K. Bringmann: Geschichte des frühen Griechenlands

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Titel
Im Schatten der Paläste. Geschichte des frühen Griechenlands. Von den Dunklen Jahrhunderten bis zu den Perserkriegen


Autor(en)
Bringmann, Klaus
Erschienen
München 2016: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Institute for the History of Ancient Civilizations, Northeast Normal University Changchun, China

Die Zeiten sind längst vorbei, in denen die Geschichte des frühen Griechenlands, im engeren Sinne und wertend die „Archaik“, nur den Auftakt, das Präludium zur „großen“ klassischen Periode – entweder in (doktrinärer) Gestalt und Ausdeutung als demokratische Vollendung oder Sieg über die „barbarischen“ Perser – bildete.1 Zu sehr analytisch ausgedeutet wie ausdifferenziert und zu sehr durchdrungen von vielerlei Interpretationstheoremen scheint jede Quellengattung mittlerweile zu sein, als dass derlei teleologische Narrative noch möglich, geschweige denn gewollt sind. Aber kann man sie dennoch schreiben, eine eigenständige, auf der Höhe der Forschung stehende Geschichte des frühen Griechenlands, in der alle aktuellen Trends wie Staatlichkeit, sozioökonomische Komplexität, Migration oder Wissensgesellschaft ihre Berücksichtigung finden, aber quellenbasiert ausgelotet werden?

Der Frankfurter Emeritus Klaus Bringmann, bislang eher im Bereich der Römischen Geschichte und des Hellenismus hervorgetreten, hat nun, wohl von seiner Beschäftigung mit der Epoche im Rahmen der Herausgabe der Fragmente des Solonischen Gesetzeswerks von Eberhard Ruschenbusch angeregt2, eine lesenswerte wie vor allem lesbare Geschichte dieser Epoche vorgelegt. Diese erhebt nicht den Anspruch, in allen Details die teils sehr verzweigte Forschungsdiskussion widerzuspiegeln oder gar zu neuen Lösungen zu kommen. Vielmehr liest sie sich wie ein solides Fundament, auf dem, auch aufgrund des Anhangs mit der kommentierten Vorlage wichtiger Forschungsliteratur, ein guter Einstieg in diese wahrlich nicht einfach zugängliche Zeit gelingen kann. Bringmann hält sich bei seinem Zugriff grundsätzlich an die traditionellen Narrative: Ethnizität und Wanderungsbewegungen, minoische und mykenische Palastherrschaft, Dark Ages, innere Konflikte und Kolonisation, Staatenbildung, Kampf gegen die Perser sowie Wissenskulturen; er reichert diese allerdings mit neuesten Funden und Interpretationen an, so dass durchaus eigene Akzentuierungen deutlich werden.

Nach einer kurzen Einführung zur Problematik des Schreibens einer gesamtgriechischen Geschichte, die für Bringmann in einer Darstellung der gemeinsamen Züge der „Griechen“ enden muss, sowie zur schwierigen Quellenlage, die ein Zusammenwirken von Historikern und Archäologen nötig macht (S. 13–17), werden im Kapitel „Voraussetzungen“ (S. 19–53) zunächst die naturräumlichen Bedingungen behandelt; sprich: Land und Meer als schon in früher Zeit gleichwertige und sich gegenseitig ergänzende Bezugspunkte und deren Auswirkungen auf Siedlung, politisch-soziale Einheiten, Landwirtschaft, Wanderung, Handel, aber auch Piraterie. Anschaulich beschreibt er hernach auch die Komplexität der Vorgeschichte mit den unterschiedlichen Wanderungen von verschiedenen Stämmen, die er vornehmlich anhand der Dialektformen des Griechischen erläutert, ebenso die zentrale Stellung der Paläste in dieser Frühzeit, also die erst minoische, dann mykenische Kultur. Die sogenannten Dunklen Jahrhunderte erhellen archäologische Zeugnisse, die zwar wenig Auskunft über die konkrete Ereignisgeschichte liefern, allerdings mit den Erkenntnissen der Dialektographie wiederum Aufschlüsse über das Zusammenspiel von „Seevölkersturm“, Zersplitterung von althergebrachten Herrschaften, neuen Wanderungsbewegungen, aber auch Kontinuitäten geben, wie sie Bringmann in den Phylen als Organisationseinheiten der Stämme nicht erst nach der endgültigen Ansiedlung ausmacht.

„Die Welt Homers und Hesiods“ (S. 55–101) wird sodann vornehmlich als von einem kompetitiven Adel geprägte Zeit vorgestellt. Die Mythologie und das dort durch die Sänger produzierte Bild von einander um Macht, Einfluss und Geltung ringenden Göttern wird von Bringmann als Spiegel der wesentlichen gesellschaftlichen Diskurse ausgedeutet, in der sich nur langsam die Vorstellung von „objektiven“ Rechtsinstitutionen und – darauf aufbauend – Staatlichkeit etablierte, was sich in den überlieferten Epen und Lehrgedichten spiegele. Die Rolle des „Volkes“ wird dabei nicht negiert, allerdings tritt es in allen Angelegenheiten stets hinter die führende Rolle von König(en) oder adeligen Anführern, deren Zusammenhalt (noch) über den bereits vorhandenen, aber schwach ausgeprägten gesamtgesellschaftlichen Organisationsformen (Stamm und Stadt bzw. Siedlungsgemeinschaft) steht. Materielle Not, Expansionsbestrebungen und inneradelige Konflikte bilden in diesem Kontext die wesentlichen Faktoren für die Migrationen, die oft unter den falschen Begriff der „Großen Kolonisation“ subsumiert wurden, als sei diese eine geplante Ausbreitung des Hellenentums gewesen. Mit derlei idealisierenden Vorstellungen räumt Bringmann gründlich auf (S. 103–159) und zeigt an ausgewählten Beispielen, wie vielfältig, individuell und zumeist privat, wenn auch oft durch adelige Anführer einzelner Gruppen, die jeweiligen Auswanderungen motiviert gewesen sind. Neben Zwecken des Broterwerbs (Seehändler, Söldner oder Handwerker), Furcht vor Blutrache, Folgen von (Bürger-)Kriegen oder auch purer Abenteuerlust sieht er als hauptsächliche und dringendste Ursache der Ausbreitung der Griechen die Land- und Versorgungsproblematik.

