M. Viehhauser: Reformierung des Menschen durch Stadtraumgestaltung

Cover
Titel
Reformierung des Menschen durch Stadtraumgestaltung. Eine Studie zur moralerzieherischen Strategie in Städtebau und Architektur um 1900


Autor(en)
Viehhauser, Martin
Erschienen
Weilerswist 2016: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Elija Horn, Erziehungswissenschaft, Technische Universität Braunschweig

Spätestens mit Jean-Jacques Rousseaus „Emile“ rückt Ende des 18. Jahrhunderts die Bedeutung der Raumgestaltung im Erziehungsprozess ins Bewusstsein der zeitgenössischen pädagogischen Reformerinnen und Reformer.1 Im Zuge der um 1900 einsetzenden Pädagogisierung von Lebensbereichen, die nicht in den Kernbereich von Erziehung fallen, werden beispielsweise von Anhängern der Lebensreform durchaus erzieherisch intendierte Ideen für eine Umgestaltung städtischen Lebens hervorgebracht – man denke an die Idee der Gartenstadt und die daran geknüpfte Hoffnung auf (völkische) Erneuerung.2 Der Bildungshistoriker Martin Viehhauser widmet sich in seiner Dissertation moralerzieherischen Intentionen städtebaulicher Ästhetik in eben jener Zeit und erörtert seine Fragen dazu beispielhaft an Siedlungsbauprojekten der Stadt Zürich. So wird hier erstmals ausführlich die Bedeutung von Architektur und Städtebau, also von Bereichen jenseits formaler bzw. institutionalisierter Pädagogik, im Zusammenhang mit erziehungstheoretischen und -geschichtlichen Fragen erörtert.

Ausgangspunkt von Viehhausers Überlegungen ist die um 1900 diagnostizierte zivilisatorische Krise, die aus den rasanten Veränderungen der Lebensbedingungen, insbesondere der Urbanisierung und den damit einhergehenden hygienischen Bedingungen sowie gesellschaftlichen Transformationen, am Ende des 19. Jahrhunderts resultierte. Als Reaktion darauf entstanden mannigfaltige Reformprogramme, auch im Bereich Städtebau und Architektur. Konkret fragt Viehhauser danach, wie mit Mitteln der Gestaltung des städtischen Raums die in der Zeit um 1900 vielfach angestrebte „Reformierung des Menschen“ verfolgt wurde. Er begreift diese Mittel aus einer kritischen Perspektive heraus als „Strategie der gesellschaftlichen Steuerung, die Macht über erzieherische Mechanismen ausübt“ (S. 15), womit er an Ansätze von Foucault anknüpft. Eine zentrale These lautet, dass moralische Erziehung ein Kristallisationspunkt jener Strategie gewesen sei, deren Zweck es war, „Macht zu stabilisieren, indem gesellschaftliche Risiken via stadtraumgestalterisch vermittelter Moralisierung minimiert wurden“ (S. 30). Als wesentlich bezieht Viehhauser Aspekte der Ästhetik, der Sozialreform, der Politisierung und Verwissenschaftlichung städtebaulicher Planung und die Suche nach Ordnung in seine Analysen ein. Damit ist ein hochkomplexes und ambitioniertes Forschungsprogramm umrissen, dessen Umsetzung Viehhauser in oft sehr detaillierten Ausführungen konsequent – und meines Erachtens erfolgreich und gewinnbringend – verfolgt.

In den einleitenden Kapiteln (Einleitung und Teil 1) klärt der Autor zentrale terminologische und erziehungstheoretische Grundfragen. Zudem komponiert er in wissensgeschichtlicher Manier ein Mosaik jener Denkfiguren, die sich in der Idee der „Reformierung des Menschen“ durch Stadtraumgestaltung verknüpfen. Das sind vor allem die zunehmende Verwissenschaftlichung, die „zirkuläre Dynamik zwischen Wissen und Handeln“ (S. 32) und die Idee einer (moralischen) Wertevermittlung durch (organische) Ästhetik. Viehhauser konkretisiert das am Beispiel des einflussreichen Wiener Städtebautheoretikers und Architekten Camillo Sitte (1843–1903), der unter ästhetischen Blickpunkten Überlegungen zur Wirkung von Umgebungen auf das Gefühl und das möglicherweise daraus resultierende Verhalten anstellte. Zugleich folgte seine Analyse von Städten und deren Gestaltung einer kunsttechnischen Methode und pragmatischen Zielsetzung. Sitte ist in der „Verknüpfung regelgeleiteter Rationalität mit Irrationalität“ ein durchaus typischer Vertreter seiner Zeit. Ferner erörtert Viehhauser hier, vor allem in Bezugnahme auf John Dewey, die erzieherischen Potentiale „ästhetische[r] Anordnungen“ (S. 99) im Raum und referiert Durkheims Theorie der Moralerziehung.

