A. Messerli u.a. (Hgg.): Lesen und Schreiben in Europa

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Titel
Lesen und Schreiben in Europa, 1500-1900. Vergleichende Perspektiven


Herausgeber
Messerli, Alfred; Chartier, Roger
Erschienen
Basel 2000: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
632 S.
Preis
€ 68,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simona Slanicka und Andreas Suter, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Der Titel des Sammelbandes hält, was er verspricht. 32 Beiträge in deutscher, französischer, italienischer und spanischer Sprache bilden den Ertrag der Tagung „Lesepraktiken und Schreibpraktiken in Europa, 1500-1900“, die vom 11. bis 14. November 1996 im Centro Stefano Franscini auf dem Monte Verità in Ascona stattfand. Die historischen, literatur- und sprachwissenschaftlichen Einzelstudien behandeln so unterschiedliche Themen wie das enzyklopädische Registriersystem eines Westschweizer Bauernjournals aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, die Variationen der Bild- und Erzähltraditionen eines Märchens von Perrault, „Le Chat Botté“, oder das Schreiben, Drucken, (Vor-)Lesen und Parodieren von Spottreimen im frühneuzeitlichen England. Mit dieser zeitlichen, geographischen und interdisziplinären Breite und der Vielfalt des untersuchten Quellenmaterials legt der Band eine unverzichtbare Grundlage für die gegenwärtige, oft allzu überblicksartig argumentierende Diskussion über die Kommunikations- und Medienrevolutionen nach 1500 vor.

Durch die Kooperation der beiden Herausgeber finden nun endlich zwei Forschungsstränge zusammen, die eigentlich kaum unabhängig voneinander betrachtet werden können. Hat Roger Chartier die Geschichte des Buches und der Lesepraktiken, die nach der sozial differenzierten Rezeption und Aneignung von gedruckten Texten fragt, seit gut zwanzig Jahren als eine Weiterführung der Mentalitätengeschichte etabliert, so ergänzt nun Alfred Messerli diese Fragestellungen mit seinen Beobachtungen zur spezifischen Schreibkultur, die in eigenständigen Gebrauchsformen und Entwicklungsphasen die Ausbreitung von Drucktexten begleitet, aufgenommen, ignoriert oder beeinflusst hat. Auf solchen Schreibpraktiken und ihrem Verhältnis zum jeweils unterschiedlichen Angebot an Textvorlagen liegt der eigentliche, innovative Schwerpunkt des Sammelbandes.

Mit dem Aufkommen des Buchdrucks vertauschte die Handschrift, wie Messerli einleitend bemerkt, ihre Abhängigkeit von oralen Medien mit einer neuen Bindung an die typographischen Medien. Die Entwicklung einer zunehmenden Schriftkompetenz verlief dabei für unterschiedliche Bevölkerungsschichten phasenverschoben und zeichnete sich durch variierende Grade der Aneignung von Schriftkultur aus. Alphabetismus ist in diesem Kontext als unterschiedliche Beherrschung von funktional zwar verbundenen, jedoch oft autonom ausgeübten Praktiken und Techniken zu verstehen. So wurde vor 1800 oft nur die Lese-, nicht aber die Schreibfähigkeit ausgebildet; die Erlernung der beiden Fertigkeiten erfolgte, wenn überhaupt, nicht gleichzeitig, sondern mit erheblichem zeitlichen Abstand, wobei das Schreiben – obrigkeitlich ohnehin kaum erwünscht - auf eine untergeordnete, auf wenige Gebrauchskontexte abgestimmte Kompetenz wie etwa das Kopieren von Texten beschränkt blieb. Die unterschiedliche Verfügbarkeit von Texten verstärkte die Tendenz zum punktuellen, situativen Einsatz von spezifischen Lese- und Schreibfähigkeiten: So wurden etwa das Lesen von Handschriftlichem und von Gedrucktem als eigenständige Kompetenzen eingeübt und anhand von völlig verschiedenen Textsorten wie Kaufverträgen oder religiöser Literatur praktiziert. Diese Autonomie der Schrifttechniken lässt sich unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen, mit denen Messerli seine Einleitung abschließt: die Dissoziierung von Schreiben und Lesen, die im 16. Jahrhundert vollzogen wird und für das Ancien Régime kennzeichnend ist, die Unabhängigkeit der Lese- und Schreibfähigkeit von Büchern und Buchbesitz, die für die Bevölkerungsmehrheit in der Frühen Neuzeit gilt, und schließlich die Eigenständigkeit der Schriftlichkeit, die sich in erster Linie an Geschriebenem orientiert und von ihm geprägt wird, gegenüber der Mündlichkeit. Solche Differenzen aufzudecken, die zeigen, wie brüchig die in der Literalität so häufig unterstellten Analogien sind, ist eine zentrale Stoßrichtung der vorliegenden Diskussionsbeiträge.