Eine weitere Antwort auf dieses Problemgeflecht, das allmähliche Aufkommen des Staates, beschreibt er im folgenden Kapitel (S. 161–253) anhand von Sparta, den Adelskonflikten und Tyrannisherrschaften in anderen Poleis sowie am ausführlichsten am Beispiel Athens. So brachte es Sparta durch „interne“ Lösungen – die sogenannte Binnenkolonisation, nichts anderes als die Expansion im Umland (vor allem nach Messenien), und eine die Interessen zwischen Königen und Spartiaten auf Kosten der Heloten ausbalancierenden politischen wie sozioökonomischen Ordnung – zu einer führenden Machtstellung. Hingegen waren in den meisten Poleis Kämpfe zwischen Adeligen und deren Gefolgsleuten für ständige Veränderungen, aber auch Einzelherrschaften verantwortlich, wobei letztere oft Motor für staatliche Institutionen waren – entweder aktiv zur Ausschaltung der (potentiellen) Gegner oder passiv als Abwehr von derlei Regimen. Diese „typische“ Entwicklung sieht er letzten Endes auch in Athen am Wirken, wobei er, Ruschenbusch folgend, die politisch-verfassungsgebende Rolle Solons anzweifelt, hingegen dessen sozioökonomische und rechtliche Reformen (in Erweiterung derjenigen Drakons) hervorhebt. Den Verfassungsschub hin zu mehr Beteiligung des Volkes schreibt er dann Kleisthenes im wiederum adeligen Kampf um die Vorherrschaft gegen Isagoras nach dem Ende der Peisistratiden als „wohl unvorhersehbare List der Geschichte“ (S. 351, innerhalb von „Rückblick und Ausblick“) zu.

Den vollen Durchbruch zur „Bürgergemeinde“ in den ganz verschiedenen Formen – in Sparta mit der Kontrollfunktion der Ephoren über die Könige, in Athen mit dem demokratischen System mit Ostrakismos und Los der politischen Führung (Archonten) – sieht er in der Wechselwirkung mit den Perserkriegen (S. 255–316). Hinsichtlich der Ursachen und Gründe der Perserkriege behält er ebenfalls die Großentwicklungen in den orientalischen Reichen sowie die Lage in den kleinasiatischen Poleis gut im Blick, indem er den obschon als Überschrift gewählten „Kampf um die Freiheit“ als spätere Konstruktion beim Eindringen der Perser nach Griechenland sieht und die diversen Verflechtungen von griechischen Eliten, aber auch Gemeinden mit den Persern jeweils hervorhebt. In diese spätarchaische Zeit ordnet er in einem letzten thematischen Kapitel auch die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens ein, das logisches Denken, Historiographie und ähnliches mehr unter Loslösung althergebrachter dichterischer und mythologischer Rahmen hervorbrachte (S. 317–345).

Alles in allem legt Bringmann damit ein verlässliches Narrativ dieser Epoche vor, die er trotz gelegentlicher Skepsis an einzelnen Quellen und der darin aufscheinenden wie von der Forschung rekonstruierten Prozesshaftigkeit als eine letztlich kohärente Entwicklung hin zur klassischen Zeit bestehen lässt, auf die er im kurzen „Rückblick und Ausblick“ (S. 347–360) verweist und deren kulturelle Blüte und Höhepunkt er im Gegensatz zu den kriegerischen Ereignissen hervorhebt. So wiederum ist eine ungebrochene Fortsetzung aus der archaischen Zeit kreiert. Im Einzelnen mag man dieses oder jenes Urteil Bringmanns nun kritisieren oder zu anderer Wertung gelangen; aufgeben wird man das von ihm präsentierte Grundnarrativ aber (noch) nicht. In derlei Ambivalenz muss letzten Endes jede geschriebene „Geschichte“ leben, die mehr als die Summe von Einzelereignissen und der communis opinio der Forschung folgend sein will.

Anmerkungen:
1 Zum Epochenbegriff und der Forschungsentwicklung vgl. einsichtsvoll Uwe Walter, Die Archaische Zeit – noch immer eine Epoche der griechischen Geschichte?, in: Das Altertum 58 (2013), S. 99–114.
2 Eberhard Ruschenbusch, Solon: Das Gesetzeswerk-Fragmente. Übersetzung und Kommentar, herausgegeben von Klaus Bringmann, Stuttgart 2010. Ihm in memoriam ist das Werk auch gewidmet (S. 5).

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