R. Darques: Mapping Versatile Boundaries

Cover
Titel
Mapping Versatile Boundaries. Understanding the Balkans


Autor(en)
Darques, Regis
Reihe
Springer Geography
Erschienen
Berlin 2016: Springer
Anzahl Seiten
322 S., 140 Abb.
Preis
€ 149,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nenad Stefanov, Interdisziplinäres Zentrum für Grenzforschung Crossing Borders, Humboldt-Universität zu Berlin

Grenzen sind nicht erst seit gestern im Gespräch. Dies gilt ganz besonders für den Balkan, der seit den 1990er-Jahren scheinbar paradigmatisch für neue Abgrenzungen und ethnonationale Grenzziehungen steht.

Insofern weckt der Titel des hier zu besprechenden Buches Neugier: wie lassen sich „versatile boundaries“, wie der Autor Grenzen auf dem Balkan nennt, kartographisch abbilden? Nach der Lektüre wird deutlich, dass die Neugier, die der Autor mit Begriff „versatile boundaries“ weckt, nicht belohnt wird. Für den Kartographen Régis Darques liegt die Herausforderung vor allem darin, dass es sich seiner Ansicht nach auf dem Balkan vor allem um ausgesprochen zahlreiche Grenzen handelt, die zudem ausgesprochen schwer zu fixieren seien. Für Darques sind Grenzen in der Wirklichkeit existierende materielle Artefakte und nicht nur diskursive Konstruktionen. Es sind demnach keine vielfältigen, uneindeutigen „boundaries“ im Sinne von Prozessen gesellschaftlicher Abgrenzung, wie sie gerade in der kulturanthropologisch angeleiteten Forschung analysiert werden. Hier geht es primär um das Aufspüren und die Fixierung aller bisherigen Grenzlinien im geographischen Raum.

Ebenso lassen die Ankündigungen des einleitenden Abstracts aufhorchen: vermittels des vom Autor akkumulierten Korpus an Karten aus allen Epochen wird „the manner“ reevaluiert, in „which the Balkans are seen“. Zudem, so eine zentrale Hypothese des Autors: „Boundaries can no longer be considered as external geographic objects because they directly determine the nature of heartlands“ des Balkans (S. 24). Davon leitet Darques in seinen einleitenden Passagen eine allgemeine Beobachtung ab: „The powerful return of geography seriously questions the idea of a borderless world that freely submits to the domination of few leading powers and dominant territories.“ (S. 24) Darques unternimmt damit eine Neubewertung der Bedeutung von Grenzen auf dem Balkan anhand der Aggregation von Daten aus der bisherigen Kartenproduktion zum Balkan (S. 5–8).

Die Struktur des Bandes ist nicht chronologisch, sondern thematisch ausgerichtet. Zentral sind die Kapitel vier bis sechs, in denen die Ergebnisse der Datenaggregation vorgestellt werden. Hier seien kurz die einzelnen thematischen Schwerpunkte aufgeführt. Nach der genannten Einleitung werden im zweiten Kapitel anhand von Fallstudien aus der Feldforschung des Autors in Dalmatien, Vojvodina, Epirus und Südalbanien, sowie im Gebiet der griechisch-makedonischen und der griechisch-bulgarischen Grenze Konstellationen von Offen und Geschlossen beschrieben. Es werden Grenzziehungen und vor allem die Entstehung von Grenzübergängen in den genannten Gebieten kartiert.

Im dritten Kapitel wird mit der Beschreibung des Verfahrens, exakte Grenzverläufe zu rekonstruieren der eigentliche Schwerpunkt eingeleitet. Diese sind für Darques das entscheidende Charakteristikum des Balkans. Nicht etwa kulturelle Hybridität als Strukturmerkmal des Balkans, wie etwa die als Beispiel herangezogene Essenskultur, die dann gleich als Nebensächlichkeit verworfen wird (S. 56). Das vierte Kapitel schließlich präsentiert die GIS-Datenbank auf der seine Forschung basiert und in der die Grenzlinien eingespeist wurden. Chronologisch umfasst diese Datenbank die Zeit seit 1810 bis in die Gegenwart. Darin werden alle Arten von Grenzen zusammengetragen: von „short lived republics“, wobei nicht klar ist, was damit gemeint ist, außer, dass es diese „here and there in the Balkans“ gegeben habe, über Delimitationen während der Besetzungsherrschaft, insbesondere in den beiden Weltkriegen, weiterhin durch die selbsternannten Staaten während der Jugoslawienkriege, bis hin zu osmanischen Provinzen und Gebieten mit besonderem Status (S. 91). Es wird deutlich, dass es sich bei dieser „Grenzlinien-Datenbank“ nicht um „soziologische Tatsachen“ handelt, „die sich räumlich formen“ (Georg Simmel), sondern um höchst unterschiedliche Linien, von Staatsgrenzen, über Grenzen die nur am grünen Tisch eine kurze Existenz hatten und nie in der Landschaft gezogen wurden, bis zu osmanischen Provinzgrenzen, die einen ganz anderen Inhalt als moderne Staatsgrenzen hatten. Darques geht nicht weiter auf diese evidenten Unterschiede ein. Für ihn haben sie etwas Entscheidendes gemeinsam: es sind Linien auf Karten. Und das ist für den Autor das einzig ausschlaggebende Kriterium.

Darques kommt zu dem Schluss, dass der Balkan von einer „border resilience“ charakterisiert sei. Erstens gäbe es außerordentlich viele Grenzen, zweitens kämen diese in einer sehr kurzen Zeitspanne zum Vorschein (S. 111).

