A. Bilski: Entnazifizierung des Düsseldorfer Höheren Schulwesens

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Titel
Entnazifizierung des Düsseldorfer Höheren Schulwesens nach 1945. Demokratisierung und personelle Säuberung im Umfeld von Wiederaufbau und Reorganisation des Schulwesens einer Großstadt in der britischen Zone


Autor(en)
Bilski, Anja
Reihe
Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 87
Erschienen
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Miller-Kipp, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universitaet

Es war der jüdische Schriftsteller und Journalist Ralph Giordano, der dem nationalsozialistischen Deutschland einen „totalen Zusammenbruch von Humanität“ attestierte, dies aus eigenem Erleben: Er war der Deportation mit großem Glück entkommen.1 In Schuldhaft für diesen Kulturbruch und das ihm implizite „totale“ moralische Versagen nahm er, so weit im Einklang mit der Geschichtsschreibung, die bürgerlichen Eliten, dabei besonders aber ein Personenkollektiv: die deutschen Gymnasiallehrer und deren Schulinstitution, das deutsche, allen voran das humanistische Gymnasium.2 Sie, diese Lehrerschaft, war eine sozio-kulturelle Klasse für sich, das heißt die des akademisch (aus)gebildeten „Oberlehrers“.3 Sie verstand sich nach Berufstradition und kollektiver Wahrnehmung als Träger hoher bürgerlicher Allgemeinbildung, die mit humanistischem Fächerkanon auch politisch-moralischen Anstand implizierte. Dass dieses Personenkollektiv im NS-Regime mitgelaufen ist, ist bekannt. Nur in etwa bekannt aber und kaum genau erforscht ist, wie es sich dazu nach 1945 verhielt. Vermuten kann man: nicht signifikant anders als die Kollektive der Amts- und Funktionsträger in Politik, Verwaltung und Wirtschaft des „Dritten Reiches“, deren Geschichte bereits geschrieben ist; dass es also eine Verstrickung in das NS-Herrschaftssystem samt seiner Untaten glatt oder ausweichend negierte, sich glatt oder tentativ exkulpierte, dazu Widerständigkeit, wenn nicht Widerstand konstruierte oder auch in ideologischer NS-Affinität verharrte – Letzteres ist kürzlich vorgetragen worden, freilich in extremer Verallgemeinerung eines Einzelbefundes.4 Rekonstruiert aber ist nichts davon, eine Geschichtsschreibung zur Entnazifizierung der Lehrer des „höheren Lehramts“ ist eines der noch ungeschriebenen Kapitel deutscher Schul- und Gesellschaftsgeschichte. Der angezeigte Band geht es jetzt beherzt und so quellengesättigt wie kenntnisreich an. Die eben ausgesprochene Vermutung wird dabei gründlich bestätigt.