Der zweite Teil ist Ordnungsvorstellungen und deren städtebaulichen Umsetzungen in Zürich gewidmet. In der Suche nach (gesellschaftlicher) Ordnung erkennt Viehhauser einen zentralen Beweggrund für städtebauliche Reformen und die damit intendierte Moralisierung der Menschen. Am Beispiel der Schriften des Zürcher Sozialreformers Paul Pflüger (1865–1947) vollzieht er diese Suche nach Ordnung nach, die von Pflüger im zeittypischen Spannungsfeld zwischen Traditionsbezug und Rationalisierung ausgefochten wurde. Ferner geht Viehhauser auf den um 1900 virulenten Topos der „nervösen“ Großstadt ein. Das auf medizinisch-psychiatrische Erkenntnisse rekurrierende Konzept der Nervosität galt einerseits als wissenschaftlich gesichert und war andererseits Ausdruck kulturkritischer Verfallsängste. Aus der Diagnose, die mit Verweisen auf hygienische bedenkliche Zustände oder Wohnungsnot untermauert wurde, ergab sich selbstverständlich der Imperativ, die Stadt und ihre ebenfalls nervösen Bewohner zu heilen. Beispielhaft verdeutlicht dies die „Zirkularität von Wissen und pädagogischer Intervention in der Stadtraumgestaltung“ (S. 203).

Wie Viehhauser im dritten Teil ausführt, wurden diesen Verfallsszenarien durch sozialreformerische Initiativen neue Formen des Städtebaus gegenübergestellt, unter anderem Gartenstädte oder sonstige Arten von Reformsiedlungen. Dort sollte es Licht, Luft und Ruhe geben – Bedingungen also, denen nicht nur eine gesundheitsförderliche Wirkung zugeschrieben wurde, sondern auch eine die Moral hebende. Weiteres Mittel dieser sozialreformerischen Vorhaben war der Einsatz verschiedener ästhetischer Stilelemente, die erzieherisch wirken sollten. Wie Viehhauser darlegt, fungierte dabei häufig „die Natur als Garantin für die ‚Wahrhaftigkeit‘ des Stils“ (S. 279). In diesen romantischen Rückgriffen zeigt sich die Nähe zur auch erzieherische Ziele verfolgenden Lebensreformbewegung. Folgerichtig zieht Viehhauser hier Parallelen zum Arts and Crafts Movement und anderen künstlerischen bzw. kunsthandwerklichen Reformbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dieses Kapitel abschließend setzt sich Viehhauser mit dem Heimatstil, dessen ideologischen Grundlagen, vor allem der Heimatschutzbewegung, auseinander und verfolgt deren moralerzieherische Stoßrichtung nach.

Seine Erkenntnisse fasst Viehhauser wie folgt zusammen: Die „Reformierung des Menschen“ wurde um 1900 mittels einer Form von Erziehung angestrebt, die der Autor als Gestaltung der „Stadt als ‚Schule‘ der Gesellschaft […], als ‚Agentur‘ der moralischen Erziehung des Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes“ (S. 339) im Sinne einer sozialreformerischen Strategie beschreibt. Politisch gesehen bestand diese Erziehung in der Kommunikation moralisch codierter Werte via Stadtplanung als Akt von modernem Regierungshandeln. Das strategische Handeln brachte die Ermächtigung über den städtischen Raum mit sich, und damit die Setzung jener Bedingungen, in denen sich die Menschen bewegten. Auf diese Weise glaubte die Sozialreform die in Unordnung gerate Gesellschaft in ihrem Sinn neu zu ordnen. Wesentlich war dabei auch die zunehmende Bedeutung von rationalem Expertenwissen, die Viehhauser als Triebkraft des Geschehens ausmacht: „Im Modus des verwissenschaftlichten Zugangs zum Sozialen wurde die Gesellschaft als Objekt stilisiert, das technisch bearbeitet werden könne.“ (S. 340) Das zeitgenössische Verständnis von Ästhetik als Einheit des Schönen mit dem moralisch Richtigen prägte die städtischen Raumreformen. Über entsprechend gestaltete Fassaden oder Grundrisse sollten jene Werte vermittelt werden, die für das Funktionieren der Gesellschaft als wesentlich erachtet wurden. Abschließend erkennt Viehhauser im „Gegenstand der sozialreformerischen Stadtraumgestaltung […] eine Facette von Erziehung in der Moderne“ (S. 343), welche auch erziehungstheoretisch ergiebig sein kann, da Erziehung hier einerseits losgelöst wird vom unmittelbaren persönlichen Austausch und andererseits aus einer bestimmten historischen Situation heraus verstanden wird. Die damit einhergehende Entgrenzung des Erziehungsbegriffs erscheint Viehhauser insofern nützlich, als dass „die Gegenstände der Erziehungsgeschichte nicht von prästabilisierten Themen oder Anforderungen abhängig“ (S. 343f) gemacht zu werden bräuchten.

Zusammengefasst legt Viehhauser mit seiner Dissertation eine vielschichtige Studie vor, die sowohl auf theoretischer wie geschichtswissenschaftlicher Ebene überzeugt. Die teils erschöpfende Ausführlichkeit ist dabei nicht immer als Stärke zu bewerten. Bisweilen verliert die Leserin im dichten Dickicht aus Informationen, Bezügen und theoretischen Diskussionen den roten Faden. Am Ende gelingt es dem Autor jedoch, alle Aspekte schlüssig zueinander zu fügen. Es wäre wünschenswert, wenn seine grundlegenden Überlegungen zur Konzeption von Erziehung und ihrer Geschichte in Erziehungswissenschaft und historischer Bildungsforschung Resonanz erhielten.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Paris 1762.
2 Vgl. Ulrich Linse, Völkisch-rassische Siedlungen der Lebensreform, in: Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“, München 1996, S. 397–410; Thomas Nitschke, Die Gartenstadt Hellerau als pädagogische Provinz, Dresden 2003; Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen. 1880–1933, Wuppertal 1998.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension