Titel
Robert Havemann oder Wie die DDR sich erledigte.


Autor(en)
Havemann, Katja; Widmann, Joachim
Erschienen
Berlin 2003: Ullstein Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Jander, Berlin

Seit dem Umbruch in Ostmitteleuropa und der DDR hat in Forschung und Publizistik das Interesse an Oppositionsgruppen und ihren Persönlichkeiten sprunghaft zugenommen. Insbesondere in Deutschland sind bis heute eine Fülle herausragender Arbeiten erschienen, die Struktur, Geschichte und Umfang widerständiger Milieus und Einzelpersonen unter den unterschiedlichsten Fragestellungen beleuchten und dokumentieren. In einem Prozess nachholender Gerechtigkeit hat die wissenschaftliche Forschung damit ihre Versäumnisse aus den 70er und 80er Jahren ausgeglichen. Ist da wirklich eine zusätzliche Arbeit über Robert Havemann notwendig? Erfährt der Leser in diesem Buch wirklich etwas, was ihm bisher noch nicht bekannt war?

Wer das Buch von Katja Havemann und Joachim Widmann gelesen hat, wird diese Fragen uneingeschränkt mit „Ja“ beantworten. Trotz vieler bereits existierender Veröffentlichungen auch zu Robert Havemann 1 liefert diese Arbeit wesentliche neue Erkenntnisse insbesondere über einen Teil der Oppositionsgeschichte der DDR, der von ihren ehemaligen Protagonisten – die heute nicht selten zu den Historikern der DDR-Opposition gehören - gegenwärtig eher schamhaft versteckt wird. Die linke, sozialistische Tradition vieler Oppositioneller, ihre Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie, ihre verzweifelte Suche nach einem doch noch besseren Sozialismus, der jedoch keinesfalls so wie in der DDR aussehen sollte, scheint in die postsozialistische Ära der neuen Bundesrepublik nicht mehr so richtig zu passen.

Das Buch macht vor allem sichtbar in welch hohem Maß Robert Havemann mit seinem Mut, seinen Haltungen und Ansichten die kleine DDR-Opposition der 70er und 80er Jahre prägte: „Für eine bestimmte Gruppe von Menschen war Grünheide [der Wohnort Havemanns bei Berlin] wie Mekka“, zitieren die Autoren aus einem gemeinsam geführten Interview mit Rainer Eppelmann. Das Grundstück Havemanns in Grünheide sei eine „andere Republik in der Republik“ (S. 98) gewesen. Klaus Jentzsch, Chef der später in der DDR verbotenen „Renft Combo“, verpasste dieser anderen Republik während eines Besuchs in Grünheide einmal den Beinamen „Dissiland“ (S. 96). Nicht von ungefähr wurde hier im September 1989, lange nach dem Tod Havemanns, die einflussreichste Oppositionsgruppe des Herbstes 1989 gegründet: das „Neue Forum“.

Zu allererst ist es jedoch die dramatische Geschichte selbst, die den Leser des locker und angenehm journalistisch verfassten Werks ganz in ihren Bann zieht. Wir erfahren etwas über den Dissidenten Havemann und das kleine aber verlässliche Netzwerk seiner Freunde in der Zeit von 1965 bis zu seinem Tod 1982. Von seinem Rauswurf aus der Universität und der Akademie der Wissenschaften an - den die SED für notwendig erachtete, weil Havemann in seinen gut besuchten Vorlesungen offen Gedankenfreiheit im Sozialismus forderte - bis zu seinem Tod 1982 lieferte er seinen Ex-SED-Genossen einen heftigen Kampf um Meinungsfreiheit, den die SED, moralisch gesehen, verlor.

Je härter sie den Antifaschisten Havemann drangsalierte, um so vehementer fragten Dissidenten in der DDR und Intellektuelle außerhalb des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates, was denn ein Antifaschismus wert sein konnte, der einen seiner verdienten Genossen auf diese Weise verfolgte. Die DDR – so meinen die Autoren deshalb – erledigte sich in diesem Kampf selbst, zumindest zerstörte sie in dieser Auseinandersetzung ihr moralisches Kapital.