Genau genommen gilt das historiographische Interesse der Autorin zwei Sachverhalten, wie auch dem Untertitel zu entnehmen ist: zum einen der „Reorganisation einer weitgehend zerstörten Stadt und ihrer Verwaltung“, zum anderen „der politischen Säuberung der in diesen tätigen Personen“. Für das erste Interesse wird beispielhaft das „wieder entstehende Schulwesen der späteren Landeshauptstadt Düsseldorf“ untersucht; für das zweite rückt sie „die Lehrkräfte […], die sich ab 1945 bis zum Schuljahr 1952/53 zum Unterricht an den Düsseldorfer Höheren Schulen meldeten“, in den Fokus (S. 11); die Beschränkung auf die Lehrkräfte der höheren Schulen – Personen und Institutionen zwischen 1940 und 1941 sowie zwischen 1948 und 1953 sind namentlich tabellarisch aufgeführt5 – ist forschungspragmatisch begründet: nur für dieses Personenkollektiv sind alle personenbezogenen Daten und Entnazifizierungsunterlagen zugänglich – ein akribischer Forschungsanspruch. Der angezeigte Band weist mithin zwei lokalgeschichtliche Teile auf, und das geht darauf zurück, dass Bilski über die „Reorganisation des Düsseldorfer Schulwesens nach 1945“ eine Staatsarbeit geschrieben und sie um die Entnazifizierungsgeschichte wesentlich ergänzt zur Dissertation ausgearbeitet hat.6 Aus diesen beiden Arbeitsschritten erklären sich auch einige Redundanzen in der Darstellung wie im Quellenzugriff, aber das ist eine eher kleinliche Anmerkung angesichts einer hervorragenden Forschungsleistung. Soweit ich sehe, werden nicht nur alle in Frage kommenden Quellen – veröffentlichte und unveröffentlichte Archivalien und Dokumente – sondern auch die gesamte einschlägige Forschungsliteratur einschließlich ihrer Diskurse herangezogen (Quellen- und Literaturverzeichnis im Anhang). Kritisch einwerfen kann man nur, dass eine systematische Verbindung beider Teile, systemtheoretisch gesehen der „Mikroebene“ Schulen und Lehrer mit der „Makroebene“ Schulwesen, Schul- und Verwaltungsstruktur (Düsseldorf/NRW) sowie zuletzt auch mit dem „alles überspannenden Rahmen, nämlich der Alltagswirklichkeit der ‚Stunde Null’“ (S. 30), nur punktuell sichtbar wird. Selbstverständlich interferieren diese „Ebenen“ – aber wie denn genau? Wie etwa beeinflusste der Verwaltungsaufbau das Schulwesen, wie die Schulstruktur(debatten) die Verwaltungspolitik, wie der entbehrungsreiche Alltag der „Stunde Null“ Schul- und Entnazifizierungsverhalten? Diesen Prozessen wäre eigens nachzugehen – der angezeigte Band liefert dafür eine ausgezeichnete Grundlage.

Er beginnt einleitend mit einer ausführlichen Erörterung zu Thema, Methode, Ziel, Forschungsstand, Quellenlage usw.; diese Einleitung ist erkennbar dem Dissertationszweck geschuldet und hätte für die Verlagsveröffentlichung durchaus gekürzt werden können. Das zweite Kapitel beschreibt die „Rahmenbedingungen des Schulunterrichts nach dem Kriege“: Bevölkerungszahlen, Versorgungslage, administrative Fragen; das dritte Kapitel rekonstruiert dann die „Schwierigkeiten des Wiederaufbaus der Düsseldorfer Schulen und der Erteilung regulären Unterrichts sowie strukturelle Eingriffe der Besatzungsmacht in das Schulwesen“; beide Kapitel sind detailreich und faktengesättigt. Das vierte Kapitel gilt der „personellen Entnazifizierung“ (S. 5); ergänzt wird es durch das fünfte Kapitel zur „inhaltlichen Entnazifizierung des Düsseldorfer Schulwesens“, was hier „die ‚Re-education‘-Bemühungen der Briten“ als Bemühungen zur Unterrichtsreform und zur Säuberung durch Lizensierung von Schulbüchern meint (S. 6). Das siebte und letzte Kapitel – „Bilanz und „Ausblick“ – hält knapp Ergebnisse und Aussagen des vierten Kapitels fest; eine systematische Bilanz wird nicht gezogen.

Das gewichtigste Kapitel des angezeigten Bandes, nicht nur vom Umfang her – es macht gut die Hälfte des Textes aus – sondern vor allem im Blick auf die historiographische Leistung, ist das vierte Kapitel; es ist zugleich auch das spannendste. Die „Entnazifizierung“ der Deutschen, ein seinerzeit besatzungs-, dann innenpolitisch schwieriger, bis heute in der Forschung kontrovers diskutierter Prozess, wird für den gegebenen politischen Raum und am gegebenen Personenkollektiv wünschenswert gründlich rekonstruiert und in allen Facetten ausgeleuchtet, von der amtlichen Durchführung und dabei der Vorstellung der entnazifizierenden Akteure, über den berühmt-berüchtigten Entnazifizierungsfragebogen in seinen beiden Varianten (1945, 1946, im Anhang wiedergegeben) bis zu den Entlastungszeugnissen, den sogenannten „Persilscheinen“. An einzelnen Unterkapiteln seien hier nur erwähnt: die Untersuchung der Fragebögen auf unstimmige Antworten bzw. Lügen hin; das komprimierte Zitat von Entlastungszeugnissen, durch das eine Typologie der Entlastungssemantik sowie die Argumentationspolitik und das „Zeugenkonzept des Persilscheins“ (S. 362) zu erkennen sind; und nicht zuletzt die genaue Rekonstruktion einiger persönlicher Fälle, die den kommunikativen Prozess der Entnazifizierung bis in psychologische Einzelheiten anschaulich und nachvollziehbar macht. Dokumentiert wird hier, dass die Konstruktion von Widerständigkeit, die Behauptung von Judenfreundlichkeit und/oder von hilfreichem Verhalten gegenüber Verfolgten sowie bevorzugt die Vorlage von Entlastungszeugnissen aus eben diesem Personenkreis die (ein)geübte Strategie war. Wie es belastete Gymnasialdirektoren auf diese Weise schafften, von der Beurteilung als „Nazi“ nach Kategorie III des Entnazifizierungsfragebogens („geringerer Übeltäter“) nach Kategorie IV („Anhänger“) oder sogar Kategorie V („entlastet“) zu mogeln und sich so das Lehramt oder doch wenigstens ein Ruhegehalt zu sichern, ist hier genau nachzulesen; es ist peinlich und beschämend. Als Erklärung für die Entlastungskumpanei führt Bilski an, dass sich der von ihr vorgenommene Personenkreis wie die Deutschen allgemein als Opfer des Krieges und als Leidensgemeinschaft im Nachkriegselend sahen und fühlten und daher gegenüber der alliierten Besatzung eine Solidargemeinschaft bildeten. Das ist plausibel und wird in der Nachkriegshistoriographie vielfach vorgetragen.

Im Anhang des Bandes wird die Entnazifizierung der Schulleiter und Schulleiterinnen der Höheren Schulen Düsseldorfs durch die statistische Auswertung aller Angaben in beiden Entnazifizierungsfragebögen komplett dokumentiert (S. 446–455). Das ist außerordentlich aufschlussreich und instruktiv und erlaubt u.a., die offenen Fragen und die Vermutungen zum Verhalten der deutschen Philologen nach 1933 und nach 1945 am repräsentativen Beispiel genau zu beantworten und dabei politische Wahrnehmung, Selbstkonstruktion und Fremdzuschreibung nach 1945 in ihrem zeitlichen Verlauf zu beobachten. Damit ist die Entnazifizierungsforschung an dieser Stelle überzeugend abgeschlossen. Ihr Ergebnis ist – leider – nicht anders als zu vermuten war. Stark vermuten darf man jetzt, dass es bei den Philologenkollektiven andernorts nicht anders aussieht. Das aber bedarf der Fundamentierung durch anschließende historische Forschung. Anja Bilski hat mit dem angezeigten Band diese Forschung auf hervorragende Weise vorangebracht.

Anmerkungen:
1 Vielfach, insbesondere auch in Talk-Shows niedergelegt. Giordano (1923–2014) war ein streitbarer Autor; er und seine Familie überlebten in einem Kellerversteck in seiner Geburtsstadt Hamburg.
2 Giordano besuchte Hamburgs humanistisches Elite-Gymnasium, das „Johanneum“; er musste es noch vor dem Abitur verlassen – per ministeriellem Erlass vom November 1938 und nachfolgend 1939 mit der 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz („Nürnberger Gesetze“) war Juden der Besuch deutscher Schulen verboten worden.
3 Zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich „Philologe“ als Begriff für sie durch. Vgl. zuletzt Gerhard Kluchert, Der Gymnasiallehrer – Kontinuität und Wandel in beruflichem Selbstverständnis und Handeln, in: Christian Ritzi / Frank Tosch (Hrsg.), Gymnasium im strukturellen Wandel, Bad Heilbrunn 2014, S. 35–64.
4 Saskia Müller / Benjamin Ortmeyer, Die ideologische Ausrichtung der Lehrkräfte 1933–1945. Weinheim und Basel 2016, S. 174. Als Skandalfall verhandeln die Autoren dort, wie sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hamburg eine wertvolle Immobilie aus vormals jüdischem Besitz nach 1945 wieder aneignete.
5 In den meisten Fällen aus den Philologen-Jahrbüchern; sie erschienen bis zum Schuljahr 1941/42 (48. Jahrgang), dann mit 1. Jahrgang wieder zum Schuljahr 1948/49.
6 2016 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vorgelegt.

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