J. Mikoletzky u.a.: Die Geschichte der Technischen Hochschule in Wien

: Die Geschichte der Technischen Hochschule in Wien 1914–1955. Teil 1: Verdeckter Aufschwung zwischen Krieg und Krise (1914–1937). Wien 2016 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-205-20131-1 146 S. € 25,00

: Die Geschichte der Technischen Hochschule in Wien 1914–1955. Teil 2: Nationalsozialismus – Krieg – Rekonstruktion (1938–1955). Wien 2016 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-205-20132-8 242 S. € 25,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabel Schmidt, Technische Universität Darmstadt

Gleich der erste Band der Reihe „Technik für Menschen. 200 Jahre Technische Universität Wien“, die anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Technischen Hochschule Wien (im Folgenden TH Wien) von Rektorin Sabine Seidler herausgegebenen wurde,1 beschäftigt sich mit der Zeit des Nationalsozialismus an der TH Wien. Nachdem die TH/TU Wien, wie viele andere Hochschulen auch, es lange Zeit versäumt hatte, das Thema anzugehen, zeigt dies einen deutlichen Wandel. Hintergründe zu diesem Wandel liefern Juliane Mikoletzky und Paulus Ebner, beide sind im Archiv der TU Wien tätig, zu Beginn ihrer aus zwei Teilbänden bestehenden Publikation. Statt einer klassischen Einleitung stellen sie ihr einen thematischen Einstieg zur Erinnerungspolitik an der TH/TU Wien voran.

Ausgehend von der Prämisse, dass sich die NS-Zeit nicht ohne einen „Rückblick auf die Situation der vorangegangenen Jahrzehnte bis hin zum Ersten Weltkrieg“ (1. Teilband, S. 13) erklären lässt, beginnt der erste Teilband bereits im Jahr 1914. Dazu passt, nicht 1945 sondern 1955 als Endpunkt des Untersuchungszeitraums anzulegen. Die Grobgliederung der beiden Teilbände ist chronologisch angeordnet, die Chronologie wird vereinzelt von Kapiteln zu Sachthemen und Hochschulgruppen durchbrochen. Ausgespart bleibt die Disziplinengeschichte. Nicht überall musste bei „Null“ angefangen werden, unter anderem konnte man auf ein 2001–2003 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (BMBWK) finanziertes Projekt mit Ausstellung zur TH Wien während des Nationalsozialismus zurückgreifen. Als besonderes ‚Plus‘ sind beide Teilbände (direkt im Text mit einer zweiten Spalte) ins Englische übersetzt. Einziger Nachteil ist, dass die Fußnoten ausgelassen wurden.

Teilband 1: Verdeckter Aufschwung zwischen Krieg und Krise (1914–1937)