Die fünf Themenfelder des Bandes sind entlang dieser Zielsetzung angelegt. Der erste und größte Abschnitt „Pratiques d’écriture ordinaire. Citadins et paysans“ fächert die verschiedenen Schreibpraktiken der breiten Bevölkerungsschichten, und insbesondere der ländlichen und bäuerlichen Schriftlichkeit, mit der sich vier der sieben Aufsätze befassen, im Ancien Régime auf. Der zweite Abschnitt „Apprentissages“, an dem sich vor allem italienische Forscher beteiligt haben, und der thematisch mit bloß vier Aufsätzen etwas zu knapp ausgefallen ist, diskutiert die vorhandenen, teilweise handschriftlichen und handschriftlich kopierten Unterrichtsmaterialien und die damit verbundene rudimentäre Didaktik des Lesens und Schreibens. Der dritte Abschnitt „L’écriture biographique et autobiographique“ zeigt das Ineinandergreifen von Lektüre und dem Schreiben „für sich“. Der vierte Abschnitt „La communication épistolaire. Modèles, supports, pratiques“ befasst sich mit der starken formelhaften Prägung des Briefeschreibens durch Manuale, literarische oder juristische Vorlagen. Der fünfte Abschnitt „Lire, écouter, voir“ verfolgt schließlich vorwiegend literaturgeschichtliche Fragestellungen und geht deshalb ausgeprägter als die vorhergehenden Beiträge auf Produkte der Elitekultur (z.B. Sentenzensammlungen, Literatur um 1800, Flaubert) ein.

Aus der Fülle der Beiträge sei hier ein besonders eindrucksvolles Beispiel herausgegriffen, das einen guten Eindruck von der historischen „Fremdartigkeit“ der Schreibpraktiken im Ancien Régime zu vermitteln vermag. Im ersten Themenfeld der „gewöhnlichen Schreibpraxis“ stellt Simone Ecklin das 652 Seiten umfassenden Journal des Landwirts Daniel Sandoz aus der Westschweiz vor. Dieses Hausbuch erstreckt sich über das Jahrzehnt von 1770 und 1779, wobei einzelne Verweise darauf schließen lassen, dass es sich um den einzigen erhaltenen Band einer ganzen Serie handelt, die mindestens vierzig Jahre vorher begonnen und von den aufeinanderfolgenden Generationen weitergeführt worden war. Bemerkenswert an dieser Quelle ist ihre Zweiteilung in das eigentliche Journal und das Register, das ihm vorangestellt ist. Das Register enthält alphabetisch geordnete Listen der behandelten Stichworte, die etwa von Beerdigungen, Briefkopien, gesätem und geerntetem Korn, Menstruationstagen, gefangenen Maulwürfen und in der Predigt erwähnten Bibelstellen handeln. Einige dieser Registereinträge haben den Charakter von Bilanzen, etwa der gezahlten Zehnten, oder der Grundstücksbeschreibung; sie sind oft generationenübergreifend zusammengefasst. Die 77 Registerstichworte sind unterschiedlich geeignet gewählt, so dass einige eine Fülle von Seitenverweisen zählen und sogar zu weiteren Verweisworten hinführen, andere hingegen überhaupt keine Belegstellen haben. Die Quelle erlaubt ferner auch präzise Rückschlüsse über ihre Redaktion. Für jedes Jahr sind vier Abschnitte reserviert: Die erste Seite ist für die Aufzeichnung von Heiratsanzeigen bestimmt. Die nächste Seite dient für die allgemeine Beschreibung des laufenden Jahres; sie wurde offensichtlich jeweils am Jahresende verfasst und beschreibt vor allem die meteorologischen und landwirtschaftlichen Ereignisse der einzelnen Monate. Die folgenden fünf bis sechs Seiten enthalten die Buchführungen des Gutes und des Haushaltes, die in Randspalten als Käufe und Verkäufe bilanziert werden. Anschließend folgt mit dem Journal die eigentliche Aufzeichnung der Tagesaktivitäten, die manchmal mehrmals am Tag erfolgt, inklusive der Abrechnung der täglich gelegten Eier. Die Führung des Journals stand vermutlich im Dienst einer doppelten, irdischen und himmlischen Ökonomie: Mit der Rechenschaft gegenüber sich selber und seiner Familie, hoffte der Autor sich auch vor Gott zu rechtfertigen und dessen Bilanz vorwegzunehmen.