So, wie diese Geschichte hier aufgeschrieben wurde, konnte sie wahrscheinlich nur von Katja Havemann und Joachim Widmann zu Papier gebracht werden. Joachim Widmann, der lange Zeit für verschiedene Zeitungen den Prozess gegen die Richter und Staatsanwälte begleitete, die Havemann im Auftrag der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nach der Ausbürgerung Biermanns zunächst zu Hausarrest und später zu einer hohen Geldstrafe verurteilten, hat sich auf die Analyse des Zusammenspiels von SED, Justiz und MfS in der DDR spezialisiert.

Die Witwe des Dissidenten und Mitgründerin der Oppositionsgruppe „Neues Forum“ Katja Havemann hat in jahrelanger mühevoller Kleinarbeit die vollständigen Spitzelberichte des MfS über ihren Mann – mehr als 200 Aktenordner – durchforstet. Von der Dimension dieser Arbeit macht sich ein nicht mit den Akten vertrauter Leser kaum eine Vorstellung. Die Richtlinien der Gauck-Behörde erfordern - für eine Veröffentlichung der Informationen aus einer Akte - Genehmigungen von den vielen Freunden Havemanns, die hier natürlich ebenfalls auftauchen. Andernfalls wären ihre Namen in der Kopie der Akte geschwärzt worden. Eine vollständige Kopie der Akten ist dank dieser mühevollen Recherche inzwischen im Robert-Havemann-Archiv in Berlin einsehbar. Katja Havemann hat die Informationen aus diesem Aktenberg darüber hinaus durch ihre eigenen Erinnerungen und viele Interviews mit den Mitstreitern Havemanns ergänzt und – wo nötig – auch korrigiert.

In Ergänzung zu der hervorragenden Analyse von Clemens Vollnhals, der vor einigen Jahren bereits im Auftrag der Gauck-Behörde (heute Birthler-Behörde) die Zersetzungsstrategien des Ministeriums für Staatssicherheit gegenüber Havemann recherchierte und beschrieb 2, lernt der Leser in dem hier vorliegenden Buch zusätzlich auch einen bislang noch überhaupt nicht aufgeschriebenen Teil der Binnengeschichte der DDR-Opposition der 70er und 80er Jahre kennen. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass sehr viele der wichtigen Köpfe der Oppositionsgruppen aus dem Herbst 1989 seit dem Ende der 70er Jahre auf die eine oder andere Weise an der Auseinandersetzung Havemanns mit seinen Ex-Genossen partizipierten und zum näheren Umfeld von Robert Havemann, Wolf Biermann und Jürgen Fuchs gehörten.

Man sei damals, als man den „falschen Kommunisten“ aus dem Politbüro den „wahren Kommunismus“ entgegenhielt - so Wolf Biermann in einem ausführlich zitierten Interview – aber leider einem „echten Irrtum“ erlegen, immerhin jedoch keinem „falschen“. „Echte Irrtümer“ – fügt der Dichter an – „sind vielleicht schlimmer als falsche, aber sie haben einen […] wichtigen Vorteil: Man kann sich korrigieren, sobald man es besser weiß“ (S. 43). Diese Möglichkeit falle aus, wenn man, statt sich zu irren, lüge. Nur der aus Leidenschaft begangene Irrtum ermögliche die Selbstkorrektur, nicht aber die Lüge.

Zu solcher Selbstkorrektur war Havemann, da er nach Biermann nur irrte, aber nicht log, im Unterschied zu seinen Ex-Genossen aus dem Politbüro in hohem Maße fähig, und vor allem war er auch bereit, die Konsequenzen seines Umdenkens ganz selbstverständlich auf sich zu nehmen. Er sah sich ja selbst in der Verantwortung für das von ihm ausdrücklich gewünschte und mit Leidenschaft verteidigte „bessere Deutschland“. Eben das machte ihn bei der jüngeren Generation von DDR-Dissidenten, die erst nach dem Krieg geboren waren, so glaubwürdig.

Leider jedoch – und dies ist ein Mangel des Buches – wird die schier unglaubliche Lebensgeschichte Havemanns, der sich von seiner Nazifamilie bereits in der Weimarer Republik löste, sich der KPD anschloss und eine Widerstandsgruppe („Europäische Union“) gründete, die Zwangsarbeiter und Juden mit falschen Papieren versorgte und ihre Flucht aus Deutschland organisierte, nicht in ihrer ganzen Dramatik und mit ihren vielen Umbrüchen erzählt.