In insgesamt sechs Kapiteln behandeln Mikoletzky und Ebner die Geschichte der TH Wien zwischen 1914 und 1937. Mikoletzky umreißt zunächst – dabei macht sie Rückgriffe auf wesentliche Entwicklungslinien in die Zeit vor 1914 – die Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Kapitel „Krieg der Ingenieure? Die Wiener Technik und der Erste Weltkrieg“ untersucht Mikoletzky dann die Veränderungen der Rahmenbedingungen von Studium und Forschung durch den Ersten Weltkrieg. Aufgrund der guten Aktenlage – das Unterrichtsministerium hatte die Universitäten im April 1915 angewiesen, alles zu archivieren (Teilband 1, S. 61) – kann Mikoletzky einige Kooperationen aufzählen, die von militärischen Forschungsaufträgen einzelner Institute bis zur Unterbringung von Fremdfirmen in den Hochschulräumen reichten. Doch die anfängliche Kriegsbegeisterung ging spätestens 1916 zurück. Die deutsch-nationale Stimmung hielt gleichwohl ungebrochen an. Wie Mikoletzky und Ebner in den folgenden zwei Kapiteln zeigen, nahm diese an der TH Wien besondere Züge an. Sehr deutlich arbeiten sie für die Zwischenkriegszeit eine Haltung der TH Wien heraus, die ihr wiederholt den Ruf als „Vorreiterin“ und „Hort völkisch-nationalen Gedankenguts“ einbrachte (Teilband 1, S. 94). Dazu zählt ein Beschluss von 1918, Angehörige nicht-deutscher Nationalität möglichst vom Lehramt fernzuhalten (Teilband 1, S. 83), ein Numerus Clausus von 1923, wonach ausländische Hörer nur nach Eignung und jüdische Hörer auf 10 Prozent beschränkt wurden, sowie das „Studentenrecht“ (1924), eine antidemokratische Wahlordnung der Studentenvertretung, die „deutsch-arische“ Studierende stark begünstigte. Hintergrund dieser Entwicklungen waren die Überfüllung der Hochschulen und die Politisierung der Studierenden. Eine besondere Rolle bei der Radikalisierung der Studierenden an der TH Wien übernahm die Deutsche Studentenschaft und ab 1931 der wachsende Einfluss des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB), wobei explizite Parteipolitik zunächst noch vermieden wurde, wie Ebner im Abschnitt zur studentischen Politik zwischen 1925 und 1933 herausarbeitet. In Opposition zur Deutschen Studentenschaft standen an der TH Wien traditionell stark vertretene sozialistische und jüdische Studierende. Mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise erreichten gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern 1932 bis 1934 ihren Höhepunkt. Infolge bewaffneter Angriffe und Jagden auf jüdische Studierende kam es zu mehrtätigen Schließungen der TH Wien. Deutlich wird: Schon lange vor 1938 stand der Großteil der Studierenden den Ideen des Nationalsozialismus positiv gegenüber (Teilband 1, S. 120). Die besonders antidemokratischen und antisemitischen Erlasse und damit unterstützende Haltung der TH Wien erklären Mikoletzky und Ebner mit der Person des Rektors, Rudolf Saliger (Teilband 1, S. 110), der ausbleibenden Reaktion des Unterrichtsministeriums sowie mit einem „Wunsch nach Ruhe“ des Professorenkollegiums (Teilband 1, S. 112).

Im Kapitel „Finanzielle Auszehrung und politische Repression: Die Technische Hochschule Wien im ‚Ständestaat‘ 1933–1937“ widmen sich Mikoletzky und Ebner der Zeit des austrofaschistischen „Ständestaats“, der im März 1933 von Kanzler Engelbert Dollfuß etabliert worden war. Die Deutsche Studentenschaft wurde aufgelöst, die NSDAP verboten, ein Erlass des Unterrichtsministeriums gegen „Überfüllung der österreichischen Hochschulen“ sollte Studierende aus NS-Deutschland fernhalten (Teilband 1, S. 85). Dies bedeutete jedoch kein Ende der Aktivitäten von NS-Organisationen an der TH Wien und anderswo, Studierende und Beschäftige organisierten sich vielmehr im Untergrund illegal weiter (Teilband 1, S. 143).

Teilband 2: Nationalsozialismus – Krieg – Rekonstruktion (1938–1955)

Band 1,2 deckt die Zeit des Nationalsozialismus und das erste Nachkriegsjahrzehnt in 13 Kapiteln ab (neun von Mikoletzky, vier von Ebner). Im Zentrum stehen die personellen Veränderungen ab 1938. Auf den „Anschluss“ Österreichs im März 1938 folgte die institutionelle Umgestaltung der TH Wien. Mikoletzky beschreibt die erste Zeit als Tage voller „hektischer Aktivitäten“ (Teilband 2, S. 13): Noch in derselben Sitzung, in der die Professoren ihre Freude über den „Anschluss“ zum Ausdruck brachten, wurden erste Beurlaubungen von im NS-Sinne unerwünschten Personen durchgeführt. Für die Vereidigung auf den Führer brachte man es innerhalb von 10 Tagen fertig, die „rassische Würdigkeit“ von mehreren Hundert wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Angestellten zu überprüfen. Trotzdem verlief die Machtübernahme an der TH Wien im Vergleich zu den anderen Hochschulen „geordnet“ (Teilband 2, S. 15). In der Folgezeit wurden die Leitungsorgane nach dem Führerprinzip umgebaut, lokale Gremien der NSDAP eingerichtet, Vereine und Stiftungen gleichgeschaltet.

Für die Beschreibung der „Säuberung“ an der TH Wien wertete Mikoletzky in einem eigenen Kapitel die vorhandenen Personalakten aller 309 im Jahr 1938 im Dienst befindlichen Personen aus, darin inbegriffen sogar das nichtwissenschaftliche Personal, eine absolute Besonderheit für Untersuchungen dieser Art (Teilband 2, S. 25). Dass beim wissenschaftlichen Personal insgesamt „nur“ 36 Entlassungen (das entspricht 11,7 Prozent) erfolgten, ist im Vergleich der Universität Wien (hier waren es mit 350 Personen 50 Prozent2) sehr wenig, was Mikoletzky mit der vorangegangenen antisemitischen Personalpolitik der TH Wien erklärt (Teilband 2, S. 26).

