich auch politische Anspielungen – sei es, dass Bloch aus zeitgenössischen Pamphleten zitiert, sei es, dass die Analogie zur Gegenwart auf der Hand liegt. Dass Bloch ab 1943 immer wieder aus den soeben auf Französisch erschienenen „Gesprächen“ Goethes mit Eckermann zitiert, ist ebenfalls symptomatisch; es unterstreicht seine Fähigkeit und Absicht, zwischen Nazis und Deutschen zu unterscheiden.

Wie Bloch mit seinen Überschriften inhaltliche Akzente setzt, zeigt gerade eines dieser Goethe-Eckermann-Zitate: Darin wird die etwas bedrückende Weimarer – also die deutsche – Atmosphäre im Vergleich zum liberalen England beschrieben (Nr. 226), und Bloch formuliert dazu einen aktuell vergleichenden Titel: „La supériorité des Anglais – Pas de Verboten – Trop d’idéologie“ (Die Überlegenheit der Engländer – Keine Verbote – Zuviel Ideologie). In der Tat lohnen diese Überschriften eine „symptomatische“ Lektüre. Hier einige davon (in meiner Übersetzung): Wo befinden wir uns?; Ideologischer Krieg; Das Argument der politischen Masse; Gesunder Menschenverstand; Oligarchischer Charakter der Wissenschaft; Sinn für Probleme; Gegen die Idee eines schäbigen Materialismus; Gegen Ausbildung; Sinn für kleine Länder; Pariser Dummheit; Unmoral der Unternehmer; Spinozas frohe und menschliche Moral; Stellung des Reichen in der intellektuellen Kultur; Europa siegte mit Hilfe der Schrift (Nr. 131–144).

Natürlich kann man, wie bei jeder Edition, ein paar Einwände oder Verbesserungsvorschläge formulieren. So wäre eine Übersetzung der lateinischen Zitate sinnvoll gewesen, die von Bloch manchmal wie geheime oder private Botschaften verwendet werden. Wenn er etwa unter der Überschrift „Meine gegenwärtige Situation am 19. November 1940“ aus der Bibel zitiert (Nr. 103), sollte allen Nichtlateinern netterweise der Inhalt mitgeteilt werden: „Ich will warten bis meine Veränderung kommt.“ (Hiob, XIV, 14) Auch ein Sach- und Themenregister wäre bei dieser Zitatensammlung sinnvoll gewesen. Und dass das ausführliche, kenntnisreiche Nachwort des Herausgebers, das eine erste Interpretation der Notizhefte versucht, ganz ohne Belege und Bibliographie auskommt, ist ebenfalls verwunderlich. Doch das sind nur Kleinigkeiten. Alle, die sich für Marc Bloch und sein Werk interessieren (aber nicht nur sie), werden in diesem Buch reichen Gedankenstoff finden.

Anmerkungen:
1 siehe: https://www.siv.archives-nationales.culture.gouv.fr/siv/rechercheconsultation/consultation/ir/pdfIR.action?irId=FRAN_IR_000753 (10.12.2017).
2 Marc Bloch, Écrits de guerre (1914–1918). Herausgegeben von Étienne Bloch, Vorwort von Stéphane Audoin-Rouzeau, Paris 1997, S. 165–167.
3 Ders., Die seltsame Niederlage. Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge. Aus dem Französischen von Matthias Wolf, Vorwort von Ulrich Raulff, Frankfurt am Main 1992, S. 222.