Havemann wurde in der Nazizeit verhaftet und zum Tode verurteilt und konnte nur dank der Hilfe verschiedener Freunde überleben. Nach dem Krieg schloss er sich der SED an und war bis nach dem Mauerbau ein ziemlich stalinistischer Funktionär der Partei, arbeitete einige Zeit auch für den sowjetischen und den ostdeutschen Geheimdienst. Die Aufdeckung der Stalinschen Massenverbrechen und die Unterdrückung jeden Widerspruchs in der DDR nach dem Mauerbau machten ihn zum Dissidenten. Zu einem Dissidenten jedoch, der Zeit seines Lebens davon ausging, dass die DDR der bessere deutsche Staat sei und keinesfalls in die Bundesrepublik integriert werden sollte. Im Gegenteil. Havemann setzte auf Reformen im Realsozialismus und in den kommunistischen Parteien Westeuropas. Diese Reformen sollten den Sozialismus dann für die Massen in den kapitalistischen Ländern wieder attraktiv machen.

Über der ausgezeichneten Rekonstruktion des dramatischen Kampfes um die Meinungsfreiheit, den Robert Havemann mit Hilfe seiner Freunde der SED lieferte, und der bislang noch nirgendwo beschriebenen Binnengeschichte der DDR-Opposition der 70er und 80er Jahre ging jedoch leider auch ein etwas analytischerer Zugang zur Geschichte der DDR-Opposition verloren, den erst kürzlich wiederum Wolf Biermann in der Wochenzeitung „Der Spiegel“ nachlieferte. Biermann kritisierte im Februar 2003 den „antiamerikanischen Nationalpazifismus“ der gegenwärtigen deutschen Friedensbewegung und ließ erkennen, dass er selbst und sein Freund Robert Havemann solchen Motiven in den 70er und 80er Jahren nicht ganz fern standen. 3 Ein weiterer „richtiger Irrtum“ aus „Dissiland“.

Eine Vereinigung beider deutscher Staaten in einem westlichen demokratischen und kapitalistischen Sinne, war für Robert Havemann wie für die kleine DDR-Opposition der 70er und 80er Jahre zwar denkbar, aber nicht erwünscht. Robert Havemann hat noch kurz vor seinem Tod in offenen Briefen an Helmut Schmidt und Leonid Breschnew und in einem – mit Rainer Eppelmann gemeinsam erarbeiteten - von vielen Intellektuellen unterzeichneten „Berliner Appell“ eben jene nationalpazifistische Position formuliert, die bis zum Ende der DDR nicht nur in der von der SED unabhängigen Friedensbewegung großen Widerhall fand.

Das Buch liefert für die Forschung zur Geschichte und Orientierung der DDR-Opposition in den 70er und 80er Jahren unverzichtbare, bis heute nirgendwo publizierte Zusammenhänge und Details. Katja Havemann, ohne deren Liebe der schwerkranke Havemann seinen Kampf mit der SED nicht hätte durchhalten können, hat zusammen mit Joachim Widmann den schwer handhabbaren Akten des Ministeriums für Staatssicherheit und ihren eigenen Erinnerungen sowie den Erinnerungen von Havemanns Freunden diese ausgezeichnete Geschichte ihres Mannes abgetrotzt.

Anmerkungen:
1 Wilke, Manfred (Hg.), Robert Havemann – Ein deutscher Kommunist, Reinbek 1978; Jäckel, Hartmut (Hg.), Ein Marxist in der DDR. Für Robert Havemann, München 1980; Rosenthal, Rüdiger (Hg.), Robert Havemann – Die Stimme des Gewissens, Reinbek 1990; Draheim, Dirk (Hg.), Robert Havemann – Dokumente eines Lebens, Berlin 1991; Müller, Silvia, Bernd Florath, Die Entlassung – Robert Havemann und die Akademie der Wissenschaften, Berlin 1996; Vollnhals, Clemens, Der Fall Havemann – Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 1998; Hannemann, Simone, Robert Havemann und die Widerstandsgruppe „Europäische Union“, Berlin 2000; Geisel, Christof, Christian Sachse, Die Wiederentdeckung einer Unperson, Berlin 2000.
2 Vollnhals, Clemens, Der Fall Havemann – Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 1998.
3 Siehe: Biermann, Wolf, Brachiale Friedensliebe – Wolf Biermann über Nationalpazifisten und den Irak Krieg, in: Der Spiegel 9, 24. Februar 2003.

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