F. Britsche: Historische Feiern im 19. Jahrhundert

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Titel
Historische Feiern im 19. Jahrhundert. Eine Studie zur Geschichtskultur Leipzigs


Autor(en)
Britsche, Frank
Erschienen
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Groth, Historisches Seminar, Universität Siegen

Die Studie von Frank Britsche widmet sich historischen Feiern im Leipzig des 19. Jahrhunderts. Diese sieht der Autor als aus dem Alltag herausgehobene Momente des öffentlichen Lebens, nahmen an ihnen doch zehntausende Menschen teil. Dabei geht der Autor der „Erinnerungsfeier“ nach, die sich, so seine These, im Laufe des 19. Jahrhunderts als besonderer Feiertypus entwickelt habe. Die Erinnerungsfeier stellt Britsche, in Anlehnung an Ansätze der historischen Fest- und Feierforschung, als eigenständigen Kategoriebegriff heraus. Ist auf der Bedeutungsebene der mehrtägig durchgeführten Feiern der Anlass ein dezidiert historischer, ein konkretes historisches Ereignis oder eine Person, die im kulturellen Gedächtnis gespeichert und erinnert wurde, so handele es sich um eine besondere, explizit historische Feier. Seine Überlegungen erweitert er unter Rückgriff auf geschichtsdidaktische Konzepte und konstatiert, dass die Feiern nicht bloß auf ihre äußeren geschichtskulturellen Erscheinungsformen, sondern auch auf ihre Ausdrucksformen und Vermittlungsabsichten historischer Bezüge untersucht werden müssten, die die Feiern mit einem bestimmten historischen Sinn aufluden und diesen an ein heterogenes Publikum zu vermitteln suchten. In den Erinnerungsfeiern konkretisierte sich das Geschichtsbewusstsein der beteiligten Akteure, durch Vergangenheitsdeutungen wurden Gegenwartsbezüge hergestellt und Zukunftsentwürfe formuliert. Die Erinnerungsfeier wird so nicht als bloßes Abbild von Geschichtskultur gesehen, sondern auch auf produktive geschichtskulturelle Praktiken und Deutungsmuster der beteiligten Akteure untersucht.

Der Autor wählt für seine Untersuchung exemplarisch drei Erinnerungsfeiern aus, die er ausgewogen und detailliert beschreibt und unter den dargelegten Gesichtspunkten analysiert: 1. die Feier zur Erinnerung an die Erfindung des Buchdrucks im Jahre 1840, 2. die Jahrhundertfeier zum Gedenken an Friedrich Schiller im Jahre 1859 sowie 3. die Erinnerungsfeier an die Schlacht von Lützen und den Schwedenkönig Gustav II. Adolf im Jahre 1882. Diese exemplarischen Zugriffe ordnet er drei unterschiedlichen Dimensionen des Erinnerns zu: die Etablierung der Erinnerungsfeiern zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter dem Schlagwort „städtisches Erinnern“ (1.), nationales Feiern (2.), transnationales Gedenken (3.).

Britsche fragt in seinen exemplarischen Analysen danach, wie sich die Erinnerungsfeier im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelt hat und wie sie von sozialen Gruppen geschichtskulturell angeeignet wurde. Das Erkenntnisinteresse liegt darin, wie sich dieser „besondere Feiertypus zeitabhängig im Laufe des Jahrhunderts geformt und verändert hat“ (S. 18), ist also als Längsschnittstudie angelegt. Dabei hat Britsche aber besonderen Wert auf die Verschränkung von synchronem und diachronem Zugriff gelegt. Die Arbeit ist nicht als bloßer längsschnittartiger Abriss konzipiert, sondern legt den Fokus auf synchroner Ebene in Form von detaillierten Analysen immer wieder auf die konkreten Ausgestaltungen der Feiern.

Leipzig wird dabei als „bildungskulturelles Zentrum Sachsens“ (S. 30) in den Mittelpunkt der Studie gerückt. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der Autor die Feiern nicht als rein „national“ besetzte Erinnerungsorte versteht, sondern vielmehr als Kristallisationspunkte des kulturellen Gedächtnisses der jeweiligen Zeit an einem konkreten Ort. Der Ansatz steht so in einer Reihe mit Arbeiten zu lokal-regional ausgeprägten Geschichtskulturen, erweitert aber vor allem die in der Forschung lange dominante nationale Perspektive auf historische Feste und Feiern.

Im Verlauf der Studie wird deutlich, dass trotz unterschiedlicher, zeitgebundener Zielsetzungen der Feiern – 1840 diente die Gutenbergfeier hauptsächlich der Selbstdarstellung Leipzigs, 1859 sieht Britsche in der Schillerfeier einen Wunsch nach nationaler Repräsentanz, 1882 stellt er fest, dass zu Auseinandersetzungen mit deutschen und skandinavischen Narrationen über den Schwedenkönig im Sinne transnationalen Erinnerns angeregt werden sollte – einiges für die Etablierung des übergeordneten Kategoriebegriffs „Erinnerungsfeier“ spricht. So ist eine der zentralen Erkenntnisse, dass die analysierten Feiern in ihren Abläufen und Gestaltungen Gemeinsamkeiten aufweisen und bestimmte festkulturelle Bestandteile in sich vereinten. Letzteres erklärt sich durch die Genese der Erinnerungsfeier im 19. Jahrhundert, die Britsche als historisch gewachsenes Phänomen betrachtet, welches durch verschiedene Entwicklungsstränge beeinflusst wurde. So wurden Elemente herrschaftlicher Feste in monarchischer Tradition, ländlich-volkstümlicher Feste sowie religiös-konfessioneller Feiern adaptiert. Gemeinsam ist den meist dreitägig ausgerichteten Feiern auf der Ebene von Ablauf und Gestaltung z.B. der Tagesfestumzug, den Britsche als „ausdrucksstärkstes Beispiel für die lebendige Auseinandersetzung mit der imaginierten Geschichte“ (S. 158) ansieht und in dem die zu erinnernde Person, der Ort oder das Ereignis in das kollektive Bewusstsein befördert wurde. Dies wird von Britsche als performative Ausdrucksform der populären Geschichtsaneignung bezeichnet. Auf diese Weise wurde ein gemeinsamer Erinnerungsraum durch das Festhandeln der Akteure produziert. Die Erinnerungsfeiern stellten dafür den sozialen Erprobungsraum bereit.