Ausgehend von diesem Befund, werden nun einzelne Aspekte in Variationen vorgeführt. Darques versucht im sechsten Kapitel der „border resilience“ als Kernmerkmal des Balkans Nachdruck zu verleihen und nimmt die Grenzlinien als Sicherheitszonen in den Blick, die von Militär und Polizei geprägt werden, was sich wiederum verändernd auf die gesamte Landschaft auswirkt und vom Autor als „border effect“ bezeichnet wird. Zentral für Darques ist dabei, dass diese Sicherheitszonen sich – insbesondere während des Kalten Krieges – bis zu dreißig Kilometer ins Hinterland ziehen konnten. Letztlich ist die These, die kartographisch ausgeführt wird, dass in territorial immer kleineren Staaten die Grenzzonen, anteilsmäßig immer größere Flächen einnehmen und schließlich nahezu der gesamte Balkan vom „border effect“ (S. 183f.) bestimmt wird. Somit prägen die Grenzränder, die Kontrollzonen, die tief in das Landesinnere reichen sollen, nahezu die gesamte Fläche des staatlichen Territoriums und damit die Gesellschaften.

Im siebten Kapitel widmet sich Darques schließlich der Verschiebung von Grenzen anhand der Analyse von wechselnden Grenzverläufen, wiederum in exemplarischen Mikrostudien. Kapitel acht betont die tiefgreifende Wirkung von Grenzen, hier anhand der bulgarisch-griechischen Grenze in Ostmakedonien. Vermittels der Trennlinien prägten sich die „demographischen Veränderungen“ – wie der Autor die ethnischen Säuberungen seit 1913 euphemistisch (S. 237) bezeichnet – tief in die regionale Gesellschaft ein. Zudem kommt es ausgehend von der unterschiedlichen Bedeutung für die beiden Staaten in den Augen des Autors zu fundamental unterschiedlichen Entwicklungen in den Rhodopen. Auch hier steht vor allem die Möglichkeit kartographischer Darstellung der demographischen Veränderungen und Migration im Vordergrund. Darques betont dabei, dass diese Grenze des Kalten Krieges „deeply anchored in geography and history“ sei und dass „geopolitical myths have to be in touch with reality“, im Gegensatz zum „current European dogma of open spaces promoting weak frontiers and territorial integration“ (S. 277).

Dabei ist festzuhalten: Darques denkt bei Grenzen nicht in erster Linie an den Nationalstaat als maßgeblich strukturierendem Faktor. Grenzen, nicht nur nationalstaatliche, sind für ihn insgesamt Merkmal des Balkans, diese sind überall und durchschneiden den Nationalstaat: „Borders are or were almost everywhere“ (S. 94). Für Darques sind alle Grenzlinien gleichermaßen relevant (S. 95, 131). Was Grenzlinien zu unterschiedlichen Zeiten bedeutet haben, ist für Darques sekundär. Primär geht es hier um eine Enzyklopädie aller jemals in den letzten beiden Jahrhundert aufgezeichneten oder gezogenen Grenzlinien und um ihre Kartographierbarkeit (S. 133).

Es ist deutlich geworden, dass nicht einmal im Ansatz eine Differenzierung zwischen den einzelnen Typen von Trennlinien diskutiert wird, es handelt sich um ein Konglomerat verschiedenster Linien, die in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten auftauchten. Seien es Linien auf Karten, die es nicht einmal aus den Schubladen ihrer Urheber geschafft haben, in denen sie ganz schnell nach Konferenzen verschwanden, bis hin zu staatlichen Trennlinien, an denen entlang neue Grenzgesellschaften entstanden. Zweitens ist der zentrale Beleg für Grenzen als „Herzland“ des Balkans, der Bezug auf die Sicherheitszonen im Kalten Krieg, die weit ins Hinterland und damit in die Gesellschaften hineinwirken. Vor allem aber werden diese Sicherheitszonen ahistorisch in die Zeiten davor und danach übertragen.

Die These von einer „border resilience vermittels der Aggregation von Grenzlinien durch zwei Jahrhunderte hindurch, die dann auf einer Karte diese Resilienz visualisieren sollen, kann nicht einfach die verschiedenen Ebenen von Strukturen, Diskursen und Akteuren im Hinblick auf Grenzziehungen schlicht beiseitelassen. Es bedarf des Nachweises im Einzelnen, wie diese Resilienz zwischen den einzelnen Ebenen vermittelt ist, um überhaupt in eine Diskussion darüber einzutreten.

Einzelne Beobachtungen enthalten gleichwohl Anregendes. Doch genauso viele apodiktischen Formulierungen irritieren: Der Autor geht fest davon aus: „Moving Balkan boundaries“ prägen Landschaft und Menschen, sie sind „full and thorough artefacts“, ja sogar „They are absolute geographic entities“ (S. 282). Dagegen haben anthropologische Studien zu Grenzgesellschaften nur „limited perspectives“. Ohne das weiter zu belegen, behauptet der Autor, diese schauten nur von „from one village to another“ (S. 283).

Ermüdend sind vor allem die besonders in der Einleitung versammelten Stereotypen über den Balkan, die dem Leser den Gegenstand ironiefrei auf Karl-Mayhafte Art schmackhaft machen sollen: „‘There’ everything is complex out of control, and unpredictable“ (Abstract) oder „in southeastern (sic) Europe no ground has been gained without bitter and deadly fights. Negotiations come later, once passions have reached a climax and all beligerents are exhausted“ (S. 3) oder, die vermeintliche Brisanz von Border Studies insbesondere seiner eigenen Arbeit hervorhebend: „Few original or critical works dare put frontiers at the focus center (sic)“ (S. 18) und ähnliches mehr in diesem nicht unbedingt originellen Sinne.

Somit lässt die zu Beginn Neugier hervorrufende Arbeit von Régis Darques den Leser am Schluss etwas ratlos zurück.