Die Vertreibung der jüdischen Studierenden beschreibt Ebner im nächsten Kapitel. Wie an anderen österreichischen Hochschulen auch lief diese an der TH Wien äußerst zügig ab. So sank die Zahl der jüdischen Studierenden von 215 im Wintersemester 1937/38 auf 0 im Wintersemester 1938/39 (Teilband 2, S. 51). Ebner begründet die Tatsache, dass Österreich damit selbst Deutschland „überholt“ hatte, mit der „Dynamisierung der antisemitischen Gesetzgebung im Gefolge des ‚Anschlusses‘“ (Teilband 2, S. 52).

In den folgenden Kapiteln von Mikoletzky steht insbesondere eine Analyse des wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Personals im Vordergrund. Hier zeigt sich eine große Heterogenität: Da ist die spezielle Kategorie der „Systemvertreter“ (zwischen 1934 und 1938 Berufene, denen man enge Beziehungen zum Ständestaat nachsagte), die nun unter besonderer Beobachtung stand, die Gruppe der ehemals „Illegalen“, die sich jetzt als „Alte Kämpfer“ um Vorteile und „Wiedergutmachung“ in ihrem Sinne bemühte. Außerdem von Mikoletzky als „Konjunkturritter“ bezeichnete Personen – auch außerhalb der TH Wien waren das nicht wenige, weshalb es in Österreich bis Ende 1939 und wieder ab 1942 eine Parteisperre gab –, die nach 1938 Parteimitglieder wurden bzw. Anwärter waren und schließlich jene ohne Mitgliedschaften in NS-Organisationen.

Obwohl das Personal im Gegensatz zu den Studierenden im Laufe des Krieges eher zunahm (Teilband 2, S. 75) gelang es nicht, die Personalverluste durch die „Säuberung“ 1938 wieder völlig auszugleichen. Vor allem Differenzen zwischen der TH Wien und dem Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) bei Berufungen sorgten regelmäßig für Konflikte. Weitere Eingriffe des REM (Neuordnung des Studienrechts, Einführung deutscher Abschlüsse, Umgestaltung der Technischen Hochschulen nach fachlichen Schwerpunkten, Neugliederung der Fakultäten) führten nach einer anfänglichen Aufbruchsstimmung (Teilband 2, S. 89) zu Ernüchterung an der TH Wien. Und das, obwohl die Professoren, wie Mikoletzky in einem Kapitel zur Forschungstätigkeit der TH Wien für den Krieg zeigt, Zugang zu Fördermitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Reichsforschungsrats (RFR), im Rahmen des Vierjahresplans und anderer zahlreicher Projekte und Regierungsstellen hatten (Teilband 2, S. 122). Was die meisten von ihnen zu nutzten wussten, indem sie ihre Forschungsarbeiten als „kriegswichtig“ deklarierten. Als Ergebnis dessen war die Einbindung der Professoren der TH Wien in den Zweiten Weltkrieg dann auch weit größer als während des Ersten Weltkrieges.

Die letzten fünf Kapitel umfassen die Zeit nach 1945. Thematisiert werden hier – jeweils beim Jahr 1945 beginnend – die Bemühungen um einen organisatorischen Neubeginn, die Entnazifizierung, Personalpolitik, die Neuorganisation der allgemeinen Vertretung aller Studierenden und die Anfänge des materiellen Wiederaufbaus. Die Bemühungen um einen organisatorischen Neubeginn übernahm nach dem Ende der Kampfhandlungen am 13. April 1945 zunächst ein Exekutivkomitee. An erster Stelle standen Fragen der Instandsetzung und Sicherheitsaspekte. In Folge der Bombardierungen waren viele mit kriegswichtigen Projekten beschäftigte Institute ausgelagert worden, die nun zurückgeführt wurden. Die TH Wien lag im russischen Sektor. Welche Rolle die sowjetrussische Besatzungsmacht im Prozess der Wiedereröffnung und der Entnazifizierung sowie in der darauffolgende Zeit einnahm (Stichwort „Abwerbungen“), bleibt bis auf die Bemerkung, dass man für das schon im Juni 1945 beginnende Sommersemester um eine Freigabe der Räume bitten musste, leider offen (Teilband 2, S. 154).