Für die von Britsche bezeichneten performativen Ausdrucksformen der Geschichtsaneignung steht vor allem das Phänomen der im Rahmen der Feiern durchgeführten „Nachspielungen“. So wurde im Rahmen der Gutenbergfeier von 1840 die Technik des Buchdrucks anhand von historischen Geräten vorgeführt, was Authentizität verbürgen sollte. Im Jahre 1859 fungierten Angehörige der an der Schillerfeier beteiligten Gruppen und Vereinigungen als „audiovisuelle Vermittlungsinstanzen, die in historischen Trachten oder Kostümen, singend oder Werkzitate rezitierend, eine bestimmte Epoche thematisierten. […] Das Schneidern und Tragen historischer Kostüme“ habe eine kognitive Auseinandersetzung mit der Zeit bedingt, Fragen provoziert und die gemeinsame Vorbereitung auf die Feier habe die Anreicherung von Wissensbeständen, deren Ordnung und Systematisierung sowie die sich daraus ergebende Orientierung befördert (S. 158), was sich auch 1882 im Anfertigen und Tragen von Trachten des 17. Jahrhunderts im Rahmen der Gustav Adolf-Feier niederschlug. Gemeinsam ist den Feiern also, dass Geschichtsaneignung hier zum performativen Akt wird, in dem sich die imaginierte Vergangenheit in der jeweiligen Gegenwart äußert.

Der Tiefgang der exemplarischen Analysen ist insbesondere der Vielzahl der untersuchten Quellen zu verdanken. Britsche bezieht in seiner Studie Quellen aus den Beständen der Gustav-Adolf-Gedenkstätte Lützen, den Stadt- und Kommunalarchiven Bautzen, Dresden, Frankenberg, Leipzig und Lützen, dem Hauptstaatsarchiv Dresden, dem Landeshauptarchiv Merseburg, dem Staatsarchiv Leipzig, dem Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig sowie des Stadtmuseums Dresden ein. Dabei nutzt der Verfasser ein äußerst breites Spektrum an Medien der populären Geschichtskultur wie Gedichte, Lieder, Reden, Trinksprüche, Bilder, Transparente, Münzen, Tableaux Vivants, Schaustücke und Devotionalien, wodurch die ungeheure Vielfalt der Aneignungsprozesse und Vermittlungsabsichten/-strategien deutlich wird. So wurden 1840 – ähnlich wie auch im Rahmen der anderen analysierten Feiern – zahlreiche Devotionalien wie Tassen, Pfeifenköpfe und Dosen mit dem Abbild Gutenbergs sowie Büsten und Standbilder verkauft. Es ist das Verdienst der Studie, diese Vielzahl geschichtskultureller Objektivationen, die bei der Geschichtsaneignung im Rahmen der Erinnerungsfeiern eine Rolle spielten, einbezogen zu haben.

Zwar bleiben die vom Autor vorgenommenen Grenzziehungen zwischen Fest und Feier, zwischen städtischem, nationalem und transnationalem Erinnern an manchen Stellen etwas unscharf, wenngleich Britsche bereits in den einführenden Bemerkungen reflektiert, dass diese Setzungen keineswegs formalistisch und apodiktisch zu verstehen und bewusst gesetzt seien. Und so sind es letztlich gerade diese Setzungen und die gewählten exemplarischen Zugriffe und Zuspitzungen, die es dem Autor ermöglichen, sein Thema sinnvoll und nachvollziehbar zu strukturieren sowie eine gut durchdachte Systematik zu entwickeln, die durchaus auf weitere regionale oder lokale Beispiele übertragen und weiterentwickelt werden kann. Unter welchen Bedingungen haben sich auch in anderen Regionen Erinnerungsfeiern herausgebildet? Wie wurden diese konkret gestaltet und welche Vermittlungsformen von Geschichte wurden angewandt?

Gerade letztere Frage erscheint besonders gewinnbringend. Britsche analysiert in seiner Studie den Typus der Erinnerungsfeier nicht lediglich als eine Ausdrucksform von Geschichtskultur, sondern auch als Produzent von Geschichtsbildern und -deutungen, die im Rahmen der mehrtägigen Feiern an ein großes, heterogenes Publikum vermittelt wurden. Gerade in diesem Brückenschlag zwischen historischer Fest- und Feierforschung und geschichtsdidaktischen Ansätzen liegt der größte Wert der Arbeit, die ein methodisches Programm entwickelt hat, das in weiteren Studien zu regionalen und lokalen Geschichtskulturen Anwendung finden kann. Die Etablierung und weitere Diskussion des Begriffs „Erinnerungsfeier“ kann dabei zielführend sein, verweist er doch auf einen spezifischen Feiertypus, in dem es um die Aneignung und Vermittlung von Geschichtsbildern ging, die sich in der Feier in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht verdichteten. Britsches Zugriff ermöglicht eine tiefenscharfe Analyse solch konkreter und verdichteter Erscheinungsformen von Geschichtskultur.