Wie sieht die Bilanz dieser umfangreichen Forschungsanstrengung aus? In seiner „Conclusion“, die mit ihren unbearbeiteten Spuren der Mündlichkeit offenbar seinen Vortrag an der Tagung wiedergibt, skizziert Armando Petrucci einige Gemeinsamkeiten und Resultate der Aufsatzsammlung. Er stellt fest, dass die Beiträge, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für ihre Untersuchungen neues, bisher kaum diskutiertes Quellenmaterial erschließen und den Kanon der bekannten Texte, insbesondere jene der Elitenkultur, aussparen; dies ist zugleich ein Gewinn, womöglich aber auch ein Manko. Insgesamt orientiert sich der Band also vor allem an der Lese- und Schreibkultur der großen Bevölkerungsmehrheit des Ancien Régime, mit einem Schwerpunkt auf den Praktiken der ländlichen Schichten. Dadurch wird auch vermehrt die Frage nach potentiellen Mediatoren behandelt, die auf verschiedenen Ebenen entweder den Zugang zum Schreiben oder zur Textkultur vermitteln konnten. Etwas vernachlässigt bleiben auch hier jedoch die Vermittler oder Multiplikatoren der „offiziellen“ Kultur wie populäre literarische Autoren oder Übersetzer. Zu wenig kommt auch das Lesen und Schreiben von Frauen zur Sprache, was ebenfalls durch die Ausklammerung der Oberschichtenkultur mitbedingt ist. Was die Adressaten der Schreibtätigkeit betrifft, so ist auffallend, wie häufig die frühneuzeitlichen Schreiber „für sich“ geschrieben haben, in Form von Tagebüchern, Autobiografien, Erinnerungen, Notizen, Registern etc. Ferner stellt das Schreiben im Ancien Régime eine charakteristische Kommunikationsform in oder für eine bestimmte soziale Gruppe dar, etwa eine religiöse Gemeinschaft, als adlige oder bäuerliche Familientradition, als öffentliche Artikulation von Interessengruppen. Die untersuchten Schreibtechniken dienten vorwiegend dokumentarischen, pragmatischen Zwecken: Sie sind aus juristischen, wirtschaftlichen oder buchhalterischen Kontexten entstanden. Die meisten Eintragungen der behandelten Hausbücher, Register, Journale, Kalender etc. zielten auf eine zunehmende Rationalisierung der Lebenswelt, die durch die systematische Aufzeichnung von Erfahrungen, Daten und Zahlen erreicht werden sollte. Als spezifische Schreibpraxis tritt dabei das additive Aufschreiben hervor, also das periodische Hinzufügen von neuen Einträgen nach, neben oder auf früher Geschriebenes oder Gedrucktes. Die nachfolgenden Leser von solchen Texten sahen sich dadurch mit einer vielschichtigen Verweis- und Zitierpraxis konfrontiert, die sie ihrerseits fortführten, indem auch sie noch freie Leerstellen mit ihrem Text füllten.
Diese permanente Zirkulation von vielfach gelesenen, beschriebenen oder bemalten Texten relativiert auch die Reichweite von soziokulturellen Kontrollmechanismen des Wissens wie Zensur oder Schulbildung. Petrucci insistiert deshalb abschließend auf der Durchlässigkeit der frühneuzeitlichen Gesellschaft für verschiedenste, schichtenübergreifende Formen der Textzirkulation; Roger Chartier hat gezeigt, welche Massen an gedruckten Texten im Ancien Régime im Umlauf waren, durch eine Masse an Leserhänden gingen und dort zitiert, parodiert oder umgeschrieben wurden. Der Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten, die die Texte, ihre Illustrationen oder deren Kommentare den verschiedensten Lesern eröffneten, waren kaum offizielle Grenzen zu setzen. Dieselbe Durchlässigkeit gilt für das frühneuzeitliche Schreiben. Auch handschriftlich Geschriebenes ging durch zahlreiche Hände, Briefe, Tagebücher und Verträge ebenso wie Suppliken an die Obrigkeit; allein bei den letzteren sind tatsächlich institutionelle Kontroll- und Mediationsmechanismen dingfest zu machen, die den Wortlaut und Weg des Geschriebenen regulierten.

Den Rezensenten erscheint der Strauß der angebotenen Beiträge faszinierend bunt, insgesamt vielleicht zu bunt. Womöglich hätte eine leichte Einschränkung der Themenvielfalt und eine stärkere Ausrichtung der Diskussionen an den skizzierten Fragestellungen eine weitere Verdichtung der Resultate erlaubt. So aber bleiben die einrahmenden Interpretationsangebote am Anfang und Ende des Sammelbandes etwas unverbunden nebeneinander und den Aufsätzen stehen. Zu vermissen ist auch eine Einordnung dieser Forschungsleistung in die Debatte der vormodernen Mediengeschichte; gerade auch angesichts des langen Untersuchungszeitraums fehlen in den zusammenfassenden Abschlussbemerkungen, die etwas systematischer und vertiefter hätten ausfallen können, aus historischer Sicht zeitliche Entwicklungslinien, Periodisierungen und Veränderungsbedingungen. Diese Kritik verweist jedoch gleichzeitig auf eine große Stärke des vorliegenden Sammelbandes. Er erschließt eben in vielfacher Hinsicht neues, noch unvermessenes Terrain, dessen Konturen und Veränderungen beim gegenwärtigen Forschungsstand noch kaum scharf zu bestimmen sind. Es ist deshalb zu hoffen, dass er die Rezipienten zu vielfältigem, lohnenswerten Lesen und zu eigenem fortführenden Schreiben anregen wird. Dass sich dieses Terrain für weitere Forschungen lohnt, zeigen die vielen innovativen Beiträge, die hier versammelt sind.

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