Ebner beschreibt im Kapitel „Die Entnazifizierung an der Hochschule“ den Ablauf der Entnazifizierung des wissenschaftlichen Personals in drei Phasen mit den jeweils geltenden Gesetzen und zuständigen Akteuren. Darauf folgen einige Fallbeispiele. Zunächst kam es zu Enthebungen von belasteten Personen ohne Rechtsgrundlage. Nach Erlass von Gesetzen wurden im Mai 1945 schließlich alle „Illegalen“ entlassen, im August 1945 alle Reichsdeutschen. Unter den 353 untersuchten Personen befanden sich 212 ehemalige Parteimitglieder, davon 121 „illegal“. Insgesamt 226 Personen wurden entlassen. Von den 48 Professoren (23 Parteimitglieder, davon 12 „illegal“) wurden 72 Prozent entlassen (Teilband 2, S. 174). Die meisten von ihnen kehrten wieder zurück.

Im Kapitel „Kontinuitäten und Diskontinuitäten: Personalpolitik 1945–1955“ thematisiert Mikoletzky die Personalpolitik in Bezug auf Wiedergutmachung und Berufungspolitik. Obwohl keine aktive Rückberufungspolitik betrieben wurde, kamen von den 1938 vertriebenen Wissenschaftlern mit 26 im Vergleich zu anderen Hochschulen eine sehr hohe Zahl wieder an der TH Wien zurück (Teilband 2, S. 182), aberkannte Titel wurden jedoch nicht systematisch zurückgegeben.

Eine kleine Schwachstelle der Abkehr von einer rein chronologischen Erzählung sowie der wechselnden Autorenschaft zeigt sich bei der Rekonstruktion der personalpolitischen Entscheidungen nach 1945. Die Entnazifizierung wird in verschiedenen Kapiteln in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgegriffen, aus politischen Gründen nach 1945 Entlassene tauchen plötzlich als Neuberufene wieder auf (Teilband 2, S. 186ff.). Diese werden bei ähnlichen Studien meist einer vierten Phase, der Reintegration von Belasteten, zugeordnet.

Dem großen Ganzen tut dies keinen Abbruch. Mikoletzky und Ebner schließen viele Forschungslücken und haben auf einigen Gebieten der NS-Geschichte der TH Wien mehr als den von ihnen angekündigten „Zwischenbericht“ (Teilband 1, S. 14) vorgelegt. So liefern sie mit der Beschreibung der Zwischenkriegszeit ein Schlüsselelement zum Verständnis der Geschichte des Nationalsozialismus an der TH Wien und betreiben außerdem eine großangelegte Personalstudie. Weitere Forschungsarbeiten können auf ein mehr als solides Fundament aufbauen. Insbesondere für die Zeit nach 1945 und den Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit bleiben Fragen offen: Wie beispielsweise mit der Tatsache umgegangen wird, dass Depromotionen bis heute in Kraft geblieben sind.

Anmerkungen:
1 Die restlichen 13 Bände der Reihe behandeln die Geschichte von der Technischen Hochschule zur Forschungsuniversität, der acht Fakultäten (Architektur und Raumplanung, Bauingenieurwesen, Elektrotechnik und Informationstechnik, Informatik, Maschinenwesen und Betriebswissenschaften, Mathematik und Geoinformation, Physik und Technische Chemie), der Hochschüler/innenschaft, der Universitätsbibliothek, der Rektoren sowie der Kunst im Umfeld der TU Wien. Sabine Seidler (Hrsg.), Technik für Menschen. 200 Jahre Technische Universität Wien, 14 Bde., Wien 2016.
2 Die Universität Wien feierte (ebenfalls) 2015 ihr 650-jähriges Jubiläum und nahm dies zum Anlass, eine umfangreiche Universitätsgeschichte ins Netz zu stellen, unter anderem ein Gedenkbuch, das biografische Informationen zu den fast 3.000 Opfern des Nationalsozialismus enthält. Katharina Kniefacz / Herbert Posch, Vertreibung von Lehrenden und Studierenden 1938, URL: http://geschichte.univie.ac.at/de/artikel/vertreibung-von-lehrenden-und-studierenden-1938 (19.05.2017) und Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien, URL: http://gedenkbuch.univie.ac.at/ (19.05.2